Erstes Capitel.
Manao.

[195] Die Stadt Manao liegt genau unter 3° 8' 4'' südlicher Breite und 67° 27' westlicher Länge von Paris. Vierhundertzwanzig kilometrische Meilen (à 10 Kilometer), dem Stromlaufe nach gemessen, trennen sie von Belem, aber nur zehn Kilometer von der Mündung des Rio Negro.

Manao ist nicht am Ufer des Amazonenstromes erbaut; am linken Ufer des Rio Negro vielmehr, jenes größten und wichtigsten Nebenflusses der gewaltigen brasilianischen Wasserader, erhebt sich die Hauptstadt der Provinz und beherrscht die benachbarten Campinen mit dem pittoresken Bilde ihrer Privathäuser und öffentlichen Gebäude.

Der im Jahre 1645 von dem Spanier Favella entdeckte Rio Negro entspringt am Abhange der im Nordwesten zwischen Brasilien und Neu-Granada gelegenen Gebirge, tief in der Provinz Popayan, und steht mit dem Orinoco durch zwei Seitenarme, den Pimichim und den Cassiquiare, in unmittelbarer Verbindung.

Nach tausendsiebenhundert Kilometer langem Laufe durch wunderschöne Gegenden ergießt der Rio Negro seine schwarzen Wassermassen durch eine elfhundert Toisen breite Mündung in den Amazonenstrom, mit dessen Fluthen sie sich jedoch, in Folge ihrer rascheren Bewegung, noch auf mehrere Meilen hin nicht vermischen. Diese Verschmelzung findet erst an einem Punkte statt, wo die Ufer zurücktreten und eine Art geräumiger Bucht bilden, welche etwa fünfzehn Meilen lang ist und bis nach den Anavilhanas-Inseln hinreicht.

In einer scharfen Einbiegung des Flusses nun befindet sich der Hafen von Manao. Hier treffen immer viele Fahrzeuge zusammen, die einen verankert[195] in der Strömung selbst, die anderen in der Reparatur begriffen in den zahlreichen Iguarapes oder Kanälen, welche die Stadt in jeder Richtung durchziehen und ihr fast einen holländischen Typus verleihen.

Laufen hier erst Dampfschiffe an, und das kann bei der glücklichen Vereinigung der beiden großen Ströme nicht lange mehr auf sich warten lassen, so muß der Handel Manaos offenbar mächtig emporblühen. Hier bieten sich für Bau- und Tischlerhölzer, für Cacao, Kautschuk, Kaffee, Sarsaparille, Zuckerrohr, Indigo, Muskatnüsse, eingesalzene Fische, Schildkrötenbutter und hunderterlei andere Waaren schiffbare Flüsse genug dar, um dieselben nach allen Richtungen hin zu verfrachten: der Rio Negro nach Norden und Westen, der Madeira nach Süden und Westen und dazu der Amazonenstrom selbst, der nach Osten bis zum Gestade des Atlantischen Oceans verläuft. Die Lage dieser Stadt darf also gewiß als eine sehr günstige bezeichnet werden und muß schon an sich mächtig zum Aufschwunge derselben beitragen.

Manao – oder Manaos – hieß früher Moura und später, sowie zum Theile noch heute, Barra de Rio Negro. Von 1757 bis 1804 gehörte sie zu der Kapitanerie gleichen Namens mit dem großen Nebenstrome, an dessen Mündung sie gegründet wurde. Etwa 1826 wurde sie dagegen die Hauptstadt der großen Provinz Amazones und entlehnte ihren jetzigen Namen von einem Indianerstamme, der vordem in den Gebieten Central-Amerikas siedelte.

Wiederholt haben schlecht informirte Reisende diese Stadt mit dem sagenhaften Manao verwechselt, das alten Ueberlieferungen nach nahe dem ebenso fabelhaften Parima-See liegen sollte, unter welch' letzterem wahrscheinlich nichts anderes als der obere Branco, das heißt ein Nebenfluß des Rio Negro, zu verstehen sein dürfte. Hierher verlegte man das Königreich El Dorado, dessen Herrscher sich jeden Morgen, den Sagen des Landes nach, mit Goldstaub überpudern ließ, den man mit Schaufeln sammelte, denn in so großer Menge soll jenes werthvolle Metall in diesen schätzereichen Gebieten vorgekommen sein. Eine nüchterne Untersuchung freilich zerstörte solche glänzende Trugbilder, und der vermuthete Goldüberfluß schrumpfte auf das Vorkommen vieler glimmerartigen Gesteine zusammen, deren Aussehen die Augen beutegieriger Goldsucher getäuscht hatte.

Manao selbst verräth nicht das Mindeste von den fabelhaften Schätzen der mythenhaften Hauptstadt des einstigen El Dorado. Es ist eine schlichte Stadt von kaum fünftausend Einwohnern, darunter nicht weniger als dreitausend[196] Beamte. Eine nothwendige Folge davon ist, daß selbst viele Privatgebäude öffentliche Behörden beherbergen, so z. B. das Gerichtsgebäude, das Präsidentschaftshaus, das Schatzamt, die Post, die Zolleinnahme, ohne eine höhere im Jahre 1848 gegründete Schule zu erwähnen, und ein Hospital, das erst aus dem Jahre 1851 herrührt. Rechnet man hierzu noch den Kirchhof am Ostabhange eines Hügels, auf dem im Jahre 1669 ein jetzt abgetragenes Festungswerk zur Abwehr der Flußpiraten des Amazonenstromes errichtet worden war, so hat man damit Alles kennen gelernt, was die Stadt an Profangebäuden bietet.

Kirchliche Gebäude giebt es eigentlich nicht mehr als zwei, die kleine Kirche de la Conception und die Kapelle Notre Dame des Remèdes, letztere draußen, ziemlich im freien Felde, auf einer Bodenerhebung erbaut, welche Manao dominirt.

Das ist für eine Stadt spanischen Ursprungs gewiß nur wenig. Außer jenen Gebäuden gab es nur noch ein Karmeliterkloster, das 1850 in Asche gelegt wurde, und seitdem Ruine geblieben ist.

Die Bevölkerung Manaos erreicht nur die vorher angegebene geringe Zahl und besteht, außer den Beamten, angestellten Personen und Soldaten vorzüglich aus portugiesischen Kaufleuten und Indianern aus den verschiedenen am Rio Negro wohnenden Stämmen.

Drei immerhin ziemlich unregelmäßige Straßen durchschneiden die Stadt; diese führen sehr charakteristische Namen, welche auf die ganze Denk- und Handlungsweise im Lande ein helles Schlaglicht werfen, nämlich die Straße Gottes des Vaters, die Straße Gottes des Sohnes und die Straße Gottes des heiligen Geistes. Nach Westen hin erstreckt sich außerdem eine prächtige Allee von hundertjährigen Orangenbäumen, welche die Architekten pietätvoll verschonten, als sie aus der alten Stadt die jetzige neue schufen.

Zwischen den genannten Hauptstraßen breitete sich dann ein Netz von ungepflasterten Gassen aus, durchschnitten von vier Kanälen, über welche hölzerne Stege führen. An einzelnen Stellen verlaufen diese Iguarapes mitten durch große, freie Plätze mit üppigem Rasen und buntschillernden Blumen, eine Art natürlicher Squares mit einem Rahmen herrlicher Bäume, unter welchen der »Sumaumeira« am häufigsten vorkommt, jener Riese des Pflanzenreiches, dessen Rinde sich durch ihr blendendes Weiß und dessen Krone sich durch den weitverzweigten, schirmähnlichen Wipfel auszeichnet, den ein auffallend knorriges Astwerk stützt.[197]

Die verschiedenen Privathäuser muß man mühsam aus einigen Hundert halb verfallenen Gebäuden heraussuchen; einzelne derselben sind mit Ziegeln abgedeckt, andere tragen nur eine Bedachung aus nebeneinander gelegten Palmenblättern, alle aber haben sie weit vorspringende Sonnenschutzdächer und etwas herausgebaute Läden, welche meist von portugiesischen Händlern gehalten werden.

Die Leute, die zur Promenadezeit aus den öffentlichen wie aus den Privathäusern herausströmen, sind theils Männer mit hochwichtiger Amtsmiene, schwarzem Rocke, Seidenhut, Lackstiefeln und hellfarbigen Handschuhen, mit Diamanten in der Cravattenschleife, theils Frauen in großer, aber schreiender Toilette mit falbelreichen Kleidern und möglichst modernen Hüten; endlich auch Indianer, die sich zu europäisiren streben und damit die letzte locale Färbung hier im mittleren Theile des Amazonenbeckens vernichten.

Das ist Manao, welches der Leser zum weiteren Verständniß dieser Erzählung einigermaßen kennen lernen mußte. Hier also wurde die so tragisch unter brochene Reise der Jangada mitten in der langen Strecke, die sie noch zurücklegen sollte, abgeschnitten; hier sollte das Geheimniß Joam Garral's, das er so lange bewahrt, an den Tag kommen.

Quelle:
Jules Verne: Die Jangada. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XXXIX–XL, Wien, Pest, Leipzig 1883, S. 195-198.
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