Fünfzehntes Capitel.
Letzte Bemühungen.

[301] Der Beamte war übrigens nicht der Einzige, der sich mit fruchtlosen Versuchen quälte. Benito, Manoel und Minha bemühten sich nicht minder mit der Lösung des Räthsels dieses Documents, von dem das Leben und die Ehre ihres Vaters abhing. Auch Fragoso, dem Lina getreulich zur Seite stand, wollte bei dem edlen Wettstreite nicht zurückbleiben – doch Alles, Alles erwies sich vergeblich, Keinem gelang es, die richtige Zahl zu finden.

»Du mußt dahinter kommen, Fragoso, wiederholte die junge Mulattin, Du mußt!

– Ich werde es auch!« versicherte Fragoso.

Leider sollte diese Hoffnung nicht in Erfüllung gehen.

Fragoso beschäftigte sich freilich schon mit dem Gedanken an ein anderes Vorhaben, von dem er gegen Niemand, nicht einmal gegen Lina, etwas erwähnte, und das ihm gar nicht mehr aus dem Sinn kommen wollte. Er beabsichtigte nämlich, sich auf den Weg zu machen, um womöglich noch vorhandene Mitglieder jener Miliz zu finden, welcher der ehemalige Waldkapitän angehörte, und vielleicht zu erfahren, wer der Verfasser des unverständlichen Documentes habe sein können, der sich als Urheber des Attentats von Tijuco bekannt hatte. Der betreffende Theil der Provinz Amazonas, in welcher jene Miliz operirte, der Ort, wo Fragoso eine Abtheilung derselben vor einigen Jahren getroffen hatte, und die Grenze, bis zu welcher hin sich deren Thätigkeit erstreckte, waren nicht sehr weit von Manao entfernt. Es bedurfte nur einer Fahrt von etwa fünfzig Meilen auf dem Strome bis zur Mündung des Madeira, eines rechtsseitigen Nebenflusses, und er mußte den Befehlshaber jener »Capitaës do mato« auffinden, unter dem auch Torres gedient hatte. Binnen zwei, höchstens drei Tagen konnte Fragoso sich mit den früheren Kameraden des Abenteurers in's Einvernehmen gesetzt haben.

»Ja, ja, sagte er für sich, das ließe sich wohl ausführen – aber was dann? Welches Resultat kann mein Ausflug, wenn ich überhaupt dessen nächstes Ziel erreiche, eigentlich haben? Sollte ich auch in Erfahrung bringen, daß einer[302] von Torres' Kameraden unlängst mit Tode abgegangen ist, liefert das den Beweis, daß er der Urheber des Verbrechens war? Läßt es wenigstens voraussetzen, daß er gerade Torres ein Schriftstück übergeben habe, in welchem er seine Schuld eingesteht und Joam Dacosta von jedem Verdachte reinigt? Bietet sich mir die Aussicht, den Schlüssel zu jener geheimen Schrift in die Hand zu bekommen? Nein! Nur zwei Menschen kannten denselben – der Schuldige selbst und Torres. – Aber diese Beiden sind nicht mehr!«

Solche Gedanken gingen Fragoso durch den Kopf. Er gewann selbst die Ueberzeugung, daß sein Versuch zu nichts führen könne, und doch vermochte er sich desselben auf keine Weise zu entschlagen. Mit unwiderstehlicher Gewalt drängte es ihn, aufzubrechen, obgleich er nicht einmal voraus wissen konnte, ob er die Miliz am Madeira antreffen würde. Die Mannschaft konnte ja auf der Jagd in irgend einem anderen Theile der Provinz sein, und um sie da aufzusuchen, das erforderte mehr Zeit, als Fragoso daran zu wenden im Stande war. Was hatte dann seine ganze Bemühung genützt?

Trotz aller Einreden, die er sich selbst machte, verließ Fragoso dennoch am 29. August die Jangada, ohne Jemand ein Wort zu sagen, gelangte unbemerkt nach Manao und schiffte sich dort auf einer der vielen Egariteas ein, welche tagtäglich den Amazonenstrom hinabsegeln.

Es erregte nicht wenig Erstaunen, als ihn Niemand an Bord sah und er auch den ganzen Tag nicht wiederkehrte. Keiner, nicht einmal die junge Mulattin, konnte sich das Verschwinden des so ergebenen Dieners gerade unter den jetzigen mißlichen Umständen erklären.

Man fragte sich nicht ohne Grund, ob der arme Bursche, aus Verzweiflung darüber, daß er selbst durch seine Begegnung mit Torres die unschuldige Ursache geworden war, diesen auf die Jangada zu bringen, sich nicht ein Leid zugefügt habe.


Eine ganze Schaar Kolibris entfloh erschreckt. (S. 298.)
Eine ganze Schaar Kolibris entfloh erschreckt. (S. 298.)

Doch, wenn Fragoso sich einen derartigen Vorwurf machte, was hätte erst Benito sagen sollen? Zuerst hatte dieser in Iquitos schon Torres zum Besuche der Fazenda eingeladen; später führte er ihn in Tabatinga selbst nach der Jangada, um mit dem Floße weiter zu reisen; zuletzt hatte er ihn gar noch zum Zweikampf herausgefordert und dadurch, daß er ihn tödtete, den einzigen Zeugen aus der Welt geschafft, dessen Aussage die Lage des Verurtheilten gewiß mit einem Schlage verbessert hätte![303]

Benito fühlte sich also an Allem Schuld, ebenso an der Verhaftung seines Vaters, wie an den schrecklichen Folgen, welche diese unabwendbar mitzuführen schienen.

Wenn Torres jetzt noch lebte, konnte Benito ja wohl annehmen, daß der Abenteurer, aus Mitleid oder aus Interesse, zuletzt das auf den Vorgang in Tijuco bezügliche Document herausgegeben hätte. Torres mußte sich wohl, wenn man ihm Geld bot, dazu bewegen lassen, da er ja in keiner Weise bei der Angelegenheit betheiligt war. Gewiß wäre dann der so sehnlich gesuchte Beweis[304] der Unschuld des Fazenders dem Richter geliefert worden. Der einzige Mensch aber, der ein solches Zeugniß hätte ablegen können, gerade dieser mußte durch Benitos eigne Hand fallen!

Wie oft überschüttete sich der junge Mann gegenüber seiner Mutter und Manoel mit Selbstvorwürfen dieser Art! Wie entsetzlich mochten ihn Gewissensbisse über seine schnelle Handlungsweise quälen!


Fragoso verließ die Jangada. (S. 303.)
Fragoso verließ die Jangada. (S. 303.)

Nichtsdestoweniger verlor die muthige Yaquita weder gegenüber ihrem Gatten, bei dem sie jede Stunde zubrachte, so lange ihr das gestattet wurde,[305] noch gegenüber ihrem verzweifelten und sich selbst bitter anklagenden Sohne, jemals alle Hoffnung.

Gerade in diesen kritischen Augenblicken erwies sie sich als die echte, muthige Tochter Magelhaës', als würdige Gefährtin des Fazenders von Iquitos.

Die Haltung Joam Dacosta's war übrigens dazu angethan, ihr in dieser Prüfungszeit eine Stütze zu bieten. Dieser herzhafte Mann, dieser strenge Puritaner, dieser niemals rastende Arbeiter, dessen Leben nur Streben und Thätigkeit gewesen war, zeigte auch jetzt keine Spur von Schwäche oder Verzagtheit.

Der schrecklichste Schlag, der ihn getroffen, ohne seine Standhaftigkeit zu erschüttern, war der unerwartete Tod des Richters Ribeiro, von dem er überzeugt sein konnte, daß er an seiner Unschuld nicht zweifelte. Gerade mit Unterstützung seines früheren Vertheidigers hatte er ja gehofft, den Streit um seine Rehabilitation siegreich durchzuführen. Das Dazwischentreten Torres' betrachtete er selbst nur als Nebensache. Von dem Vorhandensein jenes Documentes wußte er ja nichts, als er die Heimat verließ, um sich den Gerichten des alten Vaterlandes zu stellen. Was er als Waffen zu seiner Vertheidigung bei sich führte, bestand nur in moralischen Beweisen. Wenn den Behörden vor oder nach seiner Verhaftung auch ein materieller Beweis geliefert werden konnte, so hätte er diesen gewiß gern für sich in Anspruch genommen; im Falle dieser Beweis aber in Folge bedauerlicher Umstände abhanden kam, so erschien ja seine Lage noch um nichts verschlimmert gegenüber derjenigen, in der er sich beim Ueberschreiten der Grenze Brasiliens befand, als er sich freiwillig stellen wollte mit den Worten: »Da habt Ihr meine Vergangenheit, hier mein gegenwärtiges Leben, ein ganzes Menschenalter treu erfüllter Pflicht, das ich opfere, um endlich das Geheimniß zu lüften, das mich bedrückt. Ihr habt früher ein ungerechtes Urtheil über mich gefällt! Nach dreiundzwanzig Jahren komme ich und stelle mich selbst. Hier bin ich! Nun gebt noch einmal Euer Urtheil ab!«

Torres' plötzlicher Tod und die Unmöglichkeit, das bei ihm vorgefundene Document zu lesen, hatten auf Joam Dacosta also keineswegs einen so niederschlagenden Eindruck gemacht, wie auf seine Kinder, seine Freunde und Diener, wie auf alle Uebrigen, welche für ihn Interesse empfanden.

»Ich vertraue auf meine Unschuld, tröstete er Yaquita, und setze meine Hoffnung auf Gott. Wenn er glaubt, daß mein Leben noch Werth für die Meinigen habe, und es bedürfte eines Wunders, um dasselbe zu retten, so wird[306] er auch dieses Wunder thun – wenn nicht, so werde ich sterben. Er allein, er ist der Richter!«

Je länger, je mehr verursachte die ganze Angelegenheit eine gewisse Erregung in Manao und wurde mit einer Lebhaftigkeit ohne Gleichen besprochen. Inmitten dieser Erhitzung der öffentlichen Meinung, welche so leicht gegenüber jeder, durch ihre geheimnißvolle Natur doppelt interessanten Angelegenheit eintritt, bildete das Document fast den einzigen Gegenstand der Unterhaltung. Zu Ende des vierten Tages schon zweifelte Niemand mehr daran, daß dasselbe die Rechtfertigung des Verurtheilten enthalte.

Uebrigens war jetzt Jedermann Gelegenheit geboten, seinen Witz an der Entzifferung der so wichtigen Geheimschrift zu üben. »Das Diario d'o Grand Para« hatte nämlich ein Facsimile derselben veröffentlicht. Autographirte Exemplare wurden in großer Anzahl verbreitet, und zwar auf Veranlassung Manoels, der nichts verabsäumen wollte, was zur Entschleierung des Geheimnisses irgend beitragen zu können versprach, nicht einmal den Zufall, den »Kriegsnamen«, wie man gesagt hat, den die Vorsehung zuweilen annimmt.

Ueberdies winkte Demjenigen, der die richtige Ziffer fand, welche das Verständniß des Documentes ermöglichte, eine Belohnung von hundert Contos.1 Das war schon ein Vermögen zu nennen. Und wie viel Leute aus allen Gesellschaftsclassen vergaßen auch darüber Essen und Trinken und den Schlaf dazu, nur um das allen Bemühungen trotzende Kryptogramm in verständliche Worte zu übersetzen!

Bisher erwies sich jedoch Alles als vergeblich und wahrscheinlich hätten auch die gewandtesten Analytiker der Welt ihren Scharfsinn damit erfolglos angestrengt.

Es war daneben auch zur allgemeinen Kenntniß gebracht worden, daß die etwaige gefundene Lösung ohne Verzug dem Richter Jarriquez, in dessen Wohnung in der Straße Gottes des Sohnes, mitzutheilen sei; auch am Abend des 29. August war noch keine Meldung eingelaufen, und aller Wahrscheinlichkeit nach auf eine solche auch nicht zu rechnen.

Von Allen, die sich mit dem Studium dieser schwierigen Aufgabe beschäftigten, verdiente gewiß der Richter Jarriquez das größte Mitleid. In Folge einer ganz natürlichen Ideenassociation theilte auch er die allgemeine Ansicht,[307] daß das Document mit der Affaire von Tijuco zusammenhänge, daß es von der Hand des Schuldigen selbst aufgesetzt sei und die Rechtfertigung Joam Dacosta's enthalten werde. Das trieb ihn nur um so mehr, den Schlüssel zu finden. Es leitete ihn nicht allein »die Liebe zur Kunst«, sondern auch ein gewisses Gefühl der Gerechtigkeit und des Mitleids für einen Mann, der fälschlicher Weise verurtheilt worden war.

Wenn es wahr ist, daß durch die Thätigkeit des Gehirns eine gewisse Menge Phosphor aus dem Gewebe desselben verbrannt wird, so möchte es schwierig sein, anzugeben, wie viel Milligramm der Beamte daran setzte, um sein »Sensorium« zu erwärmen und am letzten Ende doch nichts, nichts zu finden!

Der Richter Jarriquez dachte deswegen jedoch nicht etwa daran, von ferneren Versuchen abzustehen. Wenn er jetzt nur noch auf den Zufall rechnete, so sollte, so mußte dieser Zufall ihm zu Hilfe kommen. Er suchte durch alle mögliche und unmögliche Mittel sein Ziel zu erreichen. Bei ihm war die Sache zur Phrenesie, zur Wuth, und was das Schlimmste ist, zur ohnmächtigen Wuth geworden.

Niemand möchte glauben, wie viel verschiedene, immer ganz willkürlich herausgegriffene Ziffern er noch am Abend dieses Tages durchprobirte. Hätte ihm die Zeit dazu nicht gefehlt, er würde es mit allen den Millionen von Combinationen versucht haben, welche die zehn Ziffern des Zahlensystems zuließen. Er hätte dieser Aufgabe gern sein ganzes Leben gewidmet, selbst auf die Gefahr hin, darüber zum Narren zu werden, und, wenn man es recht betrachtet, war er das nicht schon?

Da kam ihm auch der Gedanke, das Document müsse vielleicht von rechts nach links gelesen werden; wieder begann er zu probiren, wieder kam er zu demselben nichtigen Resultate, denn mit allen den schon untergelegten Ziffern gelang es ihm auch auf diese Weise nicht, nur ein Wort davon zu verstehen.

Vielleicht auch hatte man das ganze Document von rückwärts zu lesen und den letzten Buchstaben als den ersten zu betrachten, was der Schreiber desselben ja ersonnen haben mochte, um die Enträthselung noch mehr zu erschweren.

Vergeblich! Auch diese neue Combination ergab nichts weiter als eine Reihe sinnloser Buchstaben.

Um Acht Uhr Abends hatte der Richter Jarriquez, dem der Kopf in die Hand gesunken war, bei seiner geistigen und körperlichen Erschöpfung nicht mehr[308] die Kraft, sich zu bewegen, zu sprechen, zu denken, oder wenigstens einen Gedanken an den anderen zu reihen.

Plötzlich entstand vor seiner Thüre Lärm. Fast gleichzeitig wurde die Thür seines Cabinets trotz seines gemessenen Befehls rasch geöffnet.

Benito und Manoel standen vor ihm. Benito entsetzlich anzusehen, Manoel diesen unterstützend, denn der unglückliche junge Mann vermochte sich kaum noch auf den Füßen zu erhalten.

Der Beamte stand schnell auf.

»Was giebt es, meine Herren, was wünschen Sie? fragte er.

– Den Schlüssel... den Schlüssel! rief Benito wahnsinnig vor Schmerz, den Schlüssel zu dem Document!...

– Kennen Sie denselben? fragte der Richter Jarriquez.

– Nein, Herr Richter, aber vielleicht Sie?...

– Ich weiß nichts... nichts.

– Nichts!« schrie Benito auf.

In seiner Verzweiflung zog er einen Dolch aus seinem Rocke und wollte sich denselben in's Herz stoßen.

Der Beamte und Manoel fielen ihm in die Arme und hatten große Mühe, ihn zu entwaffnen.

»Benito, begann der Richter und zwang sich, so ruhig als möglich zu erscheinen, da Ihr Vater jetzt für ein Verbrechen büßen soll, das er nicht begangen hat, haben Sie wahrlich Besseres zu thun, als sich selbst umzubringen.

– Aber was... was?... schluchzte Benito.

– Sie müssen danach trachten, ihm das Leben zu retten!

– O, wie gern, aber wie?

– Das müssen Sie selbst errathen, erwiderte der Beamte, es ist nicht meine Sache, Ihnen das zu sagen!«

Fußnoten

1 400.000 Mark.


Quelle:
Jules Verne: Die Jangada. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XXXIX–XL, Wien, Pest, Leipzig 1883, S. 309.
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