[280] Von Tonga-Tabu aus steuert Standard-Island nun nach Nordwesten, auf die Fidschi-Inseln zu und entfernt sich mit der dem Aequator zustrebenden Sonne wieder mehr vom südlichen Wendekreise. Es braucht sich nicht zu beeilen.[280]
Jene Inselgruppe liegt nur zweihundert Meilen weit von hier, und der Commodore Simcoë läßt deshalb ein ganz mäßiges Tempo einhalten.
Der Wind wechselt zwar häufig, das bleibt aber für das schwimmende Bauwerk ohne Bedeutung. Selbst wenn hier zuweilen heftige Gewitterstürme losbrechen, denkt auf dem Juwel des Stillen Oceans niemand daran, sich deshalb zu beunruhigen. Alle die Atmosphäre sättigende Elektricität wird von den zahllosen Blitzableitern aufgesaugt, mit denen alle Gebäude ausgerüstet sind; Regenfälle, auch wenn sie sehr stark werden, sind ja am Ende nur willkommen.[281]
Der Park und das Feld leben unter den übrigens seltnen Douchen von neuem auf. Das Leben verläuft unter den glücklichsten Verhältnissen, unter Festen, Concerten und verschiednen Zerstreuungen. Zwischen den beiden Stadthälften sind die Beziehungen häufiger geworden und nichts scheint mehr die Sicherheit der Zukunft zu gefährden.
Cyrus Bikerstaff hat es nicht zu bereuen, auf Ersuchen des Kapitän Sarol den Neu-Hebridiern Ueberfahrt gewährt zu haben. Die Leute suchen sich überall nützlich zu machen. Sie beschäftigen sich mit Feldarbeiten, ganz wie auf Tonga-Tabu. Sarol und seine Malayen bleiben fast stets bei ihnen, und am Abend begeben sich diese nach den beiden Häfen, wo ihnen Unterkunft bereitet worden ist. Keine Klage erhebt sich gegen sie. Vielleicht bot sich hier Gelegenheit, sie zu bekehren. Bisher haben sie das Christenthum noch nicht angenommen, gegen das ein großer Theil der neuhebridischen Bevölkerung sich trotz aller Bemühungen katholischer und protestantischer Missionäre ablehnend verhalten hat. Die Geistlichkeit von Standard-Island hat wohl daran gedacht, der Gouverneur verweigerte dazu aber seine Erlaubniß.
Die im Alter von zwanzig bis vierzig Jahren stehenden Neu-Hebridier sind von mittlerer Größe. Etwas dunkler als die Malayen bilden sie zwar keinen so schönen Typus wie die Einwohner von Tonga oder Samoa, scheinen dafür aber weit ausdauernder als diese zu sein. Ihren geringen, bei den Maristen von Tonga-Tabu erworbnen Verdienst bewahren sie sorgsamst und denken gar nicht daran, das Geld für alkoholische Getränke zu vergeuden, die sie hier auch nur in ganz kleinen Mengen hätten erhalten können. Bei dem jetzigen, ganz kostenlosen Leben fühlten sie sich jedenfalls weit glücklicher, als je auf ihrem wilden Archipel.
Und doch sollen diese Eingebornen, Dank dem Kapitän Sarol, mit ihren Landsleuten von den Neuen Hebriden an dem Zerstörungswerke mithelfen, dessen Stunde immer mehr herannaht. Dann wird ihre ganze natürliche Wildheit zu Tage treten. Sie sind ja die Nachkommen jener Mordgesellen, die den Völkern dieses Theils des Großen Oceans einen so schlechten Ruf erworben haben.
Inzwischen leben die Milliardeser in der Ueberzeugung, daß nichts eine Existenz, für die alles so logisch vorgesehen, so weise geordnet ist, zu gefährden vermöge. Das Quartett erntet wie früher seine Erfolge. Niemand wird müde, ihm zuzuhören und zu applaudieren. Ohne von den regelmäßigen Concerten im Casino zu reden, veranstaltet Mrs. Coverley nicht selten sehr besuchte musikalische[282] Soiréen, die auch der König und die Königin von Malecarlien wiederholt mit ihrer Gegenwart beehren. Haben auch die Tankerdon's dem Hôtel in der Fünfzehnten Avenue noch keinen Besuch abgestattet, so gehört doch Walter Tankerdon am Concertabend hier zu den ständigen Gästen. Von seiner dereinstigen Vermählung mit Miß Dy spricht man daher schon in allen Salons und bezeichnet sogar bereits die zukünftigen Trauzeugen. Zwar fehlt noch die Einwilligung der beiderseitigen Familienhäupter, diese müssen bei der oder jener Gelegenheit aber doch dazu kommen, sich auszusprechen.
Diese so ungeduldig erwartete Gelegenheit sollte sich wirklich bald bieten, doch um den Preis welcher Gefahren und wie wurde dadurch die Sicherheit von Standard-Island bedroht!
Am Nachmittage des 16. Januar und etwa halbwegs zwischen den Tonga- und den Fidschi-Inseln wird ein Schiff im Südosten signalisiert. Es scheint auf den Steuerbordhafen zuzusteuern und ist ein Dampfer von etwa sieben- bis achthundert Tonnen. Eine Flagge führt das Schiff nicht und zeigt auch keine solche, als es bis auf eine Meile nahe herangekommen ist.
An seiner Bauart vermögen die Wachposten des Observatoriums seine Nationalität auch nicht zu erkennen. Da es das verabscheute Standard-Island mit keinem Salut begrüßt hat, ist es nicht unmöglich, daß es ein englischer Dampfer wäre.
Uebrigens scheint dieser doch nicht in einen der Häfen einlaufen, sondern an der Seite vorüberdampfen zu wollen, und voraussichtlich wird er dann bald wieder verschwunden sein.
Es folgt eine dunkle, mondlose Nacht, den Himmel bedecken hochziehende Wolken, die jeden Lichtschein verschlucken. Auf dem Wasser und in der Luft herrscht vollständige Ruhe und ringsumher eine lautlose Stille.
Gegen elf Uhr schlägt aber das Wetter um und wird mehr gewitterhaft. Nach Mitternacht zucken blendende Blitze über den Himmel und grollt der Donner, ohne daß jedoch ein Tropfen Regen fällt.
Vielleicht hat das einem noch entfernten Gewitter zugehörige Donnerrollen die mit der Wache an der Achterbatterie betrauten Beamten verhindert, ein eigenthümliches Gepfeife zu hören und ein seltsames Gebrüll, das in dieser Gegend des Ufers ertönt. Es rührt weder vom Zischen der Blitze, noch vom Grollen des Donners her. Diese Erscheinung, welcher Art sie auch sein mochte, währt übrigens nur von zwei bis drei Uhr morgens.[283]
Am nächsten Tage verbreitet sich in den äußersten Stadttheilen eine beunruhigende Neuigkeit. Die mit der Bewachung der auf dem Felde weidenden Herden beauftragten Leute fliehen plötzlich, von panischem Schrecken ergriffen, nach allen Richtungen, die einen nach den Häfen, die andern nach den Gitterthoren von Milliard-City.
Noch ernster erscheint es aber, daß in der Nacht gegen fünfzig Schafe halb aufgefressen worden sind, denn ihre blutigen Ueberreste liegen in der Nähe der Achterbatterie umher. Einige Dutzend Kühe, Kalben und Damhirsche in der Umzäunung des Parks hat dasselbe Loos getroffen...
Ohne Zweifel sind alle von Raubthieren überfallen worden. Doch von welchen? Von Löwen, Tigern, Panthern, Hyänen?... Ist das denkbar?... Auf Standard-Island hat es davon noch niemals auch nur ein einziges Exemplar gegeben. Sollten die Bestien durch das Meer hierher gekommen sein? Das Juwel des Stillen Oceans befindet sich doch nicht in der Nachbarschaft von Indien, Afrika und dem Malayen-Archipel, deren Fauna eine Menge verschiedner Raubthiere angehört.
Nein, Standard-Island liegt jetzt weder nahe der Mündung des Amazonenstroms, noch der Ausläufer des Nils, und doch sind gegen sieben Uhr morgens zwei Frauen, die sich nach dem Square des Stadthauses flüchteten, von einem ungeheuern Alligator verfolgt worden, der sich dann nach dem Serpentineflusse gewendet hat und in diesem verschwunden ist. Gleichzeitig verräth ein Rascheln im Gesträuch längs der Ufer, daß sich darin noch mehrere solche Saurier tummeln.
Die Wirkung dieser kaum glaublichen Nachrichten kann man sich wohl vorstellen. Eine Stunde später melden die Wachen, daß mehrere Paare von Tigern, Löwen und Panthern durch die Felder streifen. Verschiedne Schafe, die nach der Rammspornbatterie hin entflohen, werden von zwei mächtigen Tigern zerfleischt. Aus allen Richtungen laufen die von dem Geheul der Bestien erschreckten Hausthiere zusammen, und nicht minder die Leute, die ihre Beschäftigung schon frühzeitig nach den Feldern geführt hatte. Der erste Tramwagen nach dem Backbordhafen findet kaum Zeit, sich im Schuppen wieder zu bergen. Drei Löwen hatten ihn verfolgt, und es fehlten nur noch hundert Schritte, so würden sie ihn eingeholt haben.
Kein Zweifel, Standard-Island ist in der Nacht von einer ganzen Raubthierbande überfallen worden. Der Tanz- und Anstandslehrer, der gerade heute[284] zeitiger als gewöhnlich ausgegangen ist, wagt sich gar nicht mehr nach seiner Behausung zurück, sondern hat sich in das Casino geflüchtet, woraus ihn keine Macht der Erde zu vertreiben vermöchte.
»Ach, geht doch! Eure Löwen und Tiger sind Enten und Eure Alligatoren sind unschuldige Maifischchen!« ruft Pinchinat spottend.
Er mußte sich jedoch bald eines bessern belehren lassen. Vom Stadthause ist angeordnet worden, die Gitterthore der Stadt zu schließen und den Eingang zu den zwei Häfen und den Zollstätten des Ufers zu verrammeln. Gleichzeitig wird der Trambahnverkehr eingestellt und streng jedes Betreten des Parks und der Felder untersagt, ehe nicht die Gefahren dieses unerklärlichen Ueberfalles beseitigt sind.
Gerade als die Erste Avenue am Square des Observatoriums abgesperrt werden sollte, kam in kaum fünfzig Schritt Entfernung ein Tigerpaar mit glühendem Auge und blutigem Rachen dahergejagt. Nur noch wenige Secunden, und die wüthenden Thiere hätten das Gitterthor erreicht gehabt.
An der Seite des Stadthauses hat dieselbe Maßregel ausgeführt werden können, und Milliard-City hat hiernach für sich nichts mehr zu fürchten.
Das Ganze war einmal ein fetter Braten für das »Starboard-Chronicle« und den »New-Herald«, wie für die andern Journale Standard-Islands.
Das Entsetzen war jetzt auch auf dem Gipfelpunkte. Hôtels und Häuser sind verbarricadiert, in den Handelsvierteln alle Schaufenster geschlossen, alle Thüren verriegelt. An den Fenstern der obern Stockwerke zeigen sich erschreckte Gesichter. In den Straßen sieht man nichts mehr, als einzelne Rotten der unter dem Befehle des Colonels Stewart stehenden Miliz und Abtheilungen von Polizisten unter ihren Officieren.
Cyrus Bikerstaff und seine Adjuncten Barthelemy Ruge und Hubley Harcourt, die sofort zusammengetreten sind, bleiben gleich im Sitzungssaale in Permanenz. Durch die Telephone der beiden Häfen, der Batterien und der Uferwachposten empfangen sie die beunruhigendsten Nachrichten. Wilde Thiere hat man überall gesehen... mindestens Hunderte, sagen einige Telegramme – wo die Furcht wohl eine Null zuviel angehängt hat.... Eines steht aber fest: daß eine Anzahl Löwen, Tiger, Panther und Kaimans jetzt auf den Feldern hausen.
Was ist nun hier vorgegangen?... Hat sich eine Menagerie nach Zerbrechung der Käfige auf Standard-Is land geflüchtet?... Woher sollte die Menagerie gekommen sein?... Etwa von dem gestern beobachteten Dampfer?...[285]
Sollte dieser in der Nacht hier angelaufen sein?... Oder haben die Thiere, die sich durch Schwimmen retteten, an der abgeflachten Stelle der Mündung des Serpentineflusses ans Ufer gelangen können?... Ist jenes Fahrzeug vielleicht auf der Stelle versanken?... So weit man sehen kann und so weit das Fernrohr des Commodore Simcoë trägt, treiben keine Trümmer auf dem Meere, und Standard-Island liegt doch noch fast an derselben Stelle wie am Tage vorher!... Und wenn der Dampfer untergegangen war, hätte sich seine Mannschaft nicht nach Standard-Island retten können, da das doch den Raubthieren gelungen war?
Das Telephon des Stadthauses fragt hierüber bei den verschiednen Wachposten an und erhält die Antwort, daß von einer Collision oder einem Schiffbruche keine Rede sein könne. Das hätte, trotz der Dunkelheit, ihrer Aufmerksamkeit nicht entgehen können. Von allen Vermuthungen erscheint diese am wenigsten annehmbar.
»Ein Geheimniß... ein Geheimniß!«... ruft Yvernes wiederholt.
Seine Kameraden und er sitzen zusammen im Casino, wo Athanase Dorémus mit ihnen das Frühstück theilt und, wenn nöthig, auch zum zweiten Frühstück und zur Hauptmahlzeit um sechs Uhr abends dableiben wird.
»Meiner Treu, antwortet Pinchinat, von seinem Chocoladejournal naschend, laßt die Sache jetzt ruhen! Wir wollen zunächst essen, Herr Dorémus, in Erwartung, später selbst aufgefressen zu werden...
– Nun, wer weiß? fällt Sebastian Zorn ein. Doch ob von Löwen, Tigern oder von Cannibalen...
– Ich ziehe die Cannibalen vor! ruft Seine Hoheit. Jeder nach seinem Geschmack, nicht wahr?«
Der unverbesserliche Windbeutel lacht hell auf, dem Tanz- und Anstandslehrer ist es aber gar nicht wie lachen, und das vom Entsetzen gelähmte Milliard-City hat dazu gewiß auch keine Lust.
Um acht Uhr morgens ist der vom Gouverneur zusammengerufene Rath der Notabeln im Stadthause vereinigt. Die Straßen sind, abgesehen von den Milizen und Polizisten, öde und leer.
Die Versammlung beginnt sofort ihre Berathungen unter dem Vorsitze Cyrus Bikerstaff's.
»Meine Herren, sagt der Gouverneur, Sie kennen alle die Ursache des berechtigten panischen Schreckens, der sich der ganzen Bevölkerung von Standard-Island[286] bemächtigt hat. In vergangner Nacht ist unsre Insel von einer Rotte von Raubthieren und Sauriern überfallen worden. Uns drängt sich nun als vornehmste Pflicht die auf, jene Bande zu vernichten, und das wird uns ja auch gelingen. Unsre Mitbürger werden sich aber den Verordnungen fügen müssen, die wir schon erlassen zu müssen glaubten. Wenn der Verkehr innerhalb Milliard-Citys, dessen Thore geschlossen sind, noch gestattet sein mag, so liegt das doch anders bezüglich des Parks und der Feldmarken. Bis auf weiteres wird also jeder Verkehr zwischen der Stadt, den beiden Häfen und der Rammsporn-, sowie der Achterbatterie untersagt sein.«
Diese Verordnung wird gebilligt, und der Rath tritt nun in die Erörterung der Mittel ein, die eine baldige Ausrottung der gefährlichen Eindringlinge erhoffen lassen.
»Unsre Milizen und unsre Seeleute, fährt der Gouverneur fort, werden an verschiednen Stellen der Insel Treibjagden veranstalten. Die Herren unter uns, die früher Jäger waren, bitten wir, sich jenen anzuschließen, ihre Maßnahmen zu leiten, vor allem aber jeder Katastrophe vorzubeugen...
– Früher, so meldet sich Jem Tankerdon, hab' ich in Indien und Amerika der Jagd obgelegen, bin also über meinen Jungfernschuß hinaus. Ich bin bereit, und mein ältester Sohn wird mich begleiten...
– Unsern Dank dem ehrenwerthen M. Jem Tankerdon, antwortet Cyrus Bikerstaff, und ich für meinen Theil werd' es ihm nachthun. Zugleich mit den Milizen des Colonel Stewart wird eine Abtheilung Seeleute unter dem Commodore Simcoë vorgehen, und deren Reihen stehen Ihnen offen, meine Herren!«
Nat Coverley erbietet sich in gleicher Weise wie Jem Tankerdon und schließlich beeilen sich von den Notabeln alle die, denen das Alter dergleichen erlaubt, ihre Hilfe zuzusagen. An weittragenden Schnellfeuerwaffen ist in Milliard-City kein Mangel, und bei dem Muthe und der Opferwilligkeit aller ist zu hoffen, daß Standard-Island sehr bald von jenem gefährlichen Gezücht befreit sein werde. Doch kommt es, wie Cyrus Bikerstaff wiederholt, in erster Linie darauf an, kein Menschenleben aufs Spiel zu setzen.
»Was die Raubthiere betrifft, deren Zahl wir nicht abzuschätzen vermögen, so gilt es vor allem, sie in kürzester Frist zu vernichten. Ließen wir ihnen Zeit, sich einzugewöhnen oder gar zu vermehren, so wäre es um die Sicherheit auf der Insel für immer geschehen.[287]
– Wahrscheinlich, bemerkt einer der Notabeln, sind es der Bestien gar nicht so viele.
– So scheint es, denn sie können nur von einem Schiffe kommen, das eine Menagerie transportierte, antwortet der Gouverneur, ein Schiff, das für Rechnung eines Hamburger Hauses – denn diese befassen sich vor allem mit dem Raubthierhandel – vielleicht von Indien, den Philippinen oder den Sunda-Inseln her unterwegs war.«
In Hamburg ist in der That der Hauptmarkt für wilde Thiere, deren gewöhnlicher Preis zwölftausend Francs für Elephanten, siebenundzwanzigtausend für Giraffen, fünfundzwanzigtausend für Flußpferde, fünftausend für Löwen, viertausend für Tiger und zweitausend Francs für Jaguare beträgt... wie man sieht, recht anständige Preise, die sich noch zu steigern scheinen, während die für Schlangen herabgehen.
»Ich denke jedoch, sagt Cyrus Bikerstaff, daß wir von Boas, Riesen- und Klapperschlangen, von Najas, Vipern und andern der Art nichts zu fürchten haben; trotzdem müssen wir alles thun, um die Einwohnerschaft wieder zu beruhigen. Doch verlieren wir keine Zeit, meine Herren, und bevor wir nach der Ursache des Ueberfalles dieser Raubthiere forschen, wollen wir daran denken, sie auszurotten. Sie sind hier, dürfen aber nicht hier bleiben.«
Das war gewiß vernünftig und gut gesprochen. Die Notabeln wollten bereits auseinandergehen, um an den Treibjagden theilzunehmen, die unter Beihilfe der geübtesten Jäger von Standard-Island veranstaltet werden sollten, als Hubley Harcourt noch zu einer Bemerkung um's Wort bittet.
Das wird ihm gegeben, und der ehrenwerthe Adjunct richtet an die Versammlung folgende Worte:
»Meine Herren Notabeln, ich will die Ausführung der gefaßten Beschlüsse gewiß nicht verzögern, denn es drängt, die Verfolgung der Brut zu beginnen. Gestatten Sie mir indeß, Ihnen noch einen Gedanken mitzutheilen, der mir hierbei gekommen ist. Vielleicht bietet er eine annehmbare Erklärung für die Anwesenheit der Raubthiere auf Standard-Island.«
Hubley Harcourt, der Abkömmling einer alten französischen Familie von den Antillen, die durch den Aufenthalt in Luisiana amerikanisiert wurde, genießt in Milliard-City der höchsten Achtung. Ernsten und zurückhaltenden Geistes, urtheilt er in keiner Sache leichtsinnig, ist sparsam in Worten und hat seinen Ansichten dadurch weittragende Geltung gewonnen. Auch der Gouverneur ersucht ihn, sich auszusprechen, und er kommt dem in kurzen logischen Sätzen nach.[288]
»Meine Herren Notabeln, gestern Nachmittag ist ein Schiff in Sicht unsrer Insel gewesen, das seine Nationalität nicht zu erkennen gab und dazu auch alle Ursache hatte. Meiner Ansicht nach ist es ganz zweifellos, daß dieses Schiff eine Ladung an Raubthieren führte...
– Das liegt auf der Hand, bemerkte Nat Coverley dazu.
– Nun, meine Herren Notabeln, wenn jemand von Ihnen meint, daß jener Ueberfall Standard-Islands einem Seeunfalle zuzuschreiben wäre, so denke ich das entschieden nicht![289]
– Doch dann, ruft Jem Tankerdon, der in den Worten Hubley Harcourt's zwischen den Zeilen lesen zu können glaubt, dann läge hier böse Absicht und Ueberlegung vor.
– Oh! tönt es aus der Versammlung.
– Ich habe diese Ueberzeugung, versichert der Adjunct, und diese Frevelthat kann nur das Werk unsers Erzfeindes, jenes John Bull sein, dem gegen Stan dard-Island alle Mittel recht sind.
– Oh! wiederholt die Versammlung.
– In Ermangelung des Rechtes, die Zerstörung unsrer Insel zu verlangen, hat er sie unbewohnbar machen wollen. Daher diese Sammlung von Löwen, Jaguaren, Tigern, Panthern und Alligatoren, die uns der Dampfer nächtlicher Weile ans Land befördert hat.
– Oh!« klingt es zum drittenmale aus der Mitte der Notabeln.
Während dieses Oh! aber anfangs einen Zweifel ausdrückte, ist es jetzt ein Zeichen der Zustimmung. Ja, das muß ein Racheact der rücksichtslosen English sein, die vor nichts zurückschrecken, wenn es die Erhaltung ihrer Ueberlegenheit auf dem Meere angeht. Ja, jenes Schiff ist für das ehrlose Werk gechartert worden und nach Vollendung desselben sofort verschwunden. Die Regierung des Vereinigten Königreichs hat nicht gezaudert, einige Tausend Pfund Sterling zu opfern, um den Bewohnern von Standard-Island den Aufenthalt daselbst unmöglich zu machen.
Hubley Harcourt setzt noch hinzu:
»Wenn ich auf diese Anschauung gekommen bin, wenn der erste Verdacht sich mir zur Gewißheit verwandelte, meine Herren, so rührt das daher, daß ich mich eines ganz ähnlichen Vorfalls erinnerte, der sich unter fast analogen Umständen abspielte, und von dem sich die Engländer nie haben rein waschen können...
– Obgleich es ihnen an Wasser nicht fehlt! bemerkt einer der Notabeln.
– Seewasser taugt nicht zum Waschen! antwortet ein zweiter.
– So wenig wie das Meer hingereicht hätte, den Blutfleck von der Hand der Lady Macbeth zu entfernen!« ruft ein dritter.
Diese Zwischenreden fallen schon von den würdigen Räthen, ehe Houbley Harcourt ihnen noch die Thatsache, worauf er anspielte, mitgetheilt hat.
»Meine Herren Notabeln, nimmt er noch einmal das Wort, als die Engländer den Franzosen die französischen Antillen abtreten mußten, wollten sie eine[290] Spur ihrer Anwesenheit – und welche Spur! – hinterlassen. Bis dahin war auf Guadeloupe und auf Martinique keine einzige Schlange vorgekommen, nach dem Abzuge der Angelsachsen zeigte sich letztere Insel von solchen geradezu überschwemmt. Das war John Bull's Rache!
Vor dem Weggange hatte er Hunderte von Reptilien nach dem ihm entgehenden Stückchen Erde geschafft, und seitdem hat sich das giftige Gezücht dort, zum großen Nachtheil der französischen Colonisten, ganz erschreckend vermehrt.«
Diese niemals widerlegte Beschuldigung Englands macht die von Hubley Harcourt gegebene Erklärung sehr annehmbar. Ob es zu glauben ist, daß John Bull auch die Propeller-Insel unbewohnbar machen wollte, ist freilich nicht aufgeklärt worden, ebensowenig, ob das bezüglich der französischen Antillen der Fall gewesen war. Was jedoch Standard-Island betraf, konnte dessen Bevölkerung daran gar nicht mehr zweifeln.
»Nun denn, ruft Jem Tankerdon, wenn es auch den Franzosen nicht gelungen ist, Martinique von den Vipern zu säubern, die die Engländer an ihrer Statt hinterließen....
Donnernde Hurrahs und Hips bei dieser Vergleichung durch den sanguinischen Redner.
... die Milliardeser werden Standard-Island schon von den Bestien zu befreien wissen, die England ihm aufgehalst hat!«
Wiederholter donnernder Beifall, der sich nur legt, um auf's neue zu beginnen, als Jem Tankerdon hinzufügt:
»Auf unsern Posten also, meine Herren, und vergessen wir nicht, daß wir bei der Verfolgung der Löwen, Jaguare, Tiger und Kaimans auf die Engländer Jagd machen!«
Damit trennt sich die Versammlung.
Eine Stunde später, wo die Hauptzeitungen den stenographischen Bericht über die Sitzung veröffentlichen und man weiß, welche feindlichen Hände die Käfige der schwimmenden Menagerie geöffnet haben, als man erfährt, wem man diesen Einbruch einer Legion von wilden Thieren verdankt, da ringt sich ein Schrei der Entrüstung aus jeder Brust, und England wird verflucht in seinen Kindern und Kindeskindern, in Erwartung, daß sein verhaßter Name in der Erinnerung der Welt verlöscht.[291]
Buchempfehlung
Beate Heinold lebt seit dem Tode ihres Mannes allein mit ihrem Sohn Hugo in einer Villa am See und versucht, ihn vor möglichen erotischen Abenteuern abzuschirmen. Indes gibt sie selbst dem Werben des jungen Fritz, einem Schulfreund von Hugo, nach und verliert sich zwischen erotischen Wunschvorstellungen, Schuld- und Schamgefühlen.
64 Seiten, 5.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro