Siebzehntes Capitel.
In welchem die Flinte Tartelett's wahrhafte Wunder bewirkt.

[149] Godfrey entfuhr aber noch ein Ausruf, der Tartelett in die Höhe fahren machte. Jetzt bestand kein Zweifel mehr, die Wilden mußten wissen, daß die Insel von menschlichen Wesen bewohnt war, da die Flagge, welche bis jetzt am Ende des Caps geweht hatte, nicht mehr in Schau am Mast der Flaggenspitze wehte.

Der Augenblick war also gekommen, den gefaßten Plan auszuführen, d. h. auszuziehen, um zu sehen, ob sich die Wilden noch auf der Insel befanden und was sie daselbst vornahmen.

»Vorwärts, sagte er zu seinem Gefährten.

– Fortgehen! Aber... erwiderte Tartelett

– Wollen Sie etwa lieber hier bleiben?

– Mit Ihnen, Godfrey?... Ja.

– Nein... allein!...

– Allein?... Niemals!...

– So kommen Sie!«

Da Tartelett einmal wußte, daß Godfrey nichts von seinem Entschlusse zurückbringen könnte, entschied er sich mitzugehen; allein im Will-Tree zurückzubleiben, hätte es ihm an Muth gefehlt.[149]

Bevor sie fortgingen, überzeugte sich Godfrey, daß ihre Waffen in Stand waren. Er lud die beiden Flinten mit Kugeln, übergab eine derselben dem Professor, dem diese Maschine ebensoviel Verlegenheit bereitete, als wäre er ein Bewohner der Pomotou-Inseln. Daneben mußte er an seinem Gürtel, an dem schon eine Tasche mit Patronen hing, noch ein Jagdmesser oder Seitengewehr befestigen.

Er hatte auch daran gedacht, seine Geige mitzunehmen – wahrscheinlich in der Meinung, daß die Wilden sehr entzückt sein könnten über sein Kring-Kring, dessen scharfen Ton kein anderer Virtuose zu erzeugen im Stande gewesen wäre.

Godfrey hatte alle Mühe, ihm diese ebenso lächerliche als unpraktische Idee auszureden.

Es mochte gegen sechs Uhr Morgens sein, die Gipfel der Sequoias glänzten in den ersten Sonnenstrahlen.

Godfrey öffnete vorsichtig die Thür, trat einen Schritt heraus und überblickte die Baumgruppe.

Alles still ringsum.

Die Thiere waren nach der Wiese zurückgekehrt. Man sah sie in der Entfernung von etwa einer Viertelmeile ruhig weiden. Nichts schien nur darauf hinzudeuten, daß sie belästigt worden wären.

Godfrey gab Tartelett ein Zeichen, zu ihm heraus zu kommen. Der Professor, der sich nach allen Seiten kampfbereit gemacht, folgte ihm, wenn auch mit einigem Zögern.

Dann schloß Godfrey die Thür wieder und überzeugte sich genau, ob dieselbe mit der Rinde der Sequoia unsichtbar verschmolz. Nachdem er noch ein Bündel Reisig an den Fuß des Baumes geworfen und dieses durch einige größere Steine beschwert hatte, begab er sich nach dem Flüßchen, dessen Ufer er, wenn es nöthig werden sollte, bis zur Ausmündung zu folgen gedachte.

Tartelett schwankte ihm nach, freilich nicht ohne vor jedem Schritte einen unruhigen Blick ringsumher schweifen zu lassen; die Furcht, allein zurückzubleiben, trieb ihn aber doch, seinen Gefährten nicht zu weit aus den Augen zu verlieren.

An dem Rande der Baumgruppe angelangt, stand Godfrey stille. Das Fernrohr aus dem Etui ziehend, überblickte er mit schärfster Aufmerksamkeit die ganze Strecke des Ufers, welches sich von der Flaggenspitze bis zur nordöstlichen Ecke der Insel ausdehnte.[150]

Kein lebendiges Wesen war zu sehen, keine Rauchsäule von einem Lager erhob sich in die Luft.

Die äußerste Spitze des Caps erwies sich ebenfalls leer, doch hier mußte man ohne Zweifel noch zahlreiche frische Fußspuren finden. Bezüglich des Mastes hatte sich Godfrey nicht getäuscht. Zwar erhob sich die Stange noch immer auf dem äußersten Felsstück des Vorberges, aber ohne das Flaggentuch. Offenbar hatten sich die Wilden, nachdem sie bis hieher gelangt waren, des rothen Stoffes bemächtigt, der ihre Begierde reizen mochte; dann waren sie nach ihrem Fahrzeug an der Ausmündung des Flusses zurückgekehrt.

Godfrey drehte sich um, um das ganze westliche Ufer zu überblicken.

Alles zeigte sich als öde Wüstenei von der Flaggenspitze bis jenseits des Umfangs der Dream-Bai.

Auch auf dem Meere war kein Fahrzeug sichtbar. Befanden sich die Wilden in ihrem Prao, so lag der Schluß nahe, daß sie unter dem Schutze der Felsen so nahe dem Ufer hinfuhren, daß sie von hier aus unsichtbar waren.

Godfrey konnte und wollte jedoch nicht in Ungewißheit bleiben. Es kam ihm vor Allem darauf an, zu wissen, ob der Prao die Insel schon wieder verlassen habe oder nicht.

Um sich hierüber zu unterrichten, wurde es nothwendig, die Stelle selbst aufzusuchen, wo die Wilden am vorhergehenden Tage gelandet waren, d. h. die Ausmündung des Flüßchens, die eine Art Meeresbucht bildete.

Er ging also sofort an die Ausführung.

Die von verschiedenen Baumgruppen umschatteten Ufer des kleinen Wasserlaufes waren auf eine Strecke von gegen zwei Meilen mit Buschwerk eingerahmt. Weiterhin, etwa fünf- bis sechshundert Yards bis zum Strande, lagen die Ufer frei.


Godfrey stand stille. (S. 150.)
Godfrey stand stille. (S. 150.)

Dieser glückliche Umstand erlaubte es, sich, ohne die Gefahr bemerkt zu werden, der Landungsstelle zu nähern. Freilich konnten ja auch die Wilden schon ein Stück an dem großen Bache hinausgezogen sein. Um dieser Möglichkeit zu entgehen, war es nothwendig, mit größter Vorsicht vorzudringen.

Godfrey glaubte jedoch, nicht ohne Grund, daß die von langer Ueberfahrt ermüdeten Wilden zu dieser frühen Morgenstunde den Landungsplatz noch nicht verlassen haben würden. Vielleicht schliefen sie noch, entweder in der Pirogue oder auf dem Strande. In diesem Falle wollte er sehen, ob es nicht vortheilhaft erscheine, sie zu überrumpeln.[151]

Er ging also ohne Zögern auf sein Ziel los; es galt hier, sich nicht zuvorkommen zu lassen. Unter derartigen Verhältnissen liegt der Vortheil meist auf Seiten des ersten Angriffs. Die schon geladenen Gewehre wurden also mit Zündhütchen versehen, die Revolver geprüft, und nun begannen Godfrey und Tartelett am linken Ufer des Wasserlaufes hinabzuschleichen.

In der Umgebung herrschte tiefe Stille, höchstens flatterte eine kleine Gesellschaft von Vögeln von einem Ufer zum andern, verfolgte sich spielend in den hohen Zweigen, schien aber keineswegs unruhig zu sein.[152]

Godfrey ging voraus, und der Leser wird glauben, daß sein Begleiter sich anstrengen mußte, in seine Fußstapfen zu treten. Von einem Baum zum andern gleitend, kamen sie dem Strande näher, ohne zu viel der Gefahr, bemerkt zu werden, ausgesetzt zu sein. Hier verbargen sie dichte Büsche vor der andern Seite, dort verschwand selbst ihr Kopf völlig unter dem hohen Gesträuch, dessen Bewegung freilich eher darauf schließen lassen mußte, daß hier ein Mensch hindurch schlich und kein Thier unter demselben hinkroch, doch trotzdem konnte sie immer der Pfeil von einem Bogen, der Stein einer Schleuder unvermuthet treffen. Es galt hier mißtrauisch zu sein.


Rund um das Feuer liefen die Wilden hin und her... (S. 156.)
Rund um das Feuer liefen die Wilden hin und her... (S. 156.)


[153] Trotz aller an ihn gerichteten Mahnungen stürzte Tartelett, der schon mehrmals über die Baumwurzeln gestolpert war, zwei- oder dreimal so geräuschvoll hin, daß es für sie gefährlich werden konnte. Godfrey fing schon fast an zu bedauern, daß er den ungeschickten Mann mitzugehen veranlaßt hatte. In Wahrheit konnte ihm der arme Teufel kaum von großem Nutzen sein.

Es wäre jedenfalls besser gewesen, ihn im Will-Tree einzuschließen, oder, wenn er dem nicht zugestimmt hätte, ihn irgendwo im Dickicht des Waldes zu verbergen, doch dazu war es nun zu spät.

Eine Stunde, nachdem sie die Mammuthgruppe verlassen, hatten Godfrey und sein Begleiter eine Meile Wegs zurückgelegt – nur eine Meile – denn das Fortkommen in dem hohen Grase und zwischen den oft verwirrten Gebüschen war kein leichtes gewesen. Weder der Eine noch der Andere hatte etwas Verdächtiges bemerkt.

An dieser Stelle fehlten die Bäume auf eine Strecke von mindestens hundert Yards, der Bach verlief zwischen nackten Ufern und das ganze Land lag mehr offen da.

Godfrey hielt an. Er überblickte zur Rechten wie zur Linken des Baches das ganze Wiesenland mit größter Sorgfalt.

Auch jetzt zeigte sich noch nichts Beunruhigendes, nichts was auf eine Annäherung der Wilden hinwies. Die Letzteren konnten ja nicht daran zweifeln, daß die Insel bewohnt war, und waren auf keinen Fall ohne alle Vorsicht in dieselbe eingedrungen; im Gegentheil, wahrscheinlich hatten sie beim Hinaufziehen längs des Flüßchens mit derselben Klugheit gehandelt wie Godfrey und Tartelett beim Hinabziehen an jenem. Es war also vorauszusetzen, daß jene, wenn sie sich in der Umgebung befanden, ebenso Deckung durch die Bäume und hohen Gesträuche suchen würden, wie sie selbst, denn überall wuchsen hohe Myrthen- und Mastixgebüsche, welche zu einem Hinterhalt wie geschaffen schienen.

Ein merkwürdiges und doch ganz natürliches Zusammentreffen. Je weiter Tartelett nun kam, ohne einen Feind gewahr zu werden, desto mehr verlor er alle Angst und fing an verächtlich von diesen »Cannibalen zum Lachen« zu scherzen. Godfrey dagegen schien immer ernster zu werden. Nachdem er die offene Stelle überschritten, verdoppelte er nur seine Vorsicht und hielt sich wieder unter dem Schutze der Bäume dicht am linken Ufer.

Eine weitere Stunde Wegs führte sie dann nach dem Punkte, von dem aus das Ufer nur noch mit dürftigem Gestrüpp bestanden war und das weniger dichte Gras schon auf die Nachbarschaft des Meeres hindeutete.[154]

Hier wurde es nun schwieriger, sich zu verbergen, ohne auf dem Boden ausgestreckt weiter zu kriechen.

Godfrey warf sich also platt nieder und gebot Tartelett seinem Beispiele zu folgen.

»Es gibt keine Wilden mehr! Es sind keine Menschenfresser mehr da! Sie sind davongefahren, sagte der Professor.

– Sie sind noch hier, erwiderte Godfrey mit gedämpfter Stimme. Dort unten müssen sie sein! Niederwerfen, Tartelett, niederwerfen! Machen Sie sich fertig, Feuer zu geben, aber schießen Sie nicht ohne meinen Befehl!«

Godfrey hatte diese Worte so im Tone natürlichen Uebergewichts ausgesprochen, daß der Professor, dem die Beine den Dienst zu versagen schienen, gar keiner Anstrengung bedurfte, um sich in der vorgeschriebenen Lage zu befinden.

Und er that wohl daran.

In der That hatte Godfrey alle Ursache gehabt, in jener Weise zu sprechen.

Von dem Platze aus, wo sich Beide befanden, konnte man weder die Küste, noch die Stelle sehen, an der das Flüßchen in's Meer ausmündete. Das kam daher, daß ein vorspringender Winkel des höheren Uferlandes die Aussicht in der Entfernung von hundert Schritten schroff abgrenzte; aber unterhalb dieses beschränkten, durch die Uferränder geschlossenen Horizontes stieg jetzt ein dichter Rauch senkrecht in die Luft.

Im Grase ausgestreckt, den Finger an der Krappe seines Gewehres, beobachtete Godfrey die Gegend vor sich.

»Sollte dieser Rauch, sagte er für sich, vielleicht von derselben Art wie der sein, den ich schon zweimal wahrgenommen habe? Sollte ich daraus schließen, daß die Wilden schon vorher im Norden und im Süden der Insel an's Land gegangen waren und daß jene Rauchsäulen von Feuern herrührten, welche sie entzündet hatten? Doch nein, das ist unmöglich! Ich habe ja niemals Asche, nie Spuren eines erloschenen Herdes, nie halbverbrannte Kohlen aufgefunden. O, dieses Mal werd' ich mir nicht im Unklaren bleiben!«

Und durch eine geschickte schlangenartige Bewegung, welche Tartelett bestmöglichst nachahmte, gelang es ihm, ohne mit dem Kopfe das Gras zu überragen, bis an die scharfe Biegung des Flüßchens zu kommen.

Von hier aus konnte sein Blick leicht über die ganze Uferpartie schweifen, durch welche der kleine Fluß sich in's Meer ergoß.[155]

Da wäre ihm beinahe ein Schrei entfahren!... Er legte die Hand flach auf die Schulter des Professors, um diesem jede Bewegung zu verbieten.... Es war unnütz weiter vorzudringen....

Godfrey sah nun vor Augen, was er zu erfahren gehofft hatte.

Ein großes auf dem Vorlande zwischen niedrigen Stämmen aufloderndes Feuer sandte seine Rauchwirbel zum Himmel empor. Rund um dasselbe liefen mehrere der am Vortage gelandeten Wilden hin und her und holten weiteres dürres Holz, von dem sie einen ganzen Haufen aufgestapelt hatten. Ihr Canot lag an einen schweren Stein gebunden in der Nähe und tanzte bei der ansteigenden Fluth auf den langen Wellen der leichten Brandung.

Godfrey konnte deutlich, ohne Mithilfe des Fernrohres, erkennen, was am Strande vorging. Er befand sich höchstens zweihundert Schritte von dem Feuer, dessen Knistern und Knacken er hören konnte. Er überzeugte sich auf den ersten Blick, daß ein Ueberfall von rückwärts nicht zu besorgen sei, daß alle Schwarzen, welche er noch im Prao gezählt, an dieser Stelle versammelt waren.

Zehn von den Zwölf beschäftigten sich, die Einen das Feuer zu unterhalten, die Anderen zwei Pfähle in die Erde zu rammen, in der deutlichen Absicht, die Unterlage für einen Bratspieß nach polynesischer Mode herzustellen. Ein Elfter, dem Anscheine nach der Führer, ging am Strande hin und her und ließ den Blick öfter nach dem Innern der Insel schweifen, als befürchte er von dorther einen Ueberfall.

Godfrey bemerkte auf den Schultern dieses Eingebornen sein rothes Flaggentuch, das nun einem Wilden als Flitterstaat diente.

Der zwölfte Wilde endlich lag, fest an einen Pfahl geschnürt, auf der Erde.

Godfrey begriff nur zu gut, welches Los diesem Unglücklichen bevorstehe. Der Bratspieß war errichtet, um ihn zu schmoren!... Tartelett hatte sich gestern also nicht getäuscht, als er, einer Ahnung folgend, diese Leute für Cannibalen ansah.

Man muß wohl zugeben, daß er sich auch nicht mehr getäuscht haben würde, wenn er gesagt hätte, daß alle wahren oder erfundenen Robinsoniaden von einander nur abgeklatscht seien. Unzweifelhaft befanden Godfrey und er sich jetzt ganz in der nämlichen Lage, wie der Held Daniels de Foë, als die Wilden an dessen Insel landeten; Beiden stand jetzt in Aussicht, einer ganz ähnlichen Scene von Cannibalismus beizuwohnen.

Nun, Godfrey war entschlossen, es jenem Helden gleichzuthun. Nein, er konnte den Gefangenen, auf den sich die Magen der Menschenfresser schon freuten,[156] nicht hinmorden lassen! Er war ja gut bewaffnet. Seine zwei Doppelflinten – mit vier Schüssen – seine beiden Revolver – mit zwölf Schüssen – mußten wohl unschwer mit jenen elf Schurken fertig werden, wel che zu verjagen vielleicht schon das Krachen eines Gewehrschusses hinreichen würde. Nachdem er sich hierüber klar geworden, wartete er höchst kaltblütig den geeigneten Augenblick ab, mit einem Donnerschlage zu interveniren.

Er sollte nicht lange zu harren haben.

Kaum waren zwanzig Minuten verstrichen, als der Häuptling an das Feuer herantrat. Dann wies er die Eingebornen, welche seiner Befehle warteten, durch eine Handbewegung auf den Gefesselten hin.

Godfrey erhob sich; Tartelett that, ohne zu wissen warum, desgleichen. Er durchschaute auch noch nicht, was sein Begleiter zu thun gewillt war, da dieser ihm von seinem Vorhaben nicht gesprochen hatte.

Godfrey meinte offenbar, daß die Wilden bei seinem Anblick irgend welche Bewegung machen würden, entweder um nach ihrem Fahrzeuge zu entfliehen oder sich auf ihn zu stürzen...

Doch es geschah nichts. Es schien sogar, als ob er gar nicht bemerkt worden sei; dagegen machte der Häuptling gerade jetzt eine sehr bezeichnende Geste... Drei der Männer begaben sich zu dem Gefangenen, banden ihn los und zwangen ihn, an die Seite des Feuers zu treten.

Es war noch ein junger Mann, der im Vorgefühl seiner letzten Stunde Widerstand zu leisten versuchte. Entschlossen sein Leben nur so theuer als möglich zu verkaufen, stieß er die ihn haltenden Eingebornen zurück, er wurde jedoch bald überwältigt, niedergedrückt, und der Häuptling, der eine Art Steinaxt ergriffen, kam auf den Unglücklichen zu, um ihm den Schädel zu zerschmettern.

Godfrey stieß einen Schrei aus, dem sofort ein Knall folgte. Eine Kugel pfiff durch die Luft und mußte den Häuptling tödtlich getroffen haben, denn dieser stürzte zu Boden.

Beim Krachen des Schusses erstarrten die Wilden vor Schreck, so, als hätten sie noch niemals einen Gewehrschuß vernommen. Beim Erblicken Godfreys ließen die Männer, welche den Gefangenen noch hielten, diesen sogleich frei.

In demselben Augenblick erhob sich der arme Teufel und lief nach der Stelle, wo er seinen unerwarteten Erretter erblickte, hin.

Da donnerte schon ein zweiter Schuß.[157]

Das war Tartelett, der, ohne zu zielen – o, der vortreffliche Mann hatte die Augen dabei ganz fest zugemacht – geschossen hatte, und der Kolben des Gewehres versetzte ihm dabei einen so kräftigen Schlag auf die rechte Wange, wie wohl noch niemals ein Lehrer des Tanz- und Anstands-Unterrichtes einen solchen erhalten hatte.

Doch – was nicht der Zufall vermag! – ein zweiter Wilder sank neben dem Häuptling zusammen.

Jetzt entstand eine kopflose Flucht. Vielleicht fürchteten die Ueberlebenden eine so große Zahl von Inselbewohnern sich gegenüber zu haben, daß sie denselben unmöglich widerstehen könnten; vielleicht waren sie auch nur unmäßig erschrocken über den Anblick dieser beiden Weißen, welche den Blitz aus der Tasche zu schleudern schienen. So rafften sie also die beiden Verwundeten auf, schleppten dieselben mit fort, stürzten sich in ihren Prao und handhabten die Pagaien mit aller Kraft, um aus der kleinen Bucht herauszukommen; dann entfalteten sie das Bambussegel, mit dem sie den Seewind abfingen, steuerten auf den Vorberg der Flaggenspitze zu und waren sehr bald hinter demselben verschwunden.

Godfrey kam es nicht in den Sinn, dieselben zu verfolgen. Weshalb hätte er auch noch mehrere tödten sollen? Er hatte ihr Schlachtopfer gerettet und sie in die Flucht gejagt, das war die Hauptsache. Alles das verlief in einer Art und Weise, daß die Cannibalen gewiß nicht wagen würden, nach der Insel Phina zurückzukehren. So hatte sich also Alles zum Besten gewendet. Sie hatten nur noch den Sieg zu feiern, an dem Tartelett sich natürlich einen großen Theil zuschrieb.

Der Gefangene war inzwischen zu seinem Retter herangekommen; einen Augenblick stand er zögernd still, in dem Gefühl der Furcht, welche diese übernatürlichen Wesen ihm einflößten; gleich darauf trat er näher heran. Vor den beiden Weißen angekommen, krümmte er sich bis zum Erdboden zusammen, dann ergriff er Godfreys Fuß und stellte ihn sich als Zeichen seiner Unterwürfigkeit auf den Kopf.

Man hätte fast glauben können, daß dieser Eingeborne Polynesiens ebenfalls den Robinson Crusoë gelesen hatte.[158]

Quelle:
Jules Verne: Die Schule der Robinsons. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XLI, Wien, Pest, Leipzig 1887, S. 149-159.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Schule der Robinsons
Die Schule der Robinsons / Von Rotterdam nach Kopenhagen
Jules Verne: Die Schule der Robinsons
Die Schule der Robinsons

Buchempfehlung

Wieland, Christoph Martin

Musarion. Ein Gedicht in drei Buechern

Musarion. Ein Gedicht in drei Buechern

Nachdem Musarion sich mit ihrem Freund Phanias gestrittet hat, flüchtet sich dieser in sinnenfeindliche Meditation und hängt zwei radikalen philosophischen Lehrern an. Musarion provoziert eine Diskussion zwischen den Philosophen, die in einer Prügelei mündet und Phanias erkennen lässt, dass die beiden »nicht ganz so weise als ihr System sind.«

52 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon