Neunzehntes Capitel.
Das Verbrechen von Tijuco.

[335] Beim Erscheinen des Richters erstarrte plötzlich die Bewegung der Menschenmenge. Ein Echo ohne Ende wiederholte noch immer den von allen Seiten erschallenden Jubelruf:

»Unschuldig! Unschuldig!«

Dann ward es ringsumher still. Niemand wollte eine Silbe von dem überhören, was der Richter weiter sagen würde.

Dieser hatte sich auf eine Steinbank niedergelassen; ihn umstanden Minha, Benito, Manoel und Fragoso, während Joam Dacosta Yaquita an die Brust gepreßt hielt. Jarriquez beschäftigte sich zunächst nur mit der Entzifferung des letzten Absatzes, und je nachdem ihm durch die darunter gesetzten Ziffern die Worte klar wurden, theilte er diese ab, interpunktirte die Sätze und las nach Vollendung der Arbeit und nach einigen einleitenden Worten Folgendes vor:

»Dieses merkwürdige Schriftstück, sagte er, berufen, im letzten Augenblicke das Leben eines braven, hochgeachteten Mannes zu retten, ihm seine angezweifelte Ehre wiederzugeben, ist wunderbarer Weise, und ohne daß mir bisher ein Grund dafür ersichtlich wurde, nicht in unserer Landessprache, sondern französisch abgefaßt. Vielleicht hat der Urheber desselben damit weiter nichts als eine weitere Erschwerung der Entzifferung beabsichtigt. Französisch sieht die Uebersetzung nun so aus, wie dieses Blatt, welches ich hier in der Hand habe, und das folgendermaßen lautet:


»Ja«, antwortete der Chef. (S. 330.)
»Ja«, antwortete der Chef. (S. 330.)

Le véritable auteur du vol des diamants et de [335] l'assas-

43 251343251 343251 34 325 134 32513432 51 34 325134

Ph yjslyddqf dzxgas gz zqq ehx gkfndrxu ju gi octdx


sinat des soldates qui escortaient le convoi, commis dans la

32513 432 5134325 134 32513432513 43 251343 251343 2513 43

vksbx hhu ypohdvy rym huhpuydkojox ph etozsl etnpmv ffov pd


nuit du vingt-deux janvier mil huit cent vingt-six, n'est

2513 43 25134 3251 3432513 432 5134 3251 34325 134 3251

pajx hy ynojy ggay meqynfu qln mvly fqsu zmqiz tlb qgyu


donc pas Joam Dacosta, injustement condamné à mort; c'es

3432 513 4325 1343251 34325134325 13432513 4 3251 3432

gsqe ubv nrcr edgruzb lrmxyuhqhpz drrgcroh e pqxu fivv


moi, le misérable employé de l'administration du district

513 43 251343251 3432513 43 251343251343251 34 32513432

rpl ph onthvddqf hqsntzh hh nfepmqkyuuexkto gz gkyuumfv
[336]

»Unschuldig! Unschuldig!« (S. 335.)
»Unschuldig! Unschuldig!« (S. 335.)

diamantin; oui, moi seul, qui signe de mon vrai nom, Ortega.

513432513 432 513 4325 134 32513 43 251 3432 513 432513

ijdqdpzjq syk rpl xhxq rym vkloh hh oto zvdk spp suvjhd.
[337]

»In unsere Sprache übersetzt, heißt das aber: »Der wirkliche Urheber des Diamantendiebstahls und der Niedermetzelung der Soldaten, welche den Transport begleiteten, geschehen in der Nacht des zweiundzwanzigsten Januar eintausendachthundertsechsundzwanzig, ist also nicht der unrechter Weise zum Tode verurtheilte Joam Dacosta, sondern ich, der ruchlose Verwaltungsbeamte im Diamanten-District, ja, allein ich, der sich hier mit seinem richtigen Namen unterzeichnende... Ortega.«

Kaum verhallten diese Worte, als stürmische, nie enden wollende Hurrahs die Lüfte erschütterten.

Was brauchte man auch mehr, als diesen letzten Absatz des Documentes, der die Unschuld des Fazenders von Iquitos unzweifelhaft nachwies und dem Galgen dieses Opfer eines schrecklichen Justizfehlers entriß?

Im Kreise seiner Gattin, seiner Kinder und Freunde konnte Joam Dacosta gar nicht genug Hände drücken, die sich ihm entgegenstreckten. Trotz der Energie seines Charakters übermannte ihn doch die Rührung, und thränenfeuchten Auges blickte er hinauf zum Himmel und pries dankbaren Herzens den Herrn der Welt, dessen Hand im letzten, schwersten Augenblicke auf so wunderbare Weise sein Schicksal gelenkt und ihn dem Leben wiedergeschenkt hatte.

Die Schuldlosigkeit Joam Dacosta's konnte ja nun in der That kaum noch einem Zweifel unterliegen. Der wirkliche Urheber des Ueberfalles von Tijuco hatte sein Verbrechen selbst eingestanden und schilderte treffend alle Nebenumstände bei dessen Ausführung. Mit Hilfe jener Zahl enträthselte der Richter Jarriquez das ganze geheimnißvolle Schriftstück, worin Ortega das Folgende erzählte und gestand:

Der Elende war ein College Joam Dacosta's und wie dieser Beamter in dem Bureau des Gouverneurs im Diamanten-Arrayal zu Tijuco. Ihn hatte man damit betraut, den Edelstein-Transport nach Rio de Janeiro zu begleiten. Nicht zurückschreckend vor dem verbrecherischen Gedanken einer Bereicherung durch Raub und Mord, hatte er den Schleichhändlern den Tag, an dem der Zug von Tijuco abgehen sollte, genau mitgetheilt.

Bei dem Ueberfalle der Räuber, welche dem Transport jenseits der Stadt Villa Rica auflauerten, kämpfte er scheinbar auf Seite der Begleitmannschaften mit, fiel verabredetermaßen von einem auf ihn abgefeuerten blinden Schusse und wurde zu den Todten geworfen. So konnte der einzige, mit dem Leben davongekommene[338] Soldat allerdings aussagen, daß Ortega bei dem Gefechte mit umgekommen sei.

Der Verbrecher sollte aber seinen Raub nicht genießen, denn bald nachher wurde er von denen, die ihn bei Ausführung desselben unterstützt hatten, selbst total ausgeplündert.

Aller Mittel bar und ohne die Möglichkeit, nach Tijuco zurückzukehren, entflieht Ortega nach den nördlichen Provinzen Brasiliens, nach jenen Gebieten am oberen Amazonenstrome, wo die Miliz der »Capitaës do mato« ihr Wesen trieb. Er mußte doch leben; so trat Ortega in jene, nicht besonders gut beleumundete Truppe ein. Hier fragte ihn Niemand, wer er sei oder woher er komme. Ortega wurde also Waldkapitän und betrieb lange Jahre hindurch das Geschäft eines Menschenjägers.

Inzwischen wurde der, ebenfalls aller Existenzmittel beraubte Abenteurer Torres sein Kamerad. Ortega und er traten sehr bald in nähere Beziehung zu einander. Wie Torres gesagt hatte, quälten den Uebelthäter aber bald genug Gewissensbisse. Die Erinnerung an seine Frevelthat erfüllte ihn mit Schrecken. Er hatte erfahren, daß ein Anderer an seiner Statt verurtheilt worden war, er kannte auch diesen Anderen, seinen gänzlich unschuldigen Collegen Joam Dacosta. Erfuhr er endlich auch, daß es Jenem gelungen sei, sich der ihm drohenden schimpflichen Hinrichtung zu entziehen, so schwebte doch noch immer das Schwert über seinem Haupte.

Als nun die genannte Miliz vor nicht allzu langer Zeit einmal bis über die peruanische Grenze hinüber schweifte, kam Ortega zufällig in die Nähe von Iquitos, und da fand er unter Joam Garral, der ihn selbst nicht erkannte, den früheren Joam Dacosta wieder.

Damals beschloß er, so weit ihm das möglich wäre, das dem ehemaligen Collegen angethane Unrecht wieder gut zu machen und setzte ein Document auf, in dem er alles, auf den Ueberfall bei Villa Rica Bezügliche niederschrieb; aber er that es in der, dem Leser bekannten geheimnißvollen Form, in der Absicht, es dem Fazender von Iquitos sammt der zur Enträthselung der Schrift nöthigen Zahl zu übersenden.

Der Tod verhinderte ihn an der völligen Durchführung dieses Planes. In einem Scharmützel mit Negern am Madeira-Flusse schwer verwundet, erkannte Ortega, daß sein Ende nahe sei. Sein Kamerad Torres befand sich an seiner Seite; diesem Freunde glaubte er das Geheimniß anvertrauen zu dürfen, das[339] schon so lange und so schwer auf ihm gelastet hatte. Jenem überlieferte er das eigenhändig geschriebene Document und nahm ihm einen Eid ab, dasselbe Joam Dacosta zu überliefern, dessen jetzigen Namen und Aufenthaltsort er ihm mittheilte, und mit dem letzten Seufzer flüsterte er noch die Zahl vierhundertzweiunddreißigtausendfünfhundertdreizehn, ohne deren Kenntniß das Schriftstück völlig unverständlich bleiben mußte.

Der Leser weiß, wie Torres nach Ortega's Ableben sich seines Auftrages entledigte, wie er aus dem, in seinen Händen befindlichen Geheimniß Nutzen zu ziehen beschloß, wie er dasselbe zum Gegenstande eines schamlosen Tauschhandels zu machen versuchte.

Torres mußte vor gänzlicher Durchführung seiner bübischen Absichten gewaltsamen Todes sterben und nahm sein Geheimniß mit in das Wassergrab. Der von Fragoso zuerst erwähnte Name Ortega aber, gleichsam die Signatur des Schriftstückes, dieser Name führte endlich, Dank dem Scharfsinne des Richters Jarriquez, dazu, das Kryptogramm in allgemein verständliche Schrift zu übersetzen.

Ja, hiermit lag der so lange gesuchte materielle Beweis vor Augen, das unwiderlegbare Zeugniß der Unschuld des, dem Leben und der Ehre wiedergegebenen Joam Dacosta.

Die Hurrahs erschallten mit verdoppelter Lebhaftigkeit, als der würdige Beamte mit lauter Stimme zur Erbauung Aller diese spannende Geschichte vorgetragen hatte.

Von dieser Stunde ab ließ der Richter Jarriquez, der Besitzer des unbestreitbaren Beweises, in Uebereinstimmung mit dem Chef der Polizei, es sich nicht nehmen, Joam Dacosta, den er vor Eintreffen weiterer Instructionen von Rio de Janeiro doch nicht völlig auf freien Faß setzen durfte, einstweilen in seinem eigenen Hause unterzubringen.

Das konnte er sich jedenfalls, ohne Ueberschreitung seiner Machtbefugnisse, erlauben, und unter dem Zusammenlauf der ganzen Einwohnerschaft Manaos sah sich Joam Dacosta gleich einem Triumphator mehr nach der Dienstwohnung des hohen Beamten getragen, als daß er, begleitet von allen seinen Angehörigen, dahin ging.

Diese Stunde belohnte den ehrenwerthen Fazender von Iquitos reichlich für alle Leiden einer langjährigen Verbannung, und wenn er sich jetzt, mehr um seiner Familie als um seiner selbst willen, glücklich fühlte, so regte sich in ihm auch ein gewisser vaterländischer Stolz, daß die Heimat sich nicht durch einen schrecklichen Justizmord besudelt hatte.[340]

Was wurde inzwischen aber mit Fragoso?

Nun, der Liebenswürdige wurde von Zärtlichkeiten fast erdrückt. Benito, Manoel und Minha überhäuften ihn damit, und Lina ersparte ihm dieselben nicht. Er wußte kaum, woran er war, und wehrte sich, so gut es anging. So viel des Dankes verdiente er ja gar nicht! Der Zufall allein hatte Alles gethan! War es denn ein so besonderes Verdienst von ihm, daß er in Torres einen früheren Waldkapitän wieder erkannt hatte? Gewiß nicht. Auch sein Einfall, die Miliz, der Torres früher angehört hatte, aufzusuchen, schien doch von vornherein die schlimme Lage des Fazenders kaum bessern zu können, und was endlich den Namen Ortega anging, so hatte er ja dessen entscheidenden Werth nicht im mindesten geahnt.

Braver Fragoso! Ob er es nun zugeben wollte oder nicht, er hatte doch zuletzt Joam Dacosta gerettet.

Doch wie viele merkwürdige Ereignisse in glücklicher Aufeinanderfolge gehörten dazu, dieses Ziel zu erreichen! Die Rettung Fragoso's, gerade als er sich im Walde von Iquitos aus Lebensüberdruß den Tod geben wollte; der freundliche Empfang, der ihm in der Fazenda zutheil wurde; die Begegnung mit Torres an der Grenze Brasiliens, seine Einschiffung auf der Jangada und endlich der Umstand, daß er den Abenteurer schon früher einmal gesehen hatte.

»Nun, ja doch, rief Fragoso zuletzt, aber ohne Lina wäre doch Alles unmöglich gewesen.

– Ohne mich! bemerkte die junge Mulattin.

– Gewiß! Ohne jene Liane, ohne Deinen famosen Einfall hätte ich nimmer so viel Glück stiften können.«

Wir brauchen wohl kaum hervorzuheben, daß Fragoso und Lina geradezu gefeiert und von der ganzen ehrbaren Familie, wie von deren vielen, in Manao gewonnenen neuen Freunden fast auf den Händen getragen wurden.

Hatte der Richter Jarriquez aber nicht auch seinen Antheil an der Ehrenrettung des Unschuldigen? Wenn es ihm trotz seiner hoch entwickelten analytischen Talente auch nicht gelang, das für Jedermann, der nicht im Besitze des Schlüssels war, unenträthselbare Document zu lesen, so hatte er doch zeitig genug erkannt, welches kryptologische System demselben zugrunde gelegt war. Wer hätte außer ihm mit Hilfe des einzigen Namens Ortega die versteckte Zahl herauszufinden vermocht, welche nur der Urheber des Verbrechens und Torres, als sie noch lebten, gekannt hatten?[341]

Auch ihm wurde selbstverständlich der wohlverdiente Dank zutheil.

Noch am nämlichen Tage ging nach Rio de Janeiro ein ausführlicher Bericht über die letzten Vorkommnisse ab, dem das Original-Document nebst dem zugehörigen Schlüssel beigefügt war. Jetzt mußte erst ein weiterer Erlaß des Ministers an den Richter abgewartet werden, aber Niemand zweifelte daran, daß Jener die sofortige Freigebung des Gefangenen verfügen werde.

Es galt also noch einige Tage in Manao auszuharren; dann sollten Joam Dacosta und die Seinigen, frei und unbeschränkt, von keiner weiteren Besorgniß bedrückt, von ihrem Wirthe Abschied nehmen, sich wieder einschiffen und den Amazonenstrom weiter hinab bis nach Para segeln, wo die Reise durch die Doppelhochzeit Minhas und Manoels, sowie Linas und Fragoso's, entsprechend dem vorher entworfenen Plane, ihr Ende finden sollte.

Vier Tage später, am 4. September, traf der Befehl zur Freigabe des Gefangenen ein. Das Document war als authentisch anerkannt worden, sowie die Handschrift als diejenige Ortega's, des ehemaligen Beamten im Diamantenbezirke, und es unterlag keinem Zweifel, daß das Geständniß des Verbrechens, mit allen Einzelheiten, die er beifügte, allein von seiner Hand geschrieben war.

Endlich war also die Unschuld des Verurtheilten von Villa Rica anerkannt und Joam Dacosta wieder ehrlich erklärt worden.

An diesem Tage speiste der Richter Jarriquez mit der glücklichen Familie an Bord der Jangada, und als er gegen Abend aufbrach, drückten ihm Alle warm die Hände. Es war ein überaus rührender Abschied, aber man versprach dabei, sich auf der Rückreise nach der Heimat in Manao und später in Iquitos gegenseitig zu besuchen.

Am folgenden Morgen mit Tagesaubruch erschallte das Signal zur Weiterfahrt. Alle Insassen der Jangada standen auf dem ungeheueren Floße. Die Jangada trieb langsam nach der Strömung, und als sie an der Biegung des Rio Negro verschwand, donnerte noch ein tausendstimmiges Hurrah der Bewohner von Manao durch die warme Luft.[342]

Quelle:
Jules Verne: Die Jangada. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XXXIX–XL, Wien, Pest, Leipzig 1883, S. 335-343.
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