[254] Als man den immer noch besinnungslosen Halg auf sein Bett gelegt hatte, wechselte der Kaw-djer den Notverband und behandelte die Wunde nach allen Regeln der Kunst. Da zitterten die Lider des Verwundeten, seine Lippen öffneten sich ein wenig und ein leichter rosiger Lebensschimmer belebte die fahlen Wangen und nach wenigen schwachen Seufzern verfiel er aus der Bewußtlosigkeit der Ohnmacht in diejenige des Schlafes.
Ob die furchtbare Wunde jemals heilen konnte? Die menschliche Weisheit konnte es nicht sagen. Die Situation war jedenfalls sehr ernst, wenn auch nicht ganz verzweifelt; ganz unmöglich war es nicht, daß die tiefe Wunde der Lunge vernarbte.
Nachdem der Kaw-djer für Halg alles getan, was seine Erfahrung und Liebe für nötig erachtet hatte, verordnete er dem Kranken vollständige Ruhe und absolute Unbeweglichkeit und eilte nach Liberia hinüber, wo andere vielleicht seiner bedurften.
Das Unglück, das ihn so schmerzlich betroffen hatte, konnte ihn nicht einen Moment lang von seiner Pflicht abwendig machen, sein opferfreudiger Wille, sein Altruismus blieben derselbe. Obwohl er sein Herz zerrissen fühlte, vergaß er darob nicht der Toten und Verwundeten, welche nach Sirdeys Aussage in Liberia auf seine Hilfe rechneten. Würde er dort wirklich Verwundete finden – oder hatte Sirdey schändlich gelogen? Er war im Zweifel, darum wollte er sich mit eigenen Augen Gewißheit verschaffen.
Es war jetzt zehn Uhr abends geworden. Der Mond stand im ersten Viertel und neigte sich nach Westen seinem Untergange zu und vom finsteren östlichen Himmel fielen dichte Schatten auf die Erde herab. Aus der Finsternis hob sich ein rötlicher Lichtschein ab, Liberia schlief noch nicht.
Der Kaw-djer schritt rascher aus. Durch die schweigende Landschaft drang ein fernes Rauschen, erst leise, dann immer mehr anschwellend, je mehr er sich näherte.[254]
In zwanzig Minuten hatte er das Lager erreicht. Rasch ging er zwischen den dunklen Häusern hindurch, bis er auf dem freien Platze stand, der sich vor der Wohnung des Gouverneurs ausbreitete. Da fesselte ein fremdartiges und äußerst malerisches Schauspiel seine Blicke, so daß er wie gebannt stehen blieb.
Die sämtliche Bevölkerung Liberias schien sich auf diesem Platze ein Stelldichein gegeben zu haben. Ein Kreis von qualmenden Fackeln erleuchtete die Szene. Alle waren hier anzutreffen, Männer, Frauen und Kinder, welche in drei getrennten Gruppen dastanden. Die in bezug auf ihre Anzahl stärkste dieser Gruppen war dem Kaw-djer gerade gegenüber aufgestellt. Diese bestand aus sämtlichen Frauen und Kindern, verharrte stillschweigend auf ihrem Platze und schien nur aus Zuschauern für die beiden anderen Gruppen zu bestehen, deren eine in Schlachtstellung vor dem »Regierungsgebäude« aufgepflanzt war, als ob sie den Eingang verteidigen wollte, während die andere die gegenüberliegende Seite des Platzes behauptete.
Nein. Sirdey hatte doch nicht gelogen! Mitten auf dem Platze lagen wirklich sieben lang hingestreckte Körper. Verwundete oder Tote?
Aus der Entfernung konnte es der Kaw-djer nicht beurteilen, die beweglichen Flammen der Fackeln verliehen ihnen allen das Aussehen von Lebenden.
Nach ihrer Haltung war es unmöglich, die gegenseitige feindselige Stimmung der beiden letzten Gruppen in Zweifel zu ziehen. Und dennoch schien sich zwischen den beiden gegnerischen Parteien eine neutrale Zone auszubreiten, die keine von ihnen zu überschreiten wagte. Jene, welche allem Anschein nach die Rolle der Angreifer spielten, machten nicht Miene, den Kampf zu beginnen, und die Verteidiger Beauvals hatten auch noch keine Gelegenheit gehabt, ihren Mut zu beweisen. Der Kampf hatte noch nicht begonnen. Man verhandelte noch, aber nicht mit allzu sanften Worten. Über die Körper der Toten und Verwundeten hinüber hatten sich fieberhafte, laute Diskussionen entsponnen. Anstatt der Kugeln wechselte man spitze Worte, messerscharfe Reden, die sich manchmal zu ruhigen Beweisführungen herabmäßigten, aber manchmal auch in Beschimpfungen ausarteten.
Alles schwieg, als der Kaw-djer den Lichtkreis betrat. Ohne sich um seine Umgebung zu bekümmern, ging er geradewegs zu den Verwundeten[255] hin und untersuchte den ersten, es war ein Toter. Dann trat er zum zweiten, bis zum letzten, öffnete die Kleidungsstücke der Verwundeten und verband ihre Wunden vorläufig nur flüchtig. Sirdey hatte die Wahrheit gesprochen, es waren drei Tote und vier Verwundete.
Als seine Arbeit getan war, schaute der Kaw-djer um sich und konnte sich trotz seiner großen Herzenstrauer eines Lächelns nicht erwehren, als er sich von vielleicht tausend Gesichtern umgeben sah, welche ihn mit kindlicher und doch ehrfurchtsvoller Neugierde betrachteten. Die Fackelträger hatten sich genähert, um ihm zu seiner Untersuchung zu leuchten, die drei Gruppen hatten das Vorwärtsstreben nachgeahmt und sich in eine verschmolzen, deren Mittelpunkt er bildete; es herrschte vollständiges Schweigen.
Der Kaw-djer bat um Unterstützung. Niemand rührte sich. Da rief er diejenigen, welche er als Helfer wünschte, bei ihren Namen auf. Das hatte Erfolg. Der gerufene Emigrant verließ seinen Platz beim Aufruf seines Namens und paßte sich aufmerksam den Instruktionen an, die ihm der Kaw-djer gab.
In wenigen Augenblicken waren Tote und Verwundete aufgehoben und in ihre verschiedenen Wohnungen getragen, in Begleitung des Kaw-djer, dessen Aufgabe noch nicht gelöst war. Er mußte noch der Reihe nach die vier Verwundeten aufsuchen, die Extraktion der Projektile vornehmen und den bleibenden Verband anlegen, ehe er nach Neudorf zurückkehren konnte.
Während er diese Samariterdienste leistete, erkundigte er sich um die Ursache des stattgehabten Kampfes. Jetzt erst lernte er die neuerliche Agitation Doricks, die feindselige Stimmung der Bevölkerung gegen Beauval kennen und das Ableitungsmittel, das dieser erfunden hatte, indem er den Plünderungszug auf der Insel anriet. Die traurigen Folgen dieses Raubversuches hatte er ja soeben vor Augen.
Sie konnten gar nicht trauriger sein! Die Raubritter waren von den vier hinter ihren Palisaden wohlverwahrten Familien mit Flintenschüssen empfangen worden, mußten die Flucht ergreifen und brachten als alleinige Beute ihre getöteten und verwundeten Kameraden heim.
Siegesfreudig waren sie ausgezogen, lärmend, sich gegenseitig begeisternd, von wilder Zerstörungsfreude wie berauscht, begleitet von ermunternden Zurufen, rohen Scherzen, Verwünschungen und Drohungen gegen diejenigen, die man plündern wollte. – Kopfhängerisch, beschämt waren sie heimgekehrt, stumm, verbittert und finster; sie hatten sich bei dem Abenteuer keine Lorbeeren erworben.
Die wilde Erregung bei der Abreise hatte leise grollender Wut Platz gemacht, die nur auf einen Vorwand wartete, um sich Luft zu verschaffen.
Sie fühlten sich als Betrogene! Wer hatte sie getäuscht? – Sie wußten es nicht zu sagen. Jedenfalls schrieben sie nicht der eigenen Dummheit, ihren Illusionen die Schuld zu. Wie es schon so Brauch ist in der Welt, waren sie bereit, eher die ganze Welt anzuklagen, als einzusehen, daß sie allein die Schuldtragenden waren.
Sie kannten nach oft wiederholten Erfahrungen das Gefühl der Bitterkeit und Schande, das jedes Mißlingen eines Gewaltstreiches mit sich zu bringen pflegt.
Ehe sie auf die Insel Hoste geworfen wurden, hatten sie dem Proletariat der beiden Welten angehört und mehr als einmal hatten sie sich von zündenden Worten irgendeines volkstümlichen Redners betören lassen. Sie hatten sich an so manchem Streik beteiligt; die ersten Tage, so lange die Börsen noch gefüllt waren, war ihr Benehmen ein würdiges, ruhiges gewesen; aber der drohende Mangel zeitigt Ungeduld und fieberhafte Erregung, und wenn dann die Kinder vor den leeren Schüsseln sitzen und weinen, dann stellt sich die sinnlose Wut ein! Dann sieht man Blut, dann sammeln sich Banden, die Raub und Mord nicht scheuen... Manchmal bleiben sie Sieger, aber selten: meistens ziehen sie den Kürzeren, das heißt, sie verschlechtern nur ihre Lage, und wie niederdrückend war dann das Bewußtsein ihrer Schwäche, das ihnen nach jedem Scheitern eines Planes deutlich vor Augen trat, nachdem sie gehofft hatten, durch ihre Stärke zu siegen.
Nun, der nächtliche Rückzug durch die verwüsteten Felder glich ganz dem letzten Akte eines Streikes mit bösem Ausgang. Auch der Seelenzustand war der gleiche. Diese verblendeten Menschen fühlten sich enttäuscht, lächerlich gemacht, besiegt und ärgerten sich ob ihrer eigenen Dummheit.
Und wo steckten die Anführer? Dorick und Beauval?... Sie waren fort... Weit vom Spielplatz. Und so ist es immer und überall! Es gibt eben Füchse und – Schafe; Ausbeuter und – Ausgebeutete.
Jeder Streik mit blutigem Ausgang, jeder Aufruhr, jede Revolution hat ihr eigenes Ritual, das strikte eingehalten wird und das die Teilnehmer[259] genau kennen, weil sie es durch Übung erlernt haben. Es ist üblich, daß bei allen derartigen Bewegungen, wobei der Mensch vergißt, daß er ein denkendes Wesen ist und zu Gewaltakten und Mord seine Zuflucht nimmt, die unglücklichen Opfer als geheiligte Banner angesehen werden.
Und Banner waren auch diejenigen geworden, welche die Plünderer zurückgebracht hatten, darum hatte man sie auch vor die Augen Ferdinand Beauvals hin gelegt, welcher als Verkörperung der Macht für alle Unglücksfälle verantwortlich gemacht wurde. Aber dabei war ein Wortwechsel mit seinen Anhängern entstanden, man beschimpfte sich wechselseitig, zu Schlägereien war es noch nicht gekommen.
Die Stunde zu Handgreiflichkeiten war noch nicht da. Das Programm mußte eingehalten werden, alles in der richtigen Ordnung gehen. Nachdem genügend debattiert worden war und die Kehlen vom vielen Schreien müde waren, verschlief man die Sache; am nächsten Morgen wurden – stets unter genauer Beibehaltung des Rituals – die Opfer unter großer Feierlichkeit zu Grabe geleitet. Dann erst waren ernstliche Ausschreitungen zu befürchten.
Die Dazwischenkunft des Kaw-djer hatte den Gang der Ereignisse beschleunigt. Ihm war es zu danken, daß ein vorzeitiger Waffenstillstand eingetreten war und daß man sich erinnert hatte, daß es außer den Toten auch Verwundete gab, welche durch rasche Hilfe vielleicht am Leben zu erhalten waren.
Als der Kaw-djer nach Neudorf zurückkehrte und den Platz passierte, war er menschenleer. Die Volksseele zeichnet sich ja durch staunenswerte Beweglichkeit aus – ist »bald himmelhoch jauchzend – bald zum Tode betrübt«. – Jetzt war alles beruhigt, die Häuser geschlossen – man schlief.
Während des Heimweges überlegte der Kaw-djer das Vorgefallene. Über den Rangstreit Doricks und Beauvals hatte er nur die Achseln gezuckt, aber der Plünderungszug der Raubbanden im Inneren der Insel schien ihm ernsterer Betrachtung wert. Diese Erpressung, dieser Diebstahl, diese barbarische Handlungsweise waren ein böses Omen. Die Kolonie war verloren, wenn die Kolonisten in offener Feindschaft lebten, wenn es zum Kampfe kam.
Was wurde denn aus den Theorien, auf die dieser edelmütige Erleuchtete sein Leben aufgebaut hatte, wenn sie mit diesen Tatsachen in[260] Kontakt kamen? Das Ergebnis war da, klar, faßlich, unbestreitbar Sich selbst überlassen, hatten sich diese Menschen zum Leben unfähig gezeigt – und sie wären Hungers gestorben wie eine schwachköpfige Herde, die ihre Nahrung nicht zu finden weiß, wenn der Hirt sie ihr nicht gibt. Und was ihr moralisches Sein anbelangt, so hielt es mit ihrem praktischen Sinn gleichen Schritt. Der Überfluß, der Mangel, das Elend, die Sonnenhitze und die Winterkälte, alles hatte als Vorwand herhalten müssen, daß sich die unleugbaren Mängel der Seele entwickelt hatten Undankbarkeit und Egoismus, Mißbrauch der Kraft und Feigheit, Unmäßigkeit, Leichtsinn und Trägheit – diese Eigenschaften beherrschten die meisten dieser Menschen, in deren Interesse es gelegen wäre, wenn sie sich schon zu keinem höheren Beweggrund aufschwingen konnten, die vielen Köpfe in ein Walten zu vereinigen Jetzt stand man vor dem Schlußakt dieses beklagenswerten Unternehmens.
In achtzehn Monaten hatte sich das ganze Drama vom Anfang bis zum Ende abgespielt. Es war, als ob die Natur ihr Tun bedauert und ihren Irrtum eingesehen hätte, sie ließ die Menschen, welche sich selbst verlassen hatten, verderben Der Tod pochte ohne Unterbrechung an die Türen Heute verschwand dieser morgen ein anderer auf immer. Die Erde hatte sie wieder aufgenommen in ihren Schoß, wo alles sich verändert; und durch den ewigen Kreislauf der Dinge wurden vielleicht aus ihnen einst andere Wesen, wahrscheinlich und leider – ihnen ähnliche.
Jedenfalls arbeitete ihnen der Sensenmann immer noch nicht schnell genug, nachdem sie ihn tatkräftig durch ihrer Hände Werk unterstützten Dort, von wo der Kaw-djer herkam, lagen Verwundete und Tote; in seiner Nähe lag der Leichnam Sirks; in Neudorf lag mit durchbohrter Brust ein Mann – fast noch ein Kind, durch das sein enttäuschtes Herz wieder die Süßigkeit der Liebe kennen gelernt hatte. Überall Blut!
Bevor sich der Kaw-djer zur Ruhe begab, näherte er sich dem Lager Halgs. Die Situation hatte sich nicht geändert, war weder besser noch schlechter geworden. Es war immer noch ein plötzlicher Bluterguß zu befürchten und während mehrerer Tage war Halg in Lebensgefahr.
Infolge seiner großen Übermüdung erwachte der Kaw-djer erst spät am nächsten Morgen. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als er, nach einem Morgenbesuch bei Halg, dessen Zustand sich nicht verändert hatte, aus dem Hause schritt.[261]
Der Nebel hatte sich gehoben, ein schöner Tag beglückte die Insel. Der Kaw-djer war, wie täglich, auf dem Wege nach Liberia, wohin ihn seine Kranken zogen, deren Zahl sich aber seit dem Eintritt des Frühlings verringert hatte, jetzt kamen die vier Verwundeten von gestern dazu. Der Kaw-djer beschleunigte seine Schritte, um die verlorene Zeit einzubringen.
Aber er mußte vor einer Menschenwand haltmachen, die quer vor der Brücke aufgepflanzt war. Halg und Karroly ausgenommen, bestand sie aus der gesamten männlichen Bevölkerung Neudorfs. Es waren fünfzehn Männer, und zwar – merkwürdigerweise – fünfzehn mit Gewehren bewaffnete Männer, welche ihn zu erwarten schienen. Es waren keine Soldaten und doch hatte ihre Haltung einen militärischen Anstrich. Ruhig, ernst, standen sie da, mit geschulterter Waffe, als erwarteten sie die Befehle ihres Anführers.
Harry Rhodes, welcher einige Schritte vor ihnen stand, hielt den Kaw-djer auf. Dieser blieb stehen und musterte die kleine Gruppe mit erstaunten Blicken.
»Kaw-djer, sagte Harry Rhodes mit einer gewissen Feierlichkeit; schon seit langem beschwöre ich Sie, der unglücklichen Bevölkerung der Insel Hoste zu Hilfe zu kommen, dadurch, daß Sie sich an ihre Spitze stellen. Ich erneuere zum letzten Mal diese meine Bitte!«
Der Kaw-djer schloß die Augen, wie um besser in sein Inneres zu sehen, und Harry Rhodes fuhr fort:
»Die letzten Ereignisse haben Ihnen sicher zu denken gegeben. Wir haben auf alle Fälle einen Entschluß gefaßt. Deshalb haben Hartlepool, einige andere und ich diese fünfzehn Gewehre aus ihrem Versteck geholt und sie unter die Männer von Neudorf verteilt. Wir sind jetzt gut bewaffnet und haben infolgedessen die Macht in Händen, unseren Willen zur Durchführung zu bringen. Die Dinge sind jetzt derart auf die Spitze getrieben, daß jede weitere Geduld geradezu Verbrechen wäre. Wir müssen handeln. Ich weiß, was ich tue. Wenn Sie auf Ihrer Weigerung bestehen, stelle ich mich selbst an die Spitze dieser braven Leute. Leider habe ich weder Ihren Einfluß noch Ihre Autorität. Man wird mir nicht immer folgen und es wird wieder Blut fließen. Ihnen würde man ohne Murren gehorchen. Entscheiden Sie sich![262]
– Was gibt es denn schon wieder? fragte der Kaw-djer mit seiner gewöhnlichen Ruhe.
– Das gibt es,« antwortete Harry Rhodes, indem er mit der Hand das Haus bezeichnete, in dem Halg vielleicht jetzt mit dem Tode rang.
Der Kaw-djer zuckte zusammen.
»Und noch dies,« fügte Harry Rhodes hinzu und zog ihn einige Schritte stromaufwärts mit sich fort. –
Beide gingen den Abhang hinan, von dem aus an dieser Stelle das rechte Ufer zu überblicken war. Liberia und die sumpfige Ebene, welche trennend dazwischen lag, bot sich ihren Blicken.
Seit den ersten Morgenstunden war man im Lager auf den Beinen, man war in fieberhafter Erregung. Es handelte sich heute darum, das gestrige Tageswerk zum Abschluß zu bringen. Das feierliche Begräbnis der drei Toten wurde vorbereitet. Die Aussicht auf diese Zeremonie bewirkte den allgemeinen Aufruhr. Für die Kameraden der Erschossenen handelte es sich um eine Demonstration; für Beauval und seine Anhänger bedeutete die Feier eine Gefahr – für die übrigen war sie ein Schauspiel.
Mit Ausnahme Beauvals, welcher es für klüger erachtet hatte, zu Hause zu bleiben, folgte die gesamte Bevölkerung den drei Särgen. Man war darauf bedacht, den Leichenzug an dem Hause des Gouverneurs vorüberzuführen, man machte auf dem Platze halt; bei dieser Gelegenheit hielt Lewis Dorick eine aufregende Ansprache; dann erst zog man weiter.
Bei den offenen Gräbern nahm Dorick abermals das Wort und verdammte, zum hundertsten Male vielleicht, die schlechte Verwaltung der Kolonie. Nach ihm war in der Unvorsichtigkeit, Unfähigkeit, in den den Rückschritt erzielenden Maßnahmen des ersten Beamten der Grund für alle Unglücksfälle zu suchen, die die Kolonie betroffen hatten. Jetzt war der Moment gekommen, diese Strohpuppe abzusetzen und ein neues, tatkräftiges Staatsoberhaupt an seiner Stelle zu erwählen.
Dorick hatte einen fabelhaften Erfolg. Er wurde lebhaft akklamiert, von allen Seiten brüllte man Beifall. Erst wurden Rufe: »Hoch Dorick!« laut, dann heulte die Menge: »Zum Palast!... zum Palast!«... und die hundert Männer setzten sich in Bewegung und der Boden erzitterte von ihren schweren Tritten. Sie waren jetzt genügend erhitzt, ihre Augen glänzten, ihre geballten Fäuste hoben sich drohend gen Himmel. Ihr Mund stand[263] infolge der kontinuierlichen, haßerfüllten Ausrufe offen und war wie ein schwarzes Loch in den erregten Gesichtern zu sehen.
Bald beschleunigten sie die Schritte, eilten und rannten schließlich unter gegenseitigen Püffen und Stößen vorwärts, bis sie schließlich wie ein Wildbach einherstürzten.
Ein Hindernis hemmte ihren Lauf. Diejenigen, welche an den Machtbefugnissen teilnehmen durften, befürchteten einen Wechsel in der Regierung zu ihren Ungunsten und nahmen Partei für Beauval. Brust an Brust, Faust gegen Faust – so standen sich die beiden Parteien gegenüber und es fielen die ersten Schläge.
Aber die Partei Beauvals, die bedeutend schwächer war als die andere, mußte weichen. Schritt für Schritt, Meter für Meter wurde sie zurückgedrängt, bis sie dicht vor dem Regierungspalast standen. Auf dem Platze wurde der Kampf wieder aufgenommen. Lange blieb er unentschieden. Von Zeit zu Zeit zog sich ein kampfuntauglich gewordener Emigrant zurück und ließ sich erschöpft in irgendeinen Winkel fallen. Kiefer wurden zermalmt, Rippen eingedrückt und Beine gebrochen.
Je länger das Handgemenge dauerte, desto größer wurde die Aufregung. Es kam der Moment, wo die Messer aus den Scheiden gerissen wurden – und wieder floß Blut.
Nach einem heroischen Widerstand waren die Verteidiger Beauvals besiegt und die Angreifer, welche sich freie Bahn gebrochen hatten, stürzten in hastiger Unordnung in das Innere des Palastes. Mit wildem Triumphgeheul durchsuchten sie es von oben bis unten. Wenn sie Beauval gefunden hätten, wäre er sicher in Stücke zerrissen worden; zum Glück war er unmöglich zu entdecken, Beauval war verschwunden.
Als er sah, welche Wendung der Kampf nahm, hatte er alles im Stiche gelassen und war gerade recht zeitig entwichen. Jetzt floh er, so schnell ihn seine Beine trugen, in der Richtung nach Neudorf.
Die Vergeblichkeit ihres Suchens steigerte die Wut der Sieger zum höchsten Paroxysmus. Es gehört mit zur Natur der Menge, sowohl im Guten wie im Bösen jedes Maß zu vergessen.
Das lebende Opfer war ihnen entschlüpft, jetzt rächten sie sich an den leblosen Dingen. Das Haus Beauvals wurde gänzlich geplündert; seine wenigen Möbelstücke, seine Papiere, seine sonstige armselige Habe, alles[264] wurde aus den Fenstern geworfen und in einem Haufen gesammelt, den man dann anzündete. Wenige Minuten später – geschah es aus Achtlosigkeit, war es das Werk eines der Meuterer gewesen – stand der Palast selbst in Flammen.
Der Rauch verscheuchte die Eindringlinge; sie stürzten hinaus, aber das waren keine Menschen mehr! Das Geschrei, das Plündern, das Morden hatte ihnen den klaren Verstand benommen, sie waren wie berauscht, hatten weder Gedanken noch ein Ziel vor Augen. Nur ein unwiderstehlicher Drang zu schlagen, zu vernichten, zu morden beseelte sie.
Auf dem Platze standen die Frauen, die Kinder und die Gleichgültigen, die Maulaffen feilhielten, eine feile Menschengruppe ohne jegliches Ehrgefühl, die sich alles gefallen ließ. Sie formten die große Masse des Volkes, waren aber, trotz ihrer Anzahl, zu friedliebend, um jemals gefährlich zu werden. Der Anhang Lewis Doricks, welcher sich bedeutend verstärkt hatte durch das Zuströmen ehemaliger Gegner, welche es für vorteilhaft hielten, sich dem Stärkeren zuzugesellen, stürzte sich mit Faß- und Fauststößen auf diese unschädliche Gruppe.
Die Folge war eine wilde Flucht. Männer, Frauen und Kinder verstreuten sich über die Ebene, von einer Anzahl Emigranten verfolgt, welche sehr erstaunt gewesen wären, hätte man sie um den Grund ihrer Wut gefragt.
Von der Anhöhe aus, die er mit Harry Rhodes erklommen hatte, gewahrte der Kaw-djer, als er nach dem Lager blickte, zunächst nur eine Rauchwolke, deren schwere Flocken ins Meer sanken. Die Häuser verschwanden in dieser Wolke. Verworrenes Stimmengewirr drang herüber: Schreie, Flüche, Ausrufe des Schmerzes und der Todesangst. Ein einziges lebendes Wesen, ein Mensch, wurde in der Ebene über dem Flusse sichtbar. Er lief aus Leibeskräften, obwohl ihn niemand verfolgte. Ohne seinen Lauf zu verlangsamen, kam dieser Mensch über die Brücke, überschritt sie und ließ sich dann ganz atemlos hinter der bewaffneten kleinen Truppe zu Boden sinken. Jetzt erst erkannte man – Ferdinand Beauval.
Das alles sah der Kaw-djer. In seiner Einfachheit war das Bild doch so beredt, er verstand sofort den ganzen Zusammenhang: Beauval war mit Schimpf und Schande verjagt, zur Flacht gezwungen worden und die Meuterer brannten und mordeten in Liberia.[265]
Was bedeutete dies alles? Daß man sich Beauvals entledigt hatte, begriff er. Aber warum diese Zerstörung, deren Opfer die Plünderer selbst sein würden. Warum dieses Abschlachten, das sich durch ferne Schreie verriet, die von der wilden Raserei der Mörder erzählten.
Also so weit hatten es die Menschen gebracht. Nicht nur um kleinlicher Interessen willen wurden sie böse; wenn ein Grund fehlte, so waren sie es zum bloßen Vergnügen; sie schlugen – um zu schlagen; sie zerstörten – um zu zerstören; sie mordeten, weil es ihnen Freude machte, zu morden! Nicht nur die Bedürfnisse, die Leidenschaften und der Hochmut waren die Triebfedern des Hasses unter den Menschen; auch der Wahnsinn war darunter zu zählen. Jener Wahnsinn, der in der Masse zum Leben erwacht und der die Menschen nicht früher zur Vernunft kommen läßt, als bis sie ihre Mordlust und Zerstörungswut gesättigt haben. Und es ist derselbe Wahnsinn – Heroismus oder Räubertum, je nach der Gelegenheit – der den Banditen den friedlichen Wanderer erschlagen läßt; der Wahnsinn macht während einer Revolution aus Schuldigen und Unschuldigen eine gemeinsame Hekatombe; und es ist derselbe Wahnsinn, der Armeen begeistert und Schlachten gewinnen läßt.
Was wurde jetzt angesichts dieser neuen Tatsachen aus den Träumen des Kaw-djer? Wenn die Freiheit eines der natürlichen Güter des Menschen war, so konnte dies nur unter der Bedingung sein, daß sie eben Menschen bleiben mußten und sich nicht in reißende Tiere verwandeln durften wie diejenigen, deren Heldentaten er jetzt mitansehen mußte.
Der Kaw-djer hatte Harry Rhodes nicht geantwortet. Aufrecht und still stand er auf dem höchsten Punkte des Ufers da und betrachtete sich das Bild während einiger Minuten schweigend. Die schmerzlichen Überlegungen seines Inneren verriet sein undurchdringliches Äußere nicht.
Und doch war seine Seele von einem grausamen Zwiespalt zerrissen. Sollte er auch fernerhin vor den Tatsachen die Augen schließen und sich egoistisch und eigensinnig auf eine falsche Religion steifen, während diese unglücklichen Toren sich gegenseitig ermordeten, oder sollte er die Tatsachen anerkennen, der Vernunft gehorchen, Ordnung schaffen in diesen ungeregelten Zuständen und sie gegen ihren Willen retten? Fürchterliches Dilemma! Was sein gerader Menschenverstand ihm gebot, das war leider die Verneinung seines bisherigen Lebens.[266]
Es ist so schwer, sich und anderen einzugestehen, daß das im Herzen errichtete Idol zu seinen Füßen in Staub zerbröckelt; daß man von einem Gaukelspiel genarrt worden ist; daß man bisher auf Lügen aufgebaut hat; daß nichts von dem, das man für wahr gehalten hat, wahr ist und daß man sein Leben für eine Schimäre gelebt hat!
Plötzlich löste sich aus dem Rauch, der Liberia bedeckte, eine Gestalt los, ein Flüchtling, dann ein zweiter, dann zehn, hundert andere, meistens, Frauen und Kinder. Einige suchten nach den im Osten gelegenen Höhen zu entkommen, aber die größte Anzahl, der die Verfolger auf dem Fuße folgten, lief in Todesangst auf Neudorf zu. Die letzte unter den Fliehenden war eine Frau. Sie war ziemlich stark und konnte sich nur schwerfällig fortbewegen. Ein Mann erreichte sie in ein paar Sprüngen, packte sie bei den Haaren, warf sie zu Boden und erhob die Faust...
Der Kaw-djer drehte sich zu Harry Rhodes um und sagte sehr ernst:
»Ich nehme Ihren Vorschlag an.«
Ende des zweiten Teiles.[267]
Buchempfehlung
Anatol, ein »Hypochonder der Liebe«, diskutiert mit seinem Freund Max die Probleme mit seinen jeweiligen Liebschaften. Ist sie treu? Ist es wahre Liebe? Wer trägt Schuld an dem Scheitern? Max rät ihm zu einem Experiment unter Hypnose. »Anatols Größenwahn« ist eine später angehängte Schlußszene.
88 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro