[266] Am andern Tage – dem 30. October – war Alles zu der projectirten und durch die Ereignisse der letzten Tage so dringlich gewordenen Expedition bereit. Die Verhältnisse aber hatten sich in der Art verändert, daß die Ansiedler der Insel Lincoln jetzt viel weniger selbst Unterstützung brauchten, als vielmehr Anderen solche gewähren konnten.
Man kam also überein, die Mercy so weit als möglich stromaufwärts zu fahren. So wurde es möglich, einen großen Theil des Weges fast ohne Anstrengung zurückzulegen, auch konnten dabei Provisionen und Waffen bis zu einem weit vorgeschobenen Punkte im Westen der Insel geschafft werden.
Man mußte bei diesem Ausfluge nicht nur an die mitzuführenden Gegenstände, sondern auch an solche denken, die der Zufall ihnen in die Hände spielen und deren Mitnahme wünschenswerth erscheinen könnte. Hatte an der Küste ein Schiffbruch stattgefunden, worauf ja alle Anzeichen hindeuteten, so fanden sich gewiß auch eine Menge herrenloser, als gute Prise zu betrachtender Werthsachen.
Mit Rücksicht hierauf wäre freilich der Wagen erwünschter gewesen, als das schwache Boot; doch der schwerfällige, ungelenke Wagen verlangte eine Zugkraft, ein Umstand, der von seiner Benutzung absehen und Pencroff sein[266] aufrichtiges Bedauern aussprechen ließ, daß die Kiste außer seinem begehrten »halben Pfund Tabak« nicht auch – ein Paar kräftige New-Jersey-Hengste enthalten habe, welche der Colonie so nützlich gewesen wären.
Die von Nab schon eingeschifften Provisionen bestanden aus conservirtem Fleisch, einigen Gallonen Bier und einer Art Liqueur, – genug für drei Tage, d.h. für den längsten Zeitraum, den Cyrus Smith für die Expedition vorgesehen hatte. Uebrigens rechnete man darauf, sich unterwegs gelegentlich frisch zu verproviantiren, weshalb auch Nab den kleinen tragbaren Ofen nicht vergaß.
An Werkzeugen versahen sich die Colonisten mit zwei Holzfälleräxten, um im Nothfalle durch den dichten Wald Bahn zu brechen, und an Instrumenten mit dem Fernrohre und dem Taschencompaß.
Ferner erwählte man die zwei Feuersteingewehre, die deshalb vorgezogen wurden, weil sie keiner Zündhütchen bedurften, mit welch' letzteren man sparsam umgehen wollte. Nur zur Aushilfe wurde ein Carabiner nebst Patronen mitgeführt. Von dem Pulver, jenem Vorrathe von etwa fünfzig Pfund in beiden Tönnchen, mußte wohl eine gewisse Menge entnommen werden, der Ingenieur behielt aber immer für später die Herstellung einer explosiven Substanz im Auge, um dasselbe zu schonen. Zu den Feuerwaffen gesellten sich endlich die fünf Seitengewehre in tüchtigen Lederscheiden, und bei dieser Ausrüstung durften sich die Colonisten wohl mit einiger Aussicht, sich aus jeder Lage helfen zu können, in die ausgedehnten Wälder hineinwagen.
Es bedarf wohl keiner Erwähnung, daß Pencroff, Harbert und Nab sich auf dem Gipfel ihrer Wünsche fühlten, obwohl Cyrus Smith ihnen das Versprechen abnahm, keinen Schuß ohne Noth abzufeuern.
Um sechs Uhr Morgens stach die Pirogue in's Meer. Alle, selbst Top inbegriffen, hatten sich eingeschifft und steuerten nach der Mündung der Mercy.
Erst seit einer halben Stunde stieg das Wasser. Noch währte die Fluth also mehrere Stunden, und diese mußte man benutzen, da die spätere Ebbe das Aufwärtsfahren im Flusse sehr erschwert hätte. Die Fluth stieg hoch, denn in drei Tagen sollte Vollmond sein, und die Pirogue, welche es nur mitten in der Strömung zu halten galt, glitt schnell zwischen den hohen Uferwänden dahin, ohne daß sich die Anwendung der Ruder nöthig machte.[267]
Nach wenigen Minuten erreichte man die Biegung der Mercy, und zwar genau die Stelle, an der Pencroff vor sieben Monaten seine erste Holzladung zusammengetragen hatte. Hinter dieser ziemlich scharfen Biegung verlief der Fluß in sanftem Bogen nach Südwesten und wand sich im Schatten großer, immergrüner Coniferen dahin.
Die Ufer der Mercy boten einen bezaubernden Anblick. Cyrus Smith und seine Begleiter konnten die entzückenden Effecte gar nicht genug bewundern, welche die Natur durch Baumschlag und Wasser so leicht hervorbringt. Je weiter sie kamen, desto mannichfaltiger wurden die Baumarten. Das rechte Ufer des Flusses bekränzten herrliche Ulmen, die man wegen der Ausdauer ihres Holzes im Wasser mit Vorliebe zu Bauzwecken verwendet. Neben diesen grünten zahlreiche Gruppen von Nessel- (Bohnen-, auch Zirbel-)Bäumen, deren Fruchtkerne ein sehr brauchbares Oel liefern. Ferner entdeckte Harbert einige Lardizabaleen, aus deren biegsamen Zweigen man durch Erweichung derselben in Wasser ausgezeichnetes Tauwerk fertigt, und endlich einige Ebenholzbäume von schöner, schwarzer Farbe und mit wunderlichen Adern geziert.
Von Zeit zu Zeit hielt das Canot an geeigneten Stellen an, um zu landen. Dann suchten Gedeon Spilett, Harbert und Pencroff, die Gewehre schußbereit und Top voran, die Nachbarschaft des Ufers ab. Vom Wild gar nicht zu reden, lag doch die Möglichkeit vor, irgend eine nützliche Pflanze zu finden. Der junge Naturforscher wurde auch nach Wunsch bedient, denn es glückte ihm z.B., eine Art wilden Spinats aus der Familie der Chenopodien aufzufinden; dazu zahlreiche Cruciferenspecies, unter anderen Kohlarten, die durch Umpflanzung wahrscheinlich »civilisirt« werden konnten, wie z.B. Kresse, Rettige, Rüben, und endlich eine Pflanze mit feinbehaartem, mehrtheiligem Blatte von etwa einem Meter Höhe, die eine Art bräunlicher Körnchen trug.
»Kennst Du diese Pflanze? fragte Harbert den Seemann.
– Tabak! fuhr der Seemann freudig auf, der sein Lieblingsgewächs wahrscheinlich nirgends anders als in seiner Pfeife gesehen hatte.
– Fehlgeschossen, Pencroff! erwiderte Harbert, das ist kein Tabak, sondern eine Senfstaude.
– Ach, laß mich mit dem Senf in Ruh', sagte abwehrend der Seemann; aber wenn Dir eine Tabakspflanze begegnet, nicht wahr, mein Junge, das sagst Du mir![268]
– Wird auch noch einmal gefunden werden, tröstete Gedeon Spilett.
– Richtig! jubelte Pencroff, und von dem herrlichen Tage an wird es unserer Insel an Nichts mehr fehlen!«
Die verschiedenen, sorgfältig mit den Wurzeln ausgehobenen Pflanzen wurden nach der Pirogue geschafft, welche Cyrus Smith, der unausgesetzt seinen Gedanken nachhing, überhaupt nie verlassen hatte.
Der Reporter, Harbert und Pencroff gingen wiederholt an's Land, einmal an das rechte, dann an das linke Ufer. Dieses war weniger steil, aber jenes mehr bewaldet. Der Ingenieur erkannte durch den Taschencompaß, daß die Richtung des Flusses von seinem ersten Winkel aus deutlich Südwest-Nordost und fast drei Meilen weit in ganz gerader Linie verlief. Da sich die Mercy indeß nach den Vorbergen des Franklin-Vulkanes, von dem ihre Quellen ernährt wurden, wenden mußte, so durfte man auch auf eine Aenderung dieser Richtung hoffen.
Bei Gelegenheit einer solchen kurzen Abschweifung gelang es Gedeon Spilett, ein Paar Hühnervögel lebend einzufangen. Sie hatten einen langen, schlanken Schnabel, dünnen Hals und kurze Flügel, ohne Andeutung eines Schwanzes. Harbert bezeichnete sie mit Recht als sogenannte »Tinamus« und beschloß man, sie als erste Bewohner des zukünftigen Geflügelhofes mitzunehmen.
Bis hierher hatten die Flinten noch kein Wort mitgesprochen, und der erste Schuß, der donnernd durch die Wälder des fernen Westens krachte, galt einem schönen Vogel, dessen Erscheinung der eines Taucherkönigs auffallend ähnelte.
»Ich kenne ihn wieder! rief Pencroff, der jenen Schuß fast gegen seinen Willen abgefeuert hatte.
– Wen erkennen Sie? fragte der Reporter.
– Den Vogel, der uns bei unserem ersten Ausfluge entwischte und nach dem wir damals dem ganzen Walde den Namen gaben.
– Ein Jacamar!« rief Harbert freudig.
Wirklich lag ein Jacamar, ein schöner Vogel, dessen starkes Gefieder in metallischem Glanze spielte, von einigen Schrotkörnern zu Boden gestreckt, vor ihnen, den Top zum Canot hintrug. Bald apportirte er auch etwa ein Dutzend »Turaco-Loris« (d.s. Kukukspapageien), eine Art Klettervögel von Taubengröße, mit schönem grünem Gefieder, einem carmoisinrothen Streifen[269] längs der Flügel und einer aufrecht stehenden Federhaube mit weißem Rande. Der junge Mann, dem die Ehre der Erlegung dieser Beute zufiel, zeigte sich nicht wenig stolz darüber. Die Loris lieferten übrigens auch ein dem Jacamar weit vorzuziehendes Fleisch, denn das des letzteren ist etwas zähe. Nichtsdestoweniger hätte Niemand Pencroff überzeugen können, daß er nicht den König der eßbaren Vogelwelt getödtet habe.
Gegen zehn Uhr Morgens erreichte die Pirogue eine zweite Biegung der Mercy, etwa fünf Meilen von ihrer Mündung. An dieser Stelle machte man unter dem Blätterdache großer und schöner Bäume einen halbstündigen Halt, um zu frühstücken.
Noch immer maß der Fluß bei fünf bis sechs Fuß Tiefe wohl sechzig bis siebenzig Fuß in der Breite. Der Ingenieur hatte beobachtet, daß zahlreiche Zuflüsse, doch immer nur unfahrbare Wildbäche, seine Wassermenge vergrößerten. Der Wald selbst, im ersten Theile als Jacamar-Wald, dann als der des fernen Westens, erstreckte sich ohne sichtbare Grenze weiter. Nirgends, weder im Hochwalde, noch an den Ufern der Mercy fand man die Spur eines Menschen. Offenbar hatte weder jemals die Axt des Holzhauers diese Bäume verwundet, noch das Messer eines Pionniers die von einem Stamme zum andern verlaufenden Lianen zwischen dem langen buschigen Graswuchs durchschnitten. Befanden sich also Schiffbrüchige auf der Insel, so konnten sie das Uferland noch nicht verlassen haben, und jedenfalls waren in diesem dichten Pflanzenlabyrinthe keine Ueberlebenden jenes vorausgesetzten Unglücksfalles zu suchen.
Der Ingenieur zeigte deshalb immer eine gewisse Eile, die seiner Schätzung nach fünf Meilen entfernte Westküste der Insel Lincoln zu erreichen. Man setzte also die Wasserfahrt fort, und obwohl die Richtung der Mercy thatsächlich nicht nach dem Uferlande, sondern nach dem Franklin-Berge führte, so sollte die Pirogue doch so lange benutzt werden, als sie genügend Fahrwasser hatte. Außer an Anstrengung ersparte man hierdurch auch an Zeit, denn durch den dichten Wald konnte ein Pfad nur mit der Axt in der Hand gebrochen werden.
Bald ging freilich die Unterstützung der Fluth ganz verloren, ob nun die Ebbe wieder eintrat – und der Zeit nach konnte das wohl der Fall sein – oder jene nicht bis auf diese Entfernung von der Mündung der Mercy landeinwärts fühlbar war, jedenfalls mußte man zu den Rudern greifen. Nab[270] und Harbert nahmen auf der Ruderbank Platz, Pencroff handhabte den Bootsriemen, und so fuhr man weiter stromauf.
Endlich schien sich der Wald nach der Seite des fernen Westens hin zu lichten; die Bäume standen daselbst minder dicht, ja, manchmal gar vereinzelt. Doch bei den größeren Lücken zwischen denselben gediehen sie auch besser und boten wirklich einen prächtigen Anblick.
Welch' herrliche Muster der Waldflora dieser Breite zeigten sich da! Einem Botaniker von Fach hätten diese gewiß allein schon genügt, den Breitengrad der Insel Lincoln zu bestimmen.
»Da, Eucalypten!« rief Harbert.
Es waren in der That jene stolzen Bäume, die letzten Riesen der außertropischen Zone, Verwandte der Eucalypten in Australien und Neu-Seeland, die beide in der nämlichen Breite wie die Insel Lincoln liegen. Einige derselben erhoben sich wohl bis auf zweihundert Fuß. Ihr Stamm maß am untern Theile zwanzig Fuß im Umkreise, während die Rinde, über welcher netzförmige Streifen eines wohlriechenden Harzes verliefen, wohl fünf Zoll Dicke hatte.
Nichts Prächtigeres, aber auch nichts Sonderbareres, als diese Riesenproben aus der Familie der Myrtaceen, deren Blätterwerk dem Lichte die scharfe Kante zukehrt und auf diese Weise die Sonnenstrahlen bis auf den Boden dringen läßt.
Am Fuße der Eucalypten bedeckte ein saftiges Gras die Erde, und aus den Büschen flatterten ganze Schwärme kleiner Vögel, die in der Sonne wie fliegende Karfunkel blitzten.
»Das sind doch Bäume! rief Nab aus; aber haben sie auch einen Nutzen?
– Pah! erwiderte Pencroff, mit den pflanzlichen Riesen ist es ebenso, wie mit den menschlichen: sie können sich auf den Jahrmärkten sehen lassen.
– Da möchten Sie sich wohl täuschen, Pencroff, belehrte ihn Gedeon Spilett, insofern man das Holz der Eucalypten in der Kunsttischlerei jetzt vielfach verwendet.
– Auch gehören diese Bäume zu einer Familie, welche sehr nutzbringende Glieder zählt: z.B. der Indische Birnbaum, der Gewürznägelein- und der Granatbaum, jeder mit verwendbaren Früchten, die ›Eugenia cauliflera‹ aus der man einen recht angenehmen Wein erzeugt; die ›Ugni‹-Myrthe, die einen sehr beliebten Liqueur liefert; die ›Caryophyllus‹-Myrthe, aus deren[271] Rinde man eine geschätzte Zimmetsorte gewinnt; ferner die ›Eugenia pimenta‹, die Mutterpflanze des Jamaica-Pimentes; die gemeine Myrthe, deren Beeren den Pfeffer ersetzen können; die ›Eucalyptus robusta‹, welche ein ausgezeichnetes Manna trägt; die ›Eucalyptus Guneī‹, aus deren Saft durch Gährung ein dem Biere sehr ähnliches Getränk bereitet wird; endlich gehören alle jene unter dem Namen ›Lebensbäume‹ bekannten Pflanzen zu dieser Familie der Myrtaceen, welche in 46 Gattungen 1300 Arten zählt!«[272]
Man ließ den jungen Mann gewähren, der seine botanische Vorlesung mit Feuereifer abhielt. Cyrus Smith hörte ihm lächelnd, Pencroff mit einem unübersetzbaren Gefühl von Stolz aufmerksam zu.
»Sehr schön, Harbert, begann der Seemann, aber ich möchte darauf schwören, daß alle die Nutzpflanzen, die da erwähnt wurden, nicht solche Riesen sind, wie diese hier.
– Das ist freilich wahr, Pencroff.[273]
– Also unterstützt es auch meine Behauptung, fuhr Jener fort, daß die Riesen eben zu Nichts nütze sind.
– Fehl geschossen, Pencroff, fiel da der Ingenieur ein, gerade diese gigantischen Eucalypten über uns sind doch zu Etwas gut.
– Und wozu denn?
– Das Land, in dem sie wurzeln, gesünder zu machen. Ist Ihnen bekannt, wie man sie in Australien und Neu-Seeland nennt?
– Nein, Herr Cyrus.
– Man nennt sie dort ›Fieberbäume‹.
– Weil sie diese Krankheit erzeugen?
– Nein, weil sie dieselbe unterdrücken.
– Gut, das werde ich notiren, ließ sich der Reporter vernehmen.
– Thun Sie es, lieber Spilett, denn es scheint erwiesen, daß die Anpflanzung von Eucalypten allerlei Sumpfmiasmen zu paralysiren vermag. Diese Schutzmaßregel wurde in verschiedenen Landstrichen des mittägigen Europa und des nördlichen Afrika, wo ein sehr ungesunder Boden war, versucht, und allmälig besserten sich darauf die Sanitätsverhältnisse der Einwohner. Wechselfieber verschwanden gänzlich aus den mit Myrtaceen bestandenen Gegenden. Die Thatsache steht jetzt zweifellos fest; gewiß ein glücklicher Umstand für uns Colonisten dieser Insel.
– O, welche Insel, welch' gesegnetes Land! rief Pencroff. Ich sage Euch, es fehlt ihm Nichts ... außer etwa ...
– Das wird sich auch noch finden, Pencroff, tröstete ihn der Ingenieur; doch jetzt wollen wir wieder aufbrechen und so weit fahren, als der Fluß noch unsere Pirogue trägt«
Die Gesellschaft schiffte nun mindestens noch zwei Meilen weit durch eine mit Eucalypten bedeckte Gegend, in der jene Bäume alles Gehölz dieses Theiles der Insel hoch überragten. Der von ihnen eingenommene Raum erstreckte sich über Sehweite an beiden Ufern der Mercy hinaus, deren in vielen Windungen verlaufendes Bett zwischen den üppig grünen Gestaden ausgehöhlt war. Von Zeit zu Zeit erfüllten es jetzt aber hohe Wasserpflanzen oder unterbrachen scharfkantige Felsen den Wasserspiegel, welche Hindernisse die Schifffahrt nicht wenig erschwerten. Ost mußte man die Ruder einnehmen, und stieß Pencroff das Boot mit einer Stange weiter. Auch erhob sich der Boden allmälig und man fühlte, daß das Boot wegen[274] Mangels an Wassertiefe bald zu verlassen sein werde. Schon neigte sich die Sonne dem Horizonte zu und warf die langgestreckten Schatten der Bäume auf die Erde. Da Cyrus Smith die Ueberzeugung gewann, daß er im Laufe dieses Tages die westliche Küste nicht zu erreichen im Stande sei, so beschloß er, an derselben Stelle zu übernachten, an der das Boot der mangelnden Wassertiefe halber zurückgelassen werden mußte. Er veranschlagte die Entfernung bis zur Küste auf fünf bis sechs Meilen und jedenfalls als zu groß, um zu dem Versuche, sie während der Nacht durch den unbekannten Wald zurückzulegen, zu ermuntern.
Die Pirogue glitt also quer durch den Wald weiter, der wieder dichter zu werden begann und auch bevölkerter erschien, denn wenn des Seemanns Augen nicht trügten, sah dieser eine Menge Affen in dem benachbarten Gezweige klettern. Dann und wann saßen wohl auch einige derselben unsern vom Canot still und gafften die Colonisten verwundert, aber ohne Zeichen des Erschreckens an, so als wenn sie, die zum ersten Male Menschen sahen, diese noch nicht fürchten gelernt hätten. So leicht es gewesen wäre, einige derselben durch Flintenschüsse zu erlegen, so widersetzte sich Cyrus Smith doch solch nutzlosem Blutvergießen, zu dem Pencroff nicht übel Luft zu haben schien. Dieses Verhalten gebot auch die einfache Klugheit, da jene kräftigen und gewandten Affen wohl recht beachtenswerthe Gegner sein konnten, die man besser nicht durch einen so unzeitgemäßen Angriff reizte.
Zur Erklärung für Pencroff's Absicht diene, daß Jener den Affen nur rücksichtlich seiner Eßbarkeit in's Auge faßte, und diese pflanzenfressenden Thiere liefern in der That ein ganz ausgezeichnetes Wildpret; bei dem hinreichenden Vorrath an Lebensmitteln empfahl es sich indeß, die Munition nicht zwecklos zu vergeuden.
Gegen vier Uhr ward die Befahrung der Mercy aus den schon erwähnten Gründen sehr schwierig. Die Uferwände stiegen mehr und mehr an, und schon zwängte sich das Bett zwischen die Ausläufer des Franklin-Berges hinein. Ihre Quellen konnten demnach nicht mehr fern sein, da sie aus allen Abhängen der Südseite des Vulkans ihre Nahrung schöpften.
»Bevor eine Viertelstunde vergeht, sagte der Seemann, werden wir anzuhalten gezwungen sein.
– Nun, so thun wir es eben, Pencroff, und richten uns für die Nacht ein Lager her.[275]
– Wie weit vom Granithause entfernt mögen wir wohl sein? fragte Harbert.
– Etwa sieben Meilen, antwortete der Ingenieur, doch unter Einrechnung aller der Umwege, auf denen wir nach Nordwesten gelangt sind.
– Und wollen wir jetzt noch weiter vordringen? fragte der Reporter.
– Gewiß, so lange es zu Wasser angeht, antwortete Cyrus Smith. Morgen mit Tagesanbruch verlassen wir das Canot, und legen die Entfernung, die uns von der Küste trennt, zu Fuß, ich hoffe binnen zwei Stunden, zurück; so haben wir zur Untersuchung des Küstenstrichs ziemlich den ganzen Tag vor uns.
– Also vorwärts!« mahnte Pencroff.
Sehr bald streifte die Pirogue indeß den kieseligen Grund des Flüßchens, das jetzt bis auf zwanzig Fuß Breite eingeengt war. Ueber seinem Bette wölbte sich ein dichtes grünes Dach und breitete ein angenehmes Halbdunkel über jenes. Jetzt vernahm man auch deutlich das Brausen eines wenige hundert Schritte entfernten Wasserfalls, der die Wasserstraße mit einer natürlichen Schranke abschloß.
Hinter der nächsten Flußbiegung wurde die Cascade auch zwischen den Bäumen sichtbar. Das Canot stieß auf den Grund und war sehr bald nachher an einem Baumstamme nahe dem rechten Ufer befestigt.
Es mochte um die fünfte Stunde sein. Die letzten Sonnenstrahlen drangen durch das dichte Gezweig und trafen schräg auf den rauschenden Fall, dessen seiner Wasserstaub in allen Regenbogenfarben spielte. Ueber dieser Stelle verschwand die Mercy voll kommen unter dem Gehölz, in dem sie aus irgend einer verborgenen Quelle ihren Ursprung hatte. Die vielen Bäche, welche ihr längs ihres Verlaufes zuströmten, gestalteten sie weiter abwärts zu einem recht ansehnlichen Flusse, während sie von hier weiter stromauf selbst nur noch einen klaren, seichten Bach darstellte.
Man lagerte sich an der wirklich reizenden Landungsstelle. Unter einer Gruppe breitkroniger Nesselbäume loderte ein Feuer auf; doch hätten Cyrus Smith und seine Freunde im Nothfalle auch in den Aesten jener Bäume für die Nacht eine Zuflucht finden können.
Das Abendbrod wurde rasch verzehrt, da Jeder Hunger verspürte und schlafbedürftig war. Doch da sich mit dem sinkenden Tage verschiedene verdächtige Laute hören ließen, zog man es vor, ein Feuer zu unterhalten, um[276] sich durch dessen blendende Flammen sicher zu schützen. Nab und Pencroff übernahmen abwechselnd die Wache, und sparten das Brennmaterial nicht. Vielleicht täuschten sie sich nicht, als sie im Walde, sowohl auf der Erde als in den Aesten, die Schatten einiger Thiere sie umschleichen zu sehen glaubten; doch verlief die Nacht ohne Störung, und am folgenden Tage, am 31. October, waren Alle schon um fünf Uhr Morgens zum Aufbruche bereit.
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