Neuntes Capitel.
Weitere Versuche.

[252] Am nächsten Tage, am 27. August, vor Aufgang der Sonne, nahm Benito Manoel bei Seite und sagte:

»Unsere gestrigen Versuche erwiesen sich leider als erfolglos. Wenn wir sie heute in derselben Weise wiederholen, dürften wir vielleicht nicht glücklicher sein.

– Es wird aber nichts Anderes übrig bleiben, erwiderte Manoel.

– Freilich, antwortete Benito, im Falle wir Torres' Leiche aber nicht wiederfinden, kannst Du mir doch wohl sagen, wie lange es dauern möchte, bis er von selbst wieder nach der Oberfläche kommt.

– Wenn Torres, erklärte Manoel, lebend in's Wasser gefallen wäre und nicht erst nach gewaltsamem Tode, würde es wohl fünf bis sechs Tage dauern können. Da er offenbar erst versunken ist, als er schon todt, oder doch schon besinnungslos war, dürften zwei bis drei Tage genügen, bis der Körper wieder sichtbar wird.«

Diese, in der That ganz richtige Antwort Manoels erheischt eine kurze Erklärung.

Jeder menschliche Körper, der in's Wasser fällt, schwimmt eigentlich, wenn er nur in die Verhältnisse kommt, wo sich das Gleichgewicht zwischen der Dichtigkeit desselben und der des Wassers herstellen kann. Wohl zu merken, handelt[252] es sich um eine Person, welche nicht zu schwimmen versteht. Wenn eine solche mit dem ganzen Körper untertaucht und nur Nase und Mund über dem Wasser hält, so wird sie allemal schwimmen. Meist verhalten sich Menschen, welche unversehens in's Wasser geriethen, aber anders. Sie bemühen sich in jeder Art und Weise, möglichst weit daraus hervorzuragen, erheben den Kopf und die Arme, und sowie diese Theile nicht mehr vom Wasser getragen werden und dadurch ihr Gewicht ausgeglichen wird, sinkt dann der Körper, wenigstens vorübergehend, vollständig unter. Gelangt dann erst Wasser in den Mund und von da aus, unter Verdrängung der Luft, gar in die Lungen, so vermehrt sich das specifische Gewicht so sehr, daß der Körper auf den Grund hinabsinkt.

Wenn ein Mensch dagegen schon todt in's Wasser geräth, so befindet er sich in wesentlich anderen und zum Schwimmen weit günstigeren Bedingungen, da von den oben erwähnten Bewegungen natürlich keine Rede sein kann, und wenn er auch untersinkt, weil allmählich Wasser in die Lungen dringt, so ist das doch, nur in geringem Maße der Fall, da jede Athembewegung fehlt, und so erscheint der Körper auch schneller wieder auf der Oberfläche.

Manoel hatte also ganz recht, als er den Unter schied zwischen einem lebenden und einem todten in's Wasser fallenden Menschen betonte. Im ersteren Falle vergeht bis zum Wiedererscheinen auf der Oberfläche entschieden mehr Zeit als im zweiten.

Hat ein Körper nun mehr oder weniger lange Zeit völlig unter Wasser gelegen, so taucht er allein wieder auf durch die beginnende Zersetzung, in Folge welcher sich in ihm Gase entwickeln, die das Zellgewebe der Organe anschwellen machen; so wächst das Volumen desselben, ohne daß sein Gewicht zunimmt, und da er nun leichter wird, als die von ihm verdrängte Wassermasse, muß er natürlich nicht nur schwimmen, sondern auch in die Höhe steigen.

»Obwohl also alle Bedingungen günstig sind, fuhr Manoel fort, da Torres nicht mehr lebte, als er in den Fluß fiel, so kann er doch, selbst wenn die Zersetzung des Leichnams nicht durch irgend welche unbekannte Ursache verzögert wird, vor Ablauf dreier Tage nicht wieder sichtbar werden.

– Drei Tage sind aber nicht unser, antwortete Benito, Du weißt, daß wir nicht warten können. Wir müssen also neue Nachsuchungen beginnen, aber dabei anders zu Werke gehen.

– Was willst Du damit sagen? fragte Manoel.[253]

– Ich denke selbst auf den Grund des Flusses hinabzutauchen, erwiderte Benito, mit eigenen Augen, mit eigenen Händen zu suchen...

– Ja, ja, hundertmal, tausendmal hinabtauchen! rief Manoel; ich bin zwar ganz Deiner Meinung, daß wir directe Nachforschungen anstellen müssen und nicht mehr gleich Blinden mit Schleppnetzen und Bootshaken suchen dürfen; doch wenn wir tauchen, emporkommen und wieder hinuntergehen, so bleibt dabei nur sehr kurze Zeit für die eigentliche Nachsuchung übrig. Nein, das ist unzureichend, nutzlos, wir liefen dabei ein zweites Mal Gefahr, uns vergeblich zu bemühen, und müssen doch noch vor Verlauf dreier Tage ein positives Resultat erreicht haben.

– Bist Du im Stande ein wirksameres Mittel vorzuschlagen, Manoel? fragte Benito, der den Freund mit ängstlicher Erwartung anblickte.

– Nun, höre mich. Ein ganz zufälliger Umstand könnte uns sehr zu statten kommen.

– So sprich doch! Sprich!

– Als ich gestern durch Manao ging, bemerkte ich, daß man mit der Reparatur eines der Quais am Ufer des Rio Negro beschäftigt war. Die Arbeiten unter dem Wasser wurden da mit Hilfe eines Skaphanders ausgeführt. Nehmen, leihen, kaufen wir diesen Apparat um jeden Preis, so werden wir im Stande sein, unsere Nachforschungen unter den günstigsten Bedingungen wieder aufzunehmen.

– Rufe Araujo, Fragoso, die anderen Leute, und wir brechen unverzüglich auf!« gab Benito zur Antwort.

Der Pilot und der Barbier wurden von dem gefaßten Entschlusse und von Manoels Vorschlag in Kenntniß gesetzt. Man kam darin überein, daß Beide sich mit den Indianern und vier Booten nach dem Bassin von Frias begeben und dort die beiden jungen Männer erwarten sollten.

Manoel und Benito gingen sofort an's Land und begaben sich nach dem Quai von Manao. Daselbst boten sie dem Unternehmer der Uferarbeiten eine solche Summe, daß dieser ihnen seinen Taucherapparat ohne Zögern für den ganzen Tag zur Verfügung stellte.

»Wünschen Sie, daß Sie einer meiner Leute begleitet, fragte er der Ihnen helfen könnte?

– Geben Sie uns einen Werkführer und einige Mann zur Bedienung der Luftpumpe mit, antwortete Manoel.[254]

– Wer wird aber den Skaphander anziehen?

– Ich, erklärte Benito.

– Du, Benito! rief Manoel.

– Ich will es!«

Jeder Widerspruch schien hier überflüssig.

Eine Stunde später glitt das Floß mit der Pumpe und den nothwendigen Nebenapparaten längs des Ufers hinab nach der Stelle, wo die Boote der Jangada schon warteten.

Bekanntlich gestattet ein solcher Skaphander unter das Wasser hinabzutauchen und daselbst fast beliebig lange zu verweilen, ohne daß die Function der Lungen irgendwie gestört wird. Der Taucher bekleidet sich nämlich mit einer wasserdichten Kautschukhülle; unter den, mit den Beinkleidern gleich zusammenhängenden Stiefeln, wenn man so sagen darf, sind dicke Bleisohlen befestigt, welche inmitten der Flüssigkeit die verticale Körperstellung sichern. Am Halstheile dieses Universalrockes befindet sich ein Ring aus Kupfer, an dem eine metallene Kugel befestigt wird, deren Vorderseite eine Glasscheibe enthält. Diese Kugel umfaßt also des Tauchers Kopf, der sich darin unbehindert bewegen kann. Von letzterer aus gehen zwei Schläuche, deren einer zum Austritt der ausgeathmeten, für die Lungen also unbrauchbar gewordenen Luft dient, während der andere mit einer auf einem Floße angebrachten Pumpe in Verbindung steht, welche fortwährend neue, zur Athmung taugliche Luft in die Kugel hinabpreßt. Hat der Taucher nur an einer Stelle zu arbeiten, so bleibt das Floß natürlich stets über ihm; soll er auf dem Grunde aber hin und her gehen, so folgt das Floß seinen Bewegungen oder er denen des Floßes, je nachdem das vorher verabredet wurde.

Die jetzt mehrfach verbesserten Skaphander bieten nun auch weit weniger Gefahr als früher. Der im Wasser befindliche Mensch gewöhnt sich sehr leicht an den ungewohnten Druck der Flüssigkeit. Wenn in dem gegebenen Falle an irgend eine Gefahr zu denken war, so beschränkte sich diese höchstens auf das Zusammentreffen mit einem Kaiman in der Tiefe des Flusses.


Man ließ ihn hinabgleiten.
Man ließ ihn hinabgleiten.

Wie Araujo jedoch am vorhergehenden Tage bemerkt hatte, schienen sich hier ja keine jener schreck lichen Amphibien umherzutummeln, da diese, wie man weiß, die dunkleren Fluthen der Nebenflüsse des Amazonenstromes bevorzugen. Um auch gegen unerwartete Zwischenfälle gesichert zu sein, kann der Taucher an einem nach einer Klingel auf dem Floße führenden Seile ziehen, worauf er sofort emporgewunden wird.[255]

Benito bewahrte, nachdem der Beschluß einmal gefaßt war, seine gewohnte Ruhe, und bekleidete sich mit dem Skaphander; sein Kopf verschwand in der metallenen Hülle; in der Hand führte er eine Art Spieß, um die Gewächse und Alles, was sich etwa auf dem Grunde abgelagert haben konnte, durchsuchen zu können, und auf ein von ihm gegebenes Zeichen ließ man ihn langsam hinabgleiten.

Die an diese Arbeit gewöhnten Leute auf dem Floße setzten die Lustpumpe sofort in Gang, während vier Indianer von der Jangada den ganzen[256] Apparat unter Leitung Araujo's mit langen Stangen in der vorherbestimmten Richtung weiter schoben.

Die beiden Piroguen, in der einen Fragoso, in der anderen Manoel mit einigen Leuten, begleiteten das Floß und hielten sich jeden Augenblick bereit, schnell nach vorn oder nach rückwärts zu gleiten, sowie Benito, wenn er Torres' Leichnam wiederfand, diesen an die Oberfläche des Amazonenstromes brachte.
[257]

Ganze Schwärme von Fischen. (S. 259.)
Ganze Schwärme von Fischen. (S. 259.)

Quelle:
Jules Verne: Die Jangada. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XXXIX–XL, Wien, Pest, Leipzig 1883, S. 252-258.
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