Achtes Capitel.
Die Verbrecher in der Nähe der Viehhürde. – Vorläufige Einrichtung. – Fortsetzung von Harbert's Behandlung. – Pencroff's erste Jubelrufe. – Rückblick auf die Vergangenheit. – Was die Zukunft bietet. – Cyrus Smiths Gedanken darüber.

[572] Die Sträflinge waren also fortwährend in der Nähe der Hürde und lauerten den Colonisten auf, um sie einzeln abzuschlachten. Es blieb kein anderer Ausweg, als sie gleich Raubthieren zu behandeln; aber auch dieser erheischte die größte Vorsicht, denn diese Schurken genossen jetzt den Vortheil, zu sehen, ohne selbst gesehen zu werden und durch die Schnelligkeit ihres Angriffs überraschen zu können, ohne das Gleiche befürchten zu müssen.

Cyrus Smith richtete sich also zu einem längeren Aufenthalt in der Hürde ein, deren Vorräthe übrigens einen solchen gestatteten. Ayrton's Häuschen war ja mit allem zum Leben Nothwendigen versehen, und die Sträflinge hatten, überrascht durch die Ankunft der Colonisten, nicht Zeit gefunden, dasselbe zu plündern. Gedeon Spilett dachte sich den Verlauf der letzten Vorgänge etwa folgendermaßen: Die sechs an der Insel gelandeten Sträflinge waren dem südlichen Gestade nachgegangen über die Schlangenhalbinsel hinweg und, nicht gewillt, sich in die Wälder des fernen Westens[572] zu begeben, hatten sie die Mündung des Cascadenflusses erreicht. Von diesem Punkte aus gelangten sie längs des rechten Flußufers nach den Ausläufern des Franklin-Berges, zwischen denen sie erklärlicher Weise eine Zuflucht suchten, und mußten wohl die damals unbewohnte Hürde bald genug entdecken. In ihr hatten sie sich höchst wahrscheinlich eingerichtet und warteten den passenden Zeitpunkt zur Durchführung ihrer abscheulichen Pläne ab. Ayrton's Ankunft mochte sie wohl erschreckt haben, aber es gelang ihnen, sich seiner zu bemächtigen und ... das Uebrige lag ja auf der Hand.

Jetzt trieben sich die zwar auf die Anzahl von Fünf beschränkten, aber wohlbewaffneten Mordgesellen im Walde umher, und sich in diesen zu wagen hieß, sich ihren Schüssen preis zu geben, ohne die Möglichkeit, diese wirksam zu erwidern oder ihnen zu entgehen.

»Ruhig warten! mahnte wiederholt Cyrus Smith, es ist jetzt nichts weiter zu thun. Nach Harbert's Genesung können wir eine gründliche Absuchung der Insel vornehmen und jene unschädlich machen. Das soll ebenso der Zweck unserer größeren Expedition werden ...

– Wie die Aufsuchung unseres geheimnißvollen Beschützers, vollendete Gedeon Spilett die Rede des Ingenieurs. O, wir müssen leider gestehen, lieber Cyrus, daß uns diesmal seine schützende Hand fehlte, gerade wo sie am nöthigsten gewesen wäre.

– Wer weiß das! erwiderte der Ingenieur.

– Was wollen Sie damit sagen?

– Daß wir noch nicht am Ende aller Prüfungen sind, lieber Spilett, und daß jene mächtig eingreifende Hand vielleicht noch Gelegenheit findet, sich zu zeigen. Doch darum handelt es sich jetzt weit weniger, als um das Leben unseres Harbert.«

Wirklich lag hierin die Ursache der schmerzlichsten Befürchtung aller Colonisten. Einige Tage verstrichen ohne Verschlechterung im Zustande des Verwundeten. Zeit zu gewinnen bedeutet bei einer Krankheit aber sehr viel. Das immer in geeigneter Temperatur angewendete frische Wasser hatte jede Entzündung der Wunden verhindert. Dem Reporter schien es sogar, als übe dieses etwa schwefelhaltige Wasser – für welchen Gehalt mehrere Erscheinungen in der Umgebung sprachen – einen besonders förderlichen Einfluß auf die Vernarbung derselben aus. Die Eiterung hielt sich in Schranken,[573] und Dank der ihm gewidmeten unausgesetzten Sorgfalt kehrte Harbert mit Nachlaß des Fiebers mehr und mehr zum Leben zurück. Dabei blieb er zunächst einer strengen Diät unterworfen, bei der seine ohnehin schwachen Kräfte vorerst eher noch weiter abnahmen; heilsame Aufgüsse erhielt er aber nach Gefallen, und die vollkommene Ruhe that ihm sehr wohl.

Cyrus Smith, Gedeon Spilett und Pencroff hatten sich eine wirkliche Geschicklichkeit in den Handleistungen für den jungen Verwundeten angeeignet. Der ganze Leinenvorrath war geopfert worden. Harbert's von Charpie und Compressen bedeckte Wunden wurden weder zu viel, noch zu wenig gedrückt, um ihre Vernarbung ohne entzündliche Reizung zu leiten. Der Reporter verwandte auf seine Verbände, deren Wichtigkeit er kannte, die peinlichste Sorgfalt und wiederholte seinen Gefährten immer, was alle Aerzte gern zugestehen, daß man weit häufiger eine gut ausgeführte Operation, als einen fehlerlos angelegten Verband zu sehen bekommt.

Nach zehn Tagen, am 22. November, ging es mit Harbert merklich besser. Er fing nun an, etwas Nahrung zu sich zu nehmen. Seine Wangen färbten sich ein wenig und seine treuen Augen lächelten den Krankenwärtern zu. Er plauderte auch ein wenig, trotz Pencroff's Bemühungen, der, um den Kranken selbst am Reden zu hindern, fortwährend sprach und die unglaublichsten Historien erzählte Harbert hatte ihn wegen Ayrton, dessen Abwesenheit ihm auffiel, befragt, da er Jenen in der Hürde wähnte. Um ihn aber nicht zu betrüben, begnügte sich der Seemann, darauf zu antworten, Ayrton sei zu Nab abgegangen, um das Granithaus mit schützen zu helfen.

»Hei, diese Piraten! sagte er. Das sind Burschen, welche keinerlei Rücksicht verdienen! Und Herr Smith wollte sie noch durch Verhandlungen kirre machen! Ich möchte ihnen auch meine Vorschläge machen, aber in Form von Blei von tüchtigem Kaliber!

– Und sie kamen nicht wieder zum Vorschein? fragte Harbert.

– Nein, mein Kind, antwortete der Seemann, aber wir finden sie wieder, und wenn Du erst wieder hergestellt bist, werden wir sehen, ob die Bösewichte, die aus dem Hinterhalte schießen, auch wagen, uns Auge in Auge anzugreifen.

– Ich bin aber noch sehr schwach, mein armer Pencroff.

– O, nach und nach kommen die Kräfte schon wieder! Was will denn das bedeuten, eine Kugel durch die Brust? So viel wie ein schlechter[574] Scherz! – Ich habe es mehr als einmal durchgemacht und befinde mich ganz wohl dabei!«

Die Umstände gestalteten sich übrigens auf's Beste, und wenn erst keine weitere Complication zu befürchten stand, durfte Harbert's Heilung als gesichert betrachtet werden. Wie wäre aber die Lage der Colonisten bei noch schwereren Zufällen gewesen, wenn entweder die Kugel im Körper stecken blieb oder sich eine Arm- oder Beinamputation nöthig gemacht hätte?

»Nein, sagte Gedeon Spilett mehr als einmal, an eine solche Möglichkeit konnt' ich nie ohne Zittern und Zagen denken!

– Und doch, erwiderte ihm eines Tages Cyrus Smith, hätten Sie gewiß im Nothfalle nicht gezögert zu handeln.

– Nein, Cyrus! Doch Gott sei gepriesen, daß er uns die schwerere Prüfung ersparte!«

So wie in unzähligen anderen Fällen folgten die Colonisten auch in diesem ihrem gefunden Menschenverstande, und noch einmal, Dank ihren vielseitigen Kenntnissen, mit dem schönsten Erfolge. Konnte aber der Augenblick nicht einmal kommen, in dem all' ihr Wissen sie im Stiche ließ? Sie wohnten auf dieser Insel allein. Im Zustande des gesellschaftlichen Beisammenlebens ergänzen sich die Menschen einander, werden Einer dem Andern unentbehrlich. Cyrus Smith wußte das wohl, und manchmal peinigte ihn der Gedanke, daß ihnen Hindernisse entgegen treten könnten, gegenüber deren Ueberwindung sie doch ohnmächtig blieben.

Es bedrängte ihn ein Gefühl, als seien er und seine Genossen jetzt in eine Unglücksperiode eingetreten. Seit ihrer Flucht aus Richmond vor dreiundeinhalb Jahren kann man sagen, daß ihnen Alles nach Wunsch ging. Mineralien, Pflanzen und Thiere hatte ihnen die Insel im Ueberfluß dargeboten, und wenn die Natur sie gleichsam überschüttete, so hatten ihre Kenntnisse daraus auch Vortheil zu ziehen gewußt. Das materielle Wohlsein der Colonie war so zu sagen vollkommen. Dazu kam ihnen bei gewissen Fällen noch ein unerklärliches Etwas zu Hilfe. Doch Alles das konnte nur eine Zeit lang währen.


 »Ich bin aber noch sehr schwach ...« (S. 574.)
»Ich bin aber noch sehr schwach ...« (S. 574.)

Kurz, Cyrus Smith glaubte wahrzunehmen, daß das Glück ihnen jetzt den Rücken wendete.

So war das Piratenschiff im Gewässer der Insel erschienen, und wenn es auch, so zu sagen, durch ein Wunder zerstört wurde, so entwischten dabei[575] doch sechs Sträflinge dem Untergange, entkamen auf die Insel, und die fünf von diesen noch jetzt Lebenden erschienen fast unergreifbar. Ayrton war ohne Zweifel von den mit Feuerwaffen ausgerüsteten Schurken ermordet worden, und dazu wurde Harbert durch ihre erste Kugel fast tödtlich getroffen Ertheilte ihnen das Mißgeschick jetzt seine ersten Schläge? Das ging Cyrus Smith im Kopfe herum, das wiederholte er dem Reporter, und es schien ihnen, als ob jene so eigenartige, aber mächtige Intervention, die[576] ihnen bisher dienstbar gewesen, jetzt wirklich ausbleiben sollte. Hatte jenes geheimnißvolle Wesen, dessen Existenz sie, sei es was es wolle, doch nicht leugnen konnten, die Insel verlassen oder seinerseits den Untergang gefunden?

Auf solche Fragen mangelte die Antwort. Doch glaube man ja nicht, daß Cyrus Smith und sein Freund, wenn sie sich auch auf obige Weise aussprachen, die Leute gewesen wären, deshalb zu verzweifeln! Im Gegentheil. Sie sahen den thatsächlichen Verhältnissen in's Gesicht, erwogen die Chancen, bereiteten sich auf jeden Zufall vor, und wenn weiteres Ungemach sie treffen sollte, so sollte es in ihnen auch Männer finden, die bereit waren, es zu bekämpfen.

Quelle:
Jules Verne: Die geheimnisvolle Insel. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XIV–XVI, Wien, Pest, Leipzig 1876, S. 572-577.
Lizenz:

Buchempfehlung

Lessing, Gotthold Ephraim

Philotas. Ein Trauerspiel

Philotas. Ein Trauerspiel

Der junge Königssohn Philotas gerät während seines ersten militärischen Einsatzes in Gefangenschaft und befürchtet, dass er als Geisel seinen Vater erpressbar machen wird und der Krieg damit verloren wäre. Als er erfährt, dass umgekehrt auch Polytimet, der Sohn des feindlichen Königs Aridäus, gefangen genommen wurde, nimmt Philotas sich das Leben, um einen Austausch zu verhindern und seinem Vater den Kriegsgewinn zu ermöglichen. Lessing veröffentlichte das Trauerspiel um den unreifen Helden 1759 anonym.

32 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon