Viertes Capitel.
Moralische Beweise.

[214] Der gegen Joam Dacosta, genannt Joam Garral, erlassene Haftbefehl war von dem Vertreter des Richters Ribeiro ausgefertigt, der die Function dieses Beamten in der Provinz Amazonas bis zur Ernennung eines Nachfolgers zu versehen hatte.

Dieser Stellvertreter hieß Vicente Jarriquez. Er war ein kleiner barscher Mann, den vierzig Jahre richterlicher Thätigkeit nicht eben wohlwollend gegen Angeklagte gestimmt hatten. Nachdem er so viele Criminalfälle unter den Händen gehabt, so viele Verbrecher verhört und verurtheilt, erschien ihm die Annahme, daß ein Angeklagte, wer das auch wäre, unschuldig sein könne, a priori unzulässig. Er verurtheilte zwar gewiß nicht gegen seine Ueberzeugung, aber diese im Voraus feststehende Ueberzeugung ließ sich nicht so leicht durch die Ergebnisse des Verhörs oder die Beweisgründe der Vertheidigung erschüttern. Wie so viele Vorsitzende von Assisenhöfen, widersetzte auch er sich gern der oft beobachteten Milde der Jury, und wenn ein Angeklagter, nachdem er glücklich dem Fegefeuer der Kreuzverhöre, der unerwarteten Fragestellung u. s. w. entgangen war, vor ihm erschien, so betrachtete er ihn anfänglich gewiß eher für zehnfach schuldig als für schuldlos.

Ein böser Mensch war dieser Jarriquez indeß nicht, aber nervös, unruhig, wortreich, listig und scharfsinnig, überhaupt sonderbar anzusehen mit seinem großen Kopfe auf dem kleinen Körper, dem wildzerzausten Haare, den wie mit einem Bohrer ausgehöhlten Augen, aus denen die Blicke wie spitzige Pfeile hervorschossen, mit der weitvorragenden Nase, mit der er gewiß gesticulirt hätte, wenn sie sonst beweglich gewesen wäre, mit seinen zwei abstehenden Ohren, welche geschaffen schienen, sogar das aufzufangen, was außer der gewöhnlichen Tragweite menschlicher Hörwerkzeuge vorging, mit den unausgesetzt auf die Tafel trommelnden Fingern – so als wenn ein Pianist sich auf dem stummen Clavier übte – mit dem für die kurzen Beine viel zu langgemessenen Oberkörper, und den Füßen, die er einmal um das andere kreuzweise übereinanderschlug und wieder lang ausstreckte, wenn er auf dem Richterstuhle saß.[214]

In seinem Privatleben ein verhärteter Hagestolz, verließ der Richter Jarriquez seine juristischen, Folianten niemals, als wenn er zur Tafel ging, die er nicht verachtete, oder zum Whistspiel, dem er mit Leib und Seele ergeben war, wenn er gerade nicht Schach spielte, worin er als Meister gelten konnte, oder wenn er sich endlich mit chinesischen Kopfzerbrechereien, mit Räthseln, Charaden, Rebus, Anagramms, Logogryphen und dergleichen die Zeit vertrieb, was, ganz so wie bei manchem europäischen Beamten – eine wahre Sphinx aus Neigung und Profession – nicht so gar selten der Fall war.

Auf den ersten Blick erschien er als ein Original, und man sieht unschwer ein, wie viel ungünstiger Joam Dacosta's Sache durch den plötzlichen Tod Ribeiro's lag, da sie nun in die Hände dieses wenig zugänglichen Beamten kam.

Iarriquez' ganze Aufgabe war übrigens eine ziemlich einfache. Er entging der Verpflichtung, erst eine ausgedehnte Voruntersuchung zu führen, er brauchte keine Debatte zu leiten, keinen Urtheilsspruch zu fällen, er hatte nicht nöthig, sich um diese oder jene Paragraphen des Strafgesetzbuches zu kümmern, um ein Strafmaß festzusetzen. Alle diese Formalitäten waren zum Unglück für den Fazender von Iquitos hier überflüssig. Joam Dacosta war schon verhaftet gewesen, abgeurtheilt, vor dreiundzwanzig Jahren in Tijuco mit der Todesstrafe belegt, welche auch durch Verjährung noch nicht aufgehoben war; von einer Strafumwandlung konnte ebenso wenig die Rede sein, wie an eine etwaige Begnadigung zu denken war. Für ihn handelte es sich also nur darum, die Identität der Person festzustellen, damit die Gerechtigkeit, nachdem die Bestätigung von Rio de Janeiro eingetroffen, ihren Lauf haben konnte.

Joam Dacosta würde natürlich nicht unterlassen, seine Unschuld zu betheuern und zu behaupten, daß er ungerechter Weise verurtheilt worden sei.


Der Richter Jarriquez. (S. 214.
Der Richter Jarriquez. (S. 214.

Der Richter Jarriquez. (S. 214.


Welche Ansicht das Gericht und dessen Vorsitzender auch haben mochten, jedenfalls blieb Letzterer verpflichtet, seinen Einspruch anzuhören. Dann kam es vorzüglich darauf an, mit welchen Beweisen der Verurtheilte seine Aussagen zu bestärken im Stande war. Wenn er solche aber früher den ersten Richtern nicht beibringen konnte, so erschien es doch fraglich, ob er das jetzt vermöge.

In der Entscheidung dieses Punktes gipfelte also füglich das ganze vorzunehmende Verhör.

Immerhin erschien die Thatsache, daß ein zum Tode Verurtheilter, der in fremdem Lande sicher und noch dazu unter glücklichen Verhältnissen lebte, Alles freiwillig verließ, um sich der Justiz zu stellen, von der er allem Anscheine[215] nach doch nicht viel Gutes zu erwarten hatte, auffällig und mußte selbst einen hartgesottenen Criminalbeamten, der schon eine lange Erfahrung hinter sich hatte, mindestens stutzen machen. Ob der Verurtheilte lebensmüde war, ob ihm nur das Gewissen keine Ruhe ließ, so daß er sich selbst stellte, weil er eine Stimme in seinem Inneren auch nach so langer Zeit nicht zum Schweigen bringen konnte, das verlieh der Angelegenheit doch ein mehr als gewöhnliches Interesse. Am Morgen nach der Verhaftung Joam Dacosta's begab sich der Richter Jarriquez also nach dem Arresthause in der Straße Gottes des Sohnes,[216] in welchem der Gefangene sich befand. Das Haus war ein ehemaliges Missionärkloster, erbaut an einem der Hauptkanäle der Stadt. An Stelle der freiwillig Detinirten wohnten jetzt unfreiwillige Gefangene in dem, seinem Zwecke nur nothdürftig entsprechenden Gebäude. Das Zimmer, in welchem Joam Dacosta eingeschlossen war, ähnelte auch keineswegs einer jener traurigen Zellen, welche das moderne Strafsystem eingeführt hat.


»Ich bin Joam Dacosta!« (S. 219.)
»Ich bin Joam Dacosta!« (S. 219.)

Es bestand aus einer alten Mönchsklause mit einem Fenster ohne Laden, aber vergittert, und mit der Aussicht nach einer wüsten Gegend; in der einen Ecke eine Bank, eine Art Pritsche in[217] der andern, nebst einigen wenigen rohen Utensilien, das war die ganze Ausstattung.

Am 25. August wurde Joam Dacosta gegen elf Uhr aus diesem Zimmer geholt und zum Verhör geführt, das in dem früheren Speisesaale des Klosters stattfand.

Hier saß der Richter Jarriquez auf hohem Stuhle vor seinem Schreibtisch, mit dem Rücken nach dem Fenster gewendet, so daß sein Gesicht immer im Schatten blieb, während dasjenige des Inculpaten voll beleuchtet wurde. An einem Ende des Tisches hatte der Actuar, die Feder hinter dem Ohre, Platz genommen, und erschien so gleichgiltig, wie man diese Leute, welche Fragen und Antworten mit gleichem Mangel an Interesse niederschreiben, meist zu sehen gewöhnt ist.

Joam Dacosta wurde in den Saal eingeführt, und die Wärter, welche ihn begleitet hatten, zogen sich auf einen Wink des Gerichtsvorsitzenden lautlos zurück.

Der Richter Jarriquez, faßte den Angeklagten längere Zeit scharf in's Auge. Dieser hatte sich vor ihm verneigt und stand nun in ungezwungener, weder herausfordernder noch kriechender Haltung da in Erwartung der Fragen, die man an ihn richten würde.

»Ihr Name, begann der Richter Jarriquez.

– Joam Dacosta.

– Ihr Alter?

– Zweiundfünfzig Jahre.

– Sie wohnten?

– In Peru, im Dorfe Iquitos.

– Unter welchem Namen?

– Unter dem Namen Garral, dem Namen meiner Mutter.

– Und weshalb legten Sie sich diesen bei?

– Um mich, vor nun dreiundzwanzig Jahren, der Verfolgung der brasilianischen Behörden zu entziehen.«

Diese Antworten klangen so bestimmt, sie schienen darauf hinzudeuten, daß Joam Dacosta entschlossen sei, über seine Vergangenheit und Gegenwart ein unumwundenes Geständniß abzulegen, daß der Richter Jarriquez, dem das in seiner Praxis weniger oft vorkam, die Nase verticaler stellte als gewöhnlich.

»Und warum, fuhr er fort, hatten die brasilianischen Behörden Ursache, Sie zu verfolgen?[218]

– Weil ich im Jahre 1826, wegen der bekannten Diamanten-Angelegenheit, in Tijuco zum Tode verurtheilt war.

– Sie gestehen also zu, daß Sie Joam Dacosta sind?

– Ich bin Joam Dacosta.«

Der Angeklagte sagte das Alles mit größter Ruhe, als handle es sich um die gleichgiltigsten Dinge von der Welt. Selbst die kleinen Augen des Richters wurden hinter den Lidern etwas heller, so als wollten sie sagen: »Nun, die Geschichte geht ja ihren Weg ganz allein!«

Bald sollte jedoch der Moment kommen, wo an den Inculpaten die stets gleichmäßige Frage gerichtet wurde, auf welche von Allen stets ein und dieselbe Antwort, die Versicherung ihrer Unschuld, zu erfolgen pflegt.

Die Finger des Richters Jarriquez begannen auf dem Tische einen leichten Triller zu trommeln.

»Was treiben Sie in Iquitos, Joam Dacosta? fragte er.

– Ich bin Fazender und leite ein umfängliches, wirthschaftliches Etablissement!

– Gedeiht dasselbe gut?

– Es befindet sich in bestem Zustand.

– Seit wann haben Sie Ihre Fazenda verlassen?

– Etwa seit neun Wochen.

– Weshalb?

– Was diese Frage betrifft, mein Herr, erwiderte Joam Dacosta, so habe ich mich dabei eines Vorwandes bedient, obgleich ich einen wichtigen Grund hatte.

– Und worin bestand dieser Vorwand?

– Ich erklärte, einen großen Holztrain und eine Ladung verschiedener Waaren auf dem Amazonenstrome nach Para hinunterschaffen zu wollen.

– Ah so, bemerkte der Richter Jarriquez, und der wirkliche Grund Ihrer Reise?«

Als er diese Frage stellte, sagte er für sich:, »Nun wären wir ja dahin, wie gewöhnlich leugnen und lügen zu hören!«

»Der wirkliche Grund, antwortete Joam Dacosta mit fester Stimme, war der, daß ich mich entschlossen hatte, mich der Justiz meines Vaterlandes zu stellen.

– Sich selbst zu stellen! rief der Richter, der sich in seinem Lehnstuhl etwas erhob. Sich selbst... freiwillig zu stellen?[219]

– Freiwillig.

– Und warum?

– Weil ich diese Existenz, unter falschem Namen zu leben, nicht mehr ertragen konnte, weil ich das meiner Gattin und meinen Kindern gegenüber nicht länger verantworten zu können glaubte, und endlich, mein Herr, weil...

– Nun, weil?

– Ich unschuldig bin!

– Das wußte ich vorher,« murmelte der Richter Jarriquez für sich hin.

Und während er mit den Fingern einen Marsch in schnellerem Tempo anfing, machte er Joam Dacosta ein Zeichen mit dem Kopfe, welches deutlich sagte: »Nun vorwärts! Erzählen Sie Ihre Geschichte! Ich kenne sie schon, aber ich will Sie nicht hindern, dieselbe nach Ihrer Weise vorzutragen!«

Obwohl Joam Dacosta die wenig ermuthigende Stimmung des Beamten vollkommen erkannte, so schien er dieselbe doch nicht zu beachten. Er entrollte also ein Bild seines ganzen Lebens, sprach ruhig und gelassen, wie vorher, und überging keinen Umstand, der aus der Zeit vor oder nach seiner Verurtheilung von einiger Bedeutung erscheinen mochte. Dabei hob er keineswegs das ehrenhafte und allgemein anerkannte Leben, das er seit seiner Flucht geführt, besonders hervor, so wenig wie seine Pflichten als Haupt der Familie, als Gatte und Vater, die er so würdig erfüllt hatte. Er betonte nur eines, den Entschluß, der ihn nach Manao geführt hatte, um eine Revision seines Processes und seine Rehabilitation zu erlangen, wozu ihn doch eigentlich nichts gedrängt hatte.

Der gegen jeden Angeklagten von vornherein eingenommene Richter Jarriquez unterbrach ihn mit keinem Worte. Er begnügte sich, die Augen abwechselnd zu schließen und wieder zu öffnen, wie ein Mensch, der dieselbe Geschichte zum hundertsten Male erzählen hört; und als Joam Dacosta auf den Tisch sein Memoire niederlegte, rührte er sich nicht im mindesten, um dasselbe entgegen zu nehmen.

»Sind Sie fertig? fragte er.

– Ja, mein Herr!

– Und Sie bleiben bei der Aussage, daß Sie Iquitos nur verlassen haben, um eine Revision Ihres Processes zu erstreben?

– Das war mein einziger Grund.

– Womit wollen Sie das beweisen? Wer sagt uns, daß Sie sich ohne die Denunciation, welche zu Ihrer Verhaftung führte, freiwillig bei Gericht gestellt hätten?[220]

– Zunächst dieses Schriftstück, antwortete Joam Garral, auf seine Arbeit weisend.

– Recht schön; doch eben das befand sich bis jetzt in Ihrer Hand, und nichts beweist, daß Sie, wenn Sie nicht gefänglich eingezogen wurden, davon den vorgegebenen Gebrauch gemacht hätten.

– Es giebt noch ein anderes Beweisstück, welches nicht mehr in meinem Besitz ist und dessen Authenticität nicht wohl in Zweifel gezogen werden dürfte.

– Und das wäre?

– Ein Brief, den ich an Ihren Vorgänger, den Richter Ribeiro, geschrieben und in dem ich diesem meine nahe bevorstehende Ankunft angezeigt habe.

– Ah, Sie hatten geschrieben?

– Ja, und dieser Brief muß wohl an seine Adresse gelangt sein und wird jedenfalls bald nun auch in Ihre Hände kommen.

– Wirklich? versetzte der Richter Jarriquez mit etwas ungläubigem Tone. Sie hatten an den Oberrichter Ribeiro geschrieben?

– Bevor er zu dieser von Ihnen genannten Stellung in dieser Provinz berufen wurde, antwortete Joam Dacosta, war der Oberrichter Ribeiro Advocat in Villa Rica. Er hat mich seiner Zeit in dem Criminalprocesse in Tijuco vertheidigt, und zweifelte gewiß nicht an der Rechtmäßigkeit meiner Sache. Er hat Alles versucht, mich zu retten. Zwanzig Jahre später, als er hier in Manao seine hohe Stellung inne hatte, habe ich ihm mitgetheilt, wer und wo ich war, sowie was ich vor hatte. Seine Ansicht bezüglich meines Falles erlitt bis zuletzt keine Aenderung, und auf seinen Rath hin bin ich jetzt aus meiner Fazenda aufgebrochen, um hier persönlich meine Rehabilitation zu betreiben. Leider mußte ihn ein plötzlicher Tod überraschen und ich bin vielleicht verloren, wenn ich in dem Richter Jarriquez nicht einen zweiten Ribeiro wiederfinde«

Der Beamte wollte, als er seine Person in's Spiel gezogen sah, ganz gegen die Gewohnheit ehrbarer Gerichtspersonen, fast in die Höhe springen; er gewann jedoch noch die nöthige Herrschaft über sich und murmelte nur:

»Das ist stark, in der That sehr stark!«

Der Richter Jarriquez hatte offenbar Knorpel im Herzen und war gegen jede Ueberraschung gefeit. Eben trat ein Wächter ein und lieferte ein versiegeltes Couvert auf den Tisch des Vorsitzenden ab. Dieser erbrach das Siegel und zog einen Brief daraus hervor. Er entfaltete diesen, durchlas ihn, wobei sich seine Augenbrauen merkwürdig zusammenzogen, und sagte endlich:[221]

»Ich habe keine Ursache, Joam Dacosta, Ihnen zu verheimlichen, daß mir hier eben jener Brief zur Hand gekommen ist, von dem Sie sprachen, und der wirklich an den Richter Ribeiro adressirt war. Was Ihre diesbezüglichen Aussagen betrifft, so fällt damit für mich jeder Grund weg, an deren Richtigkeit zu zweifeln.

– Ebenso wenig bezüglich dieser Thatsachen, fiel Joam Dacosta ein, wie bezüglich aller anderen Umstände und Vorgänge aus meinem Leben, die ich Ihnen mitgetheilt habe.

– Oho, nicht so schnell, Joam Dacosta, unterbrach ihn der Richter lebhafter, Sie betheuern natürlich Ihre Unschuld, das thun aber auch alle Angeklagten. Alles in Allem bringen Sie dafür jedoch nur moralische Beweise bei. Besitzen Sie keine greifbaren Beweise?

– Vielleicht doch, mein Herr, antwortete Joam Dacosta.«

Auf dieses Wort hin verließ der Richter Jarriquez seinen Sitz. Das war zu stark für ihn, und er mußte mehrere Male im Zimmer auf und abgehen, um sich genügend zu sammeln.

Quelle:
Jules Verne: Die Jangada. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XXXIX–XL, Wien, Pest, Leipzig 1883, S. 214-222.
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