[243] Genau vor sieben Monaten hatte der Ballon seine Insassen nach der Insel Lincoln verschlagen. So oft diese auch während der verflossenen Zeit darnach geforscht, nie war ihnen ein menschliches Wesen begegnet. Keine Spur der Thätigkeit seiner Hände verrieth es, daß ein Mensch vor längerer oder kürzerer Zeit diesen Boden betreten habe. Die Insel schien nicht nur jetzt unbewohnt, sondern ließ auch glauben, daß es nie anders gewesen sei. Und nun fiel doch dies ganze wohlbegründete Gebäude von Schlußfolgerungen durch ein winziges, im Körper eines unschuldigen Nagethieres gefundenes Metallkörnchen zusammen!
Ohne Zweifel mußte dieses Schrotkorn von einer Feuerwaffe herrühren, und wer anderes, denn ein Mensch, sollte sich einer solchen bedient haben?
Als Pencroff das Bleikügelchen auf den Tisch gelegt hatte, betrachteten es seine Gefährten mit gerechter Verwunderung. Alle Consequenzen dieses trotz seiner Unscheinbarkeit hochwichtigen Ereignisses zogen an ihrem Geiste vorüber. Wahrlich, auch die Erscheinung eines übernatürlichen Wesens hätte keinen tieferen Eindruck auf sie machen können.
Cyrus Smith zögerte nicht, alle Hypothesen, zu denen dieses ebenso erstaunliche als unerwartete Ereigniß verleiten mußte, näher in's Auge zu fassen.[243]
Er nahm das Schrotkorn, drehte und wendete es, prüfte es zwischen Daumen und Zeigefinger und sagte:
»Sie sind sich also sicher, Pencroff, daß das von diesem Schrote verwundete Pecari kaum drei Monate alt war?
– Kaum so alt, Herr Cyrus, antwortete Pencroff; es saugte noch an dem Mutterschweine, als ich es fand.
– Gut, fuhr der Ingenieur fort, hierdurch ist demnach bewiesen, daß vor höchstens drei Monaten auf der Insel Lincoln ein Flintenschuß abgefeuert wurde.
– Und daß ein Schrotkorn, fügte Gedeon Spilett hinzu, dieses kleine Thier nicht tödtlich getroffen hat.
– Unzweifelhaft, bestätigte Cyrus Smith, und hieraus ist Folgendes zu schließen: Entweder war die Insel schon vor unserer Hierherkunft bewohnt, oder es landeten doch vor höchstens drei Monaten Menschen an derselben. Sind Jene nun freiwillig oder nicht hierher gelangt, durch eine beabsichtigte Landung oder durch einen Schiffbruch? Diese Frage wird erst später ihre Lösung finden können. Ob es Europäer oder Malayen, Freunde oder Feinde unserer Race gewesen, läßt sich jetzt ebenso wenig beurtheilen, wie wir wissen können, ob Jene noch hier verweilen oder die Insel wieder verließen. Doch berühren uns alle diese Fragen viel zu nahe, als daß wir darüber länger in Ungewißheit bleiben dürften.
– Nein! Hundertmal, Tausendmal nein! rief der Seemann, vom Tische aufstehend. Außer uns giebts keine Menschen auf der Insel Lincoln! Was Teufel! Das Stückchen Land ist selbst nicht groß, und wenn es bewohnt wäre, müßten wir schon einem der Ansiedler begegnet sein!
– Das Gegentheil wäre wirklich wunderbar, meinte Harbert.
– Ich dächte, es erschiene aber noch erstaunlicher, wenn das Pecari mit einem Schrotkorn im Leibe geboren wäre! bemerkte der Reporter.
– Mindestens, schalt Nab ganz im Ernste ein, wenn Pencroff dasselbe nicht etwa ...
– Aha, Freund Nab, fiel ihm Pencroff in's Wort, seit so und so viel Monaten hätte ich also ein Schrotkorn im Munde herumgetragen? Aber wo soll das gesteckt haben? fügte der Seemann hinzu, indem er den Mund weit öffnete und die zweiunddreißig tadellosen Zähne darin zeigte. Komm, Nab,[244] sieh genau nach, und wenn Du in dem Gebisse hier nur einen hohlen Zahn findest, erlaube ich Dir dafür ein halbes Dutzend herauszuziehen!
– Nab's Hypothese ist unzulässig, entschied Cyrus Smith, der trotz seiner sehr ernsten Gedanken ein Lächeln nicht unterdrücken konnte. Unzweifelhaft ist auf der Insel vor höchstens drei Monaten ein Gewehrschuß abgefeuert worden. Wahrscheinlicher dünkt es mir, daß diejenigen, welche unsere Küste anliefen, entweder vor nur kurzer Zeit hierher gekommen oder auch sofort wieder abgefahren sind, denn es konnte uns gelegentlich unseres Ueberblicks über die ganze Insel von dem Franklin-Gipfel aus gar nicht verborgen bleiben, wenn die Insel überhaupt noch andere Bewohner geborgen hätte. Weit mehr hat die Annahme für sich, daß Schiffbrüchige nur erst seit wenigen Wochen durch einen Sturm an irgend einen Punkt der Küste verschlagen worden sind. Doch, wie dem auch sei, jedenfalls müssen wir uns hierüber Gewißheit verschaffen.
– Aber dabei mit Vorsicht zu Werke gehen, fiel der Reporter ein.
– Das empfehle ich auch, stimmte ihm Cyrus Smith bei, denn leider ist am meisten zu befürchten, daß nur malayische Seeräuber hier an's Land gegangen sind.
– Wäre es dann nicht gerathen, Herr Cyrus, fragte der Seemann, bevor wir eine Nachforschung beginnen, ein Boot zu erbauen, um entweder den Fluß hinauf oder auch um die ganze Insel herum fahren zu können? Man soll sich nie unvorbereitet überraschen lassen.
– Eine recht glückliche Idee, Pencroff, wenn wir nur deren Ausführung abwarten könnten. Die Construction eines solchen Fahrzeugs erfordert aber mindestens einen Monat ...
– Ein wirkliches Boot, ja, unterbrach ihn der Seemann, wir brauchen jedoch kein eigentlich seetüchtiges Fahrzeug, und um die Mercy befahren zu können, verpflichte ich mich, eine entsprechende Pirogue in höchstens fünf Tagen fertig zu stellen.
– In fünf Tagen ein Schiff bauen? rief Nab ungläubig dazwischen.
– Gewiß, Nab, natürlich ein Schiff nach Indianermuster.
– Aus Holz? fragte Nab noch immer zweifelnd.
– Aus Holz, bejahte Pencroff, oder vielmehr aus Baumrinde. Ich wiederhole Ihnen, Herr Cyrus, daß die Sache binnen fünf Tagen abgethan sein kann.[245]
– In fünf Tagen? – Es sei! antwortete der Ingenieur.
– Doch bis dahin werden wir gut thun, streng auf der Huth zu sein, ermahnte Harbert.
– Sogar sehr streng, meine Freunde, sagte Cyrus Smith; deshalb bitte ich, auch die Jagdausflüge auf die nächsten Umgebungen des Granit-Hauses zu beschränken.«
Bei Tische ging es weniger lustig zu, als Pencroff erwartet hatte.
Die Insel war nach dem Vorhergehenden also jetzt oder früher von Anderen als unseren Colonisten bewohnt. Seit dem Vorfall mit dem Schrotkorn stand das unbestreitbar fest; auch konnte eine derartige Entdeckung für unsere Colonisten nur eine Quelle gerechtfertigter Unruhe sein.
Lange Zeit, bevor sie sich niederlegten, besprachen Cyrus Smith und Gedeon Spilett dieses Thema. Sie fragten sich, ob jener Fund nicht zufällig auch mit der bis jetzt unaufgeklärten Art und Weise der Rettung des Ingenieurs in innerem Zusammenhange stehe, ebenso wie einige andere Eigenthümlichkeiten, die ihnen wiederholt aufgestoßen waren. Nach Beleuchtung des Für und Wider dieser Frage sagte Cyrus Smith:
»Wollen Sie meine Ansicht über die ganze Angelegenheit hören, lieber Spilett?
– Ja, Cyrus.
– Nun, ich sage Ihnen: Wir mögen die Insel noch so genau durchsuchen, wir finden doch Nichts!«
Gleich am folgenden Tage ging Pencroff an's Werk. Es handelte sich hier ja nicht um die Construction eines Fahrhzeugs mit Rippenwerk und Plankenwänden, sondern einfach um einen schwimmenden, flachbodigen Apparat, der zur Befahrung der Mercy, vorzüglich auch in der Nähe ihrer Quellen, wo sie voraussichtlich nur eine sehr geringe Wassertiefe hatte, ganz besonders geeignet sein mußte. Aus passend an einander befestigten Rindenstücken sollte das ganze leichte Fahrzeug bestehen, so daß es beim Entgegentreten natürlicher Hindernisse nicht schwer und unbequem zu tragen wäre. Die einzelnen Theile wollte Pencroff durch vernietete Nägel verbinden, durch deren zusammenziehende Kraft er den ganzen Apparat wasserdicht genug zu machen hoffte.
Nun galt es zunächst solche Bäume auszuwählen, deren biegsame und dabei zähe Rinde zu obigem Zwecke geeignet erschiene. Die vorhergegangenen[246] Stürme hatten gerade eine Menge Douglas umgeworfen, die zu dem beabsichtigten Werke ganz passend waren. Ihre auf dem Boden liegenden Stämme durfte man also nur abrinden, eine Arbeit, welche freilich durch die unvollkommenen Werkzeuge unserer Colonisten nur schwierig von Statten ging. Indeß, man kam zum Ziele.
Während sich der Seemann, unterstützt vom Ingenieur, hiermit eifrig beschäftigte, blieben auch Gedeon Spilett und Harbert nicht müßig. Sie bildeten die Lieferanten der Ansiedelung. Der Reporter konnte die wunderbare Geschicklichkeit des jungen Mannes in der Handhabung des Bogens und des Wurfspießes gar nicht genug loben. Bei gleich großer Kühnheit entwickelte Harbert ebenso jene Kaltblütigkeit, die mit Recht »die Vernunft des Muthes« zu nennen ist. Uebrigens erinnerten sich die beiden Jagdgenossen immer der Warnung des Ingenieurs und streiften in der Umgebung des Granithauses nicht über zwei Meilen hinaus, vorzüglich auch, da die nahe gelegenen bewaldeten Abhänge eine hinreichende Beute an Agoutis, Wasserschweinen, Kängurus, Pecaris (Bisamschweine) u.s.w. lieferten, und wenn der Ertrag der Fallen jetzt nach Eintritt milderer Witterung geringer ausfiel, so bot dafür das Kaninchengehege so viel, daß es die ganze Colonie der Insel Lincoln allein ernähren konnte.
Während dieser Jagden plauderte Harbert nicht selten mit Gedeon Spilett über den Vorfall mit jenem Schrotkörnchen, über die Schlüsse, welche der Ingenieur daraus gezogen, und eines Tags – es war am 26. October – äußerte er:
»Aber finden Sie es nicht sehr auffallend, Herr Spilett, daß etwaige Schiffbrüchige, welche an unsere Insel geworfen sein sollen, sich noch nicht in der Nähe des Granithauses gezeigt hätten?
– Sehr auffallend, erwiderte der Reporter, wenn sie noch da, sehr erklärlich, wenn sie schon längst wieder fort sind.
– Sie glauben demnach, daß jene Leute die Insel schon wieder verlassen haben?
– Das ist das Wahrscheinlichste, mein Sohn, denn bei längerem Aufenthalte derselben, und vorzüglich, wenn sie bis jetzt noch hier wären, hätte uns doch irgend ein Zufall ihre Anwesenheit verrathen müssen.
– Doch wenn sie wieder absegeln konnten, bemerkte der junge Mann, konnten es nicht eigentlich Schiffbrüchige sein.
– Nein, Harbert, mindestens nicht im strengen Sinne des Wortes; ich würde sie nur zeitweilige Schiffbrüchige nennen. Es ist sehr möglich, daß sie[247] ein Sturm an die Insel verschlagen hatte, ohne ihr Fahrzeug ernstlicher zu beschädigen, und daß sie bei ruhigerem Wetter wieder in See gehen konnten.
– Ich kann immer nicht vergessen, sagte Harbert, daß Herr Cyrus die Anwesenheit anderer menschlicher Wesen stets mehr fürchtete, als herbeiwünschte.[248]
– Ja wohl, antwortete der Reporter, denn er hat dabei nur Malayen im Auge, die diese Meere unsicher machen, und diese Burschen sind allerdings durchtriebene Spitzbuben, denen man besser aus dem Wege geht.
– Doch ist es nicht möglich, fuhr Harbert fort, daß wir heut' oder morgen noch Spuren ihrer Ausschiffung entdecken, um hieraus einige Aufklärung zu schöpfen?
– Das bestreite ich nicht, mein Sohn. Eine verlassene Lagerstatt, ein[249] erloschenes Feuer könnte uns wohl als Fingerzeig dienen, und darauf wird bei unserem bevorstehenden Ausfluge auch sorgsam zu achten sein.«
Als die beiden Jäger also sprachen, befanden sie sich in einem nahe der Mercy gelegenen Walde, der sich durch seine besonders schönen Bäume auszeichnete. Unter anderen stiegen daselbst einige jener prächtigen Coniferen, denen die Eingeborenen Neu-Seelands den Namen »Kauris« gegeben, wohl an zweihundert Fuß hoch empor.
»Da fällt mir Etwas ein, Herr Spilett, begann Harbert wieder. Wenn ich den Gipfel eines dieser Kauris erkletterte, könnte ich wohl einen weiten Umkreis des Landes übersehen.
– Das wohl, antwortete der Reporter; aber wirst Du denn im Stande sein, einen solchen Riesen ganz zu ersteigen?
– Versucht wird es«, antwortete Harbert.
Schnell und gewandt schwang sich der junge Mann auf die untersten Aeste, deren Anordnung die Besteigung des Kauris wesentlich erleichterte, und schon nach wenigen Minuten erreichte er dessen Gipfel, der das grüne Blätterdach des umgebenden Waldes ansehnlich überragte.
Von diesem hohen Standpunkte aus breitete sich vor dem Blicke der ganze südliche Theil der Insel, vom Krallen-Cap im Südosten bis zum Schlangen-Vorgebirge im Südwesten, aus. Im Nordosten erhob sich der Franklin-Berg, der gut ein Viertheil des Horizontes bedeckte.
Harbert vermochte jedoch von seinem hochliegenden Beobachtungsorte aus den ganzen bis dahin unbekannten Theil der Insel zu übersehen, der etwa Fremden, über deren Anwesenheit man im Zweifel war, eine Zuflucht gewähren oder gewährt haben konnte. Der junge Mann spähte mit gespanntester Aufmerksamkeit umher. Auf dem Meere zunächst war Nichts zu sehen, kein Segel, weder am Horizonte, noch nahe der Küste Bei dem das Gestade bedeckenden Baumdickicht blieb immerhin die Möglichkeit vorhanden, daß ein vielleicht entmastetes Schiff ganz nahe an der Küste lag und sich dadurch Harbert's Blicken entzog. Nach den Wäldern des fernen Westens sah er sich ebenso vergeblich um. Die Baumkronen bildeten dort ein mehrere Quadratmeilen großes, undurchdringliches, grünes Gewölbe, ohne Lichtungen oder Blößen. Ebenso war es unmöglich, den Lauf der Mercy bis zu ihren Quellen an dem Berge zu verfolgen. Auch ob andere Wasseradern etwa nach Westen strömten, ließ sich von hier aus nicht entscheiden.[250]
Wenn Harbert so jedes directe Zeichen eines Lagers fehlte, konnte er nicht vielleicht eine Rauchsäule aufsteigen sehen, welche die Anwesenheit von Menschen verrathen müßte? Die Luft war so klar, daß auch der schwächste Rauch sich deutlich vom blauen Himmel abgehoben hätte.
Einen Augenblick glaubte Harbert wohl im Westen einen seinen Rauch emporwirbeln zu sehen, eine genauere Betrachtung überzeugte ihn aber, daß er sich getäuscht habe. Er lugte hinaus, so scharf er konnte, und sein Gesicht war vortrefflich ... Nein, es war entschieden Nichts zu sehen.
Harbert klomm den Kauri wieder hinab, und beide Jäger kehrten nach dem Granithause zurück. Cyrus Smith hörte den Bericht des jungen Mannes an und schüttelte den Kopf, ohne ein Wort zu erwidern. Offenbar war ja die ganze Frage auch vor einer sorgfältigen Durchforschung der ganzen Insel gar nicht spruchreif.
Zwei Tage darauf – am 28. October – trug sich ein anderer Vorfall zu, dessen Erklärung ebenfalls so Manches zu wünschen übrig ließ.
Als Nab und Harbert nämlich ganz von ungefähr etwa zwei Meilen vom Granithause auf dem Strande umherstreiften, glückte es ihnen, ein prächtiges Exemplar einer Wasserschildkröte zu fangen. Es war das eine Riesenschildkröte aus der Mydas-Familie, deren Rückenschild in herrlichen, grünen Reflexen schimmerte.
Harbert bemerkte zuerst das Thier, als es zwischen Felsstücken nach dem Meere zu kroch.
»Hierher, Nab! rief er. Her zu mir!«
Nab lief eilends herbei.
»Ein schönes Thier, sagte Nab, aber wie sollen wir uns seiner versichern?
– Nichts leichter als das, Nab, antwortete Harbert. Wir brauchen die Schildkröte nur auf den Rücken zu wenden, so vermag sie nicht mehr zu entfliehen. Nehmt Euren Spieß und macht es wie ich.«
Das Reptil hatte sich in Vorahnung der Gefahr ganz zwischen Rücken- und Brustschild zurückgezogen. Weder Kopf noch Füße desselben waren sichtbar, und so lag es unbeweglich, wie ein Felsstück.
Harbert und Nab brachten ihre Stöcke unter das Brustbein des Thieres, und mit vereinten Kräften, doch nicht ohne Mühe, gelang es ihnen, dasselbe auf den Rücken zu legen. Die Schildkröte mochte bei drei Fuß Länge wohl an vierhundert Pfund wiegen.[251]
»Schön, jubelte Harbert; das wird eine Freude für Pencroff sein!«
Wirklich mußte Freund Pencroff gewiß ebenso darüber jubeln, denn das Fleisch dieser Schildkröten, die sich von Seegräsern nähren, ist ein anerkannter Leckerbissen. Eben ließ die Gefangene ihren kleinen, abgeplatteten, doch nach hinten stark verbreiterten Kopf mit seiner Knochenschale sehen.
»Was fangen wir aber nun mit diesem seltenen Stück Wild an? fragte Nab. Wir können es doch nicht bis zum Granithause nachschleifen?
– Wir lassen es einfach zurück, da es sich nicht wieder umdrehen kann, und holen es später mit dem Wagen ab.
– Einverstanden.«
Harbert gebrauchte übrigens, was Nab nun für überflüssig erklärte, die Vorsicht, das Thier noch mit einigen großen Strandsteinen zu belasten. Nachher kehrten die beiden Jäger längs des flachen Ufers, das bei der Ebbe jetzt frei lag, nach dem Granithause zu rück. Harbert, der Pencroff zu überraschen gedachte, erwähnte vorläufig von »dem prächtigen Exemplar einer Wasserschildkröte«, die er auf dem Sande umgewendet hatte, Nichts, doch kehrte er zwei Stunden später mit Nab nach der Stelle, wo sie jene zurückgelassen, unter Mitnahme des Wagens zurück. Das »herrliche Exemplar einer Wasserschildkröte« war aber nicht mehr vorhanden.
Nab und Harbert sahen erstaunt erst sich selbst und dann ihre nächste Umgebung an. Gewiß hatten sie an derselben Stelle die Schildkröte liegen lassen. Der junge Mann glaubte sogar die Steine wieder zu finden, die er zur Belastung des Thieres benutzte, und konnte sich über die Oertlichkeit folglich nicht täuschen.
»Aha, sagte Nab, also diese Burschen können sich doch umwenden?
– Es scheint so, antwortete Harbert kleinlaut, der sich das zwar nicht erklären konnte und doch jene Steine umherliegen sah.
– Nun, damit wird Pencroff nicht sehr zufrieden sein.
– Und Herr Smith vielleicht in Verlegenheit kommen, dieses Verschwinden zu erklären.
– Gut, schlug Nab vor, der den Mißerfolg lieber verheimlichen wollte, so übergehen wir die Sache mit Stillschweigen.
– Im Gegentheil, entgegnete Harbert, wir müssen davon Mittheilung machen.«[252]
Beide zogen nun den vergeblich herbei geholten Wagen nach dem Granithause wieder zurück.
Am Zimmerplatze, wo der Seemann und der Ingenieur rüstig arbeiteten, angelangt, erzählte Harbert den Vorfall.
»O, Ihr Jagdstümper, polterte der Seemann, sich wenigstens fünfzig Gerichte Suppe davon laufen zu lassen!
– Aber, Pencroff, fiel Nab ein, unser Fehler ist es nicht, daß das Schalthier entwischt ist, denn ich versichere Dir, wir hatten es auf den Rücken gelegt.
– Dann wahrscheinlich nicht genug, erwiderte scherzend der unüberzeugbare Seemann.
– Haha, nicht genug! lachte Harbert und setzte hinzu, daß er sogar Sorge getragen habe, die Schildkröte noch durch Steine zu belasten.
– So ist also ein Wunder geschehen! erklärte Pencroff.
– Ich glaubte immer, Herr Cyrus, sagte Harbert, daß die einmal auf den Rücken gelegten Schildkröten nicht im Stande seien, wieder auf die Füße zu kommen, und vor Allem die größeren Arten dieser Thiere?
– Das ist auch richtig, mein Kind, antwortete Cyrus Smith.
– Wie war es dann aber möglich ...
– Wie weit vom Meere entfernt hattet ihr das Thier wohl liegen lassen? fragte der Ingenieur, der seine Arbeit ruhen ließ, um den eigenthümlichen Vorfall aufzuklären.
– Höchstens fünfzehn Fuß weit, antwortete Harbert.
– Und gerade bei niedrigem Wasser?
– Ja, Herr Cyrus.
– Da haben wir's ja, sagte der Ingenieur. Was der Schildkröte auf dem Sande unmöglich war, konnte ihr im Wasser recht wohl gelingen. Sie wird sich bei steigender Fluth wieder gewendet und das offene Meer erreicht haben.
– Ei, wir waren aber rechte Dummköpfe! schalt Nab.
– Das wollte ich eben so frei sein auszusprechen!« höhnte Pencroff.
Cyrus Smith hatte diese Erklärung abgegeben, welche gewiß zulässig war. War er aber auch selbst von der Unanfechtbarkeit derselben überzeugt? – Es läßt sich kaum annehmen.[253]
Buchempfehlung
Die Sängerin Marie Ladenbauer erblindet nach einer Krankheit. Ihr Freund Karl Breiteneder scheitert mit dem Versuch einer Wiederannäherung nach ihrem ersten öffentlichen Auftritt seit der Erblindung. »Das neue Lied« und vier weitere Erzählungen aus den Jahren 1905 bis 1911. »Geschichte eines Genies«, »Der Tod des Junggesellen«, »Der tote Gabriel«, und »Das Tagebuch der Redegonda«.
48 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.
442 Seiten, 16.80 Euro