Zehntes Kapitel.
Das Verhör.

[140] Dimitri Nicolef kehrte in der Nacht vom 16. zum 17. nach Riga zurück, ohne auf dem Heimwege erkannt worden zu sein.

Von Unruhe verzehrt, hatte Ilka kein Auge zutun können. Welche Seelenqual hätte aber erst das unglückliche junge Mädchen gepeinigt, wenn es vernommen hätte, welche Beschuldigung auf dem Haupte ihres Vaters lastete.

Eine weitere Sorge bereitete ihr noch am Abend, als Delaporte und der Doktor Hamine schon weggegangen waren, eine aus Dorpat eingetroffene Depesche, die die Ankunft Jean Nicolefs für den nächsten Tag anmeldete, ohne die Veranlassung zu dieser urplötzlichen Reise anzugeben.

Der erdrückendste Alp wich jedoch von Ilkas Brust, als sie gegen drei Uhr morgens ihren Vater die Treppe herauskommen hörte. Da er nicht an ihre Tür klopfte, hielt sie es für ratsamer, ihn ruhig sich niederlegen zu lassen, da er von der Reise wohl angestrengt sein mochte. Am Morgen wollte sie ihn begrüßen,[140] sobald er aufgestanden wäre. Vielleicht sagte er ihr dann, was ihn genötigt hatte, so übereilt und ohne jede nähere Mitteilung zu verreisen.

Vater und Tochter trafen am nächsten Tage schon in früher Morgenstunde zusammen, und jetzt begann Dimitri Nicolef zuerst:

»Da siehst du mich wieder zurück, liebes Kind. Meine Abwesenheit hat etwas länger gedauert, als ich voraussetzte... doch nur vierundzwanzig Stunden...

– Du scheinst aber angegriffen zu sein, lieber Vater, bemerkte Ilka.

– Ein wenig; doch lass' mich nur den Vormittag noch etwas ausruhen, dann bin ich wieder ganz wohlauf, und ich denke am Nachmittage auch noch einige Stunden zu erteilen.

– Vielleicht, Papa, wäre es besser, das bis morgen zu verschieben. Deine Schüler sind benachrichtigt.

– Nein, Ilka, nein!... Länger darf ich sie nicht warten lassen. Ist während meiner Abwesenheit sonst jemand gekommen?

– Niemand, mit Ausnahme des Doktors und des Herrn Delaporte, die über deine Abreise nicht wenig verwundert waren.

– Ja ja, antwortete Nicolef mit etwas zögernder Stimme, ich hatte ihnen nicht davon gesprochen... Wozu auch... bei einem so kurzen Abstecher, auf dem mich, wie ich glaube, ohnehin niemand erkannt hat.«

Der Lehrer sprach über die Sache nicht weiter, und seine sehr rücksichtsvolle Tochter begnügte sich, ihn nur noch zu fragen, ob er von Dorpat zurückgekommen wäre.

»Von Dorpat?... rief Nicolef etwas verblüfft. Wozu diese Frage?

– Weil ich mir eine Depesche, die gestern Abend gekommen ist, gar nicht erklären kann.

– Eine Depesche? sagte Nicolef lebhaft. Von wem denn?

– Von meinem Bruder, der mir meldet, daß er heute hier eintreffen werde.

– Wie... Jean wird kommen?... Das ist ja auffallend. Was mag ihn hierherführen?... Doch, mein Sohn ist immer sicher, mit offenen Armen aufgenommen zu werden!«

Da er aus der Haltung seiner Tochter jedoch erriet, daß diese ihn gern über die Veranlassung zu seiner Reise befragt hätte, erklärte er freiwillig:

»O, es handelte sich um eine wichtige Angelegenheit, sagte er, eine Angelegenheit, die mich nötigte, ungesäumt aufzubrechen...[141]

– Wenn du nur von dem Ausgange befriedigt bist, lieber Papa, antwortete Ilka.

– Befriedigt... o ja, mein Kind, erwiderte er mit einem verstohlenen Blick auf seine Tochter, und ich hoffe auch, daß die Sache kein unangenehmes Nachspiel haben werde.«

So wie einer, der nichts weiter zu sagen entschlossen ist, ging er gleich auf einen anderen Gesprächsgegenstand über.

Nach dem ersten Tee am Morgen zog sich Dimitri Nicolef in sein Zimmer zurück, ordnete hier verschiedene Papiere und fing dann an zu arbeiten.

Im Hause herrschte wieder die gewohnte Ruhe, und Ilka hatte nicht die geringste Ahnung, daß sie bald von dem furchtbarsten Blitzschlage getroffen werden sollte.

Kaum war es ein Viertel auf Eins geworden, als sich ein Polizeibeamter in der Wohnung Dimitri Nicolefs einstellte. Er brachte einen Brief, den er der Hausmagd mit dem Auftrage einhändigte, ihn sofort ihrem Herrn zu übergeben. Der Mann fragte auch gar nicht erst, ob der Privatlehrer sich jetzt zu Hause befinde. Ohne daß es jemand aufgefallen wäre, war das Haus aber schon seit dem gestrigen Abend sorgsam überwacht worden.

Dimitri Nicolef öffnete das Schreiben und überflog dessen Inhalt. Es enthielt nur die Worte:

»Der Richter Kerstorf ersucht den Privatlehrer Dimitri Nicolef, sich ohne Säumen in seinem Bureau, wo er ihn erwartet, einzufinden. Dringliche Angelegenheit.«

Nach Durchlesung der wenigen Zeilen machte Dimitri Nicolef unwillkürlich eine Bewegung, die etwas mehr als Überraschung ausdrückte. Er erbleichte, und sein Gesicht verriet eine lebhafte Beunruhigung...

Er meinte aber doch, daß es das Beste sei, der ihm vom Richter Kerstorf so bestimmt ausgesprochenen Einladung Folge zu leisten, und so zog er den Mantel wieder an, und ging nach dem Zimmer hinunter, in dem sich seine Tochter befand.

»Ilka, sagte er, ich habe soeben eine Mitteilung von Herrn Kerstorf, dem Richter, erhalten, der mich ersucht, nach seinem Bureau zu kommen...

– Der Richter Kerstorf? antwortete das junge Mädchen. Was kann er von dir wollen, Vater?

– Ja, das weiß ich selbst nicht, erwiderte Nicolef, der dabei den Kopf abwendete.[142]

– Sollte es sich um eine Angelegenheit handeln, die Jean anginge und ihn genötigt hätte, Dorpat so unerwarteterweise zu verlassen?

– Das weiß ich auch nicht, Ilka... Ja... vielleicht. Nun, wir werden ja darüber sehr bald aufgeklärt sein.«

Der Privatlehrer ging hinaus, ohne daß seine Tochter seine Unruhe bemerkt hätte. Mit dem Polizisten an seiner Seite, schritt er unsicher, sozusagen mechanisch, des Wegs dahin und sah gar nicht, daß er die Zielscheibe der öffentlichen Aufmerksamkeit war, ebensowenig daß einzelne ihm folgende oder begegnende Leute recht mißfällige Blicke auf ihn richteten.

Im Gerichtsgebäude angekommen, wurde er in das Amtszimmer geführt, worin ihn der Richter Kerstorf, der Major Verder und ein Aktuar schon erwarteten. Man begrüßte sich gegenseitig, und Dimitri Nicolef wartete, daß man das Wort an ihn richten würde.

»Herr Nicolef, begann da der Richter Kerstorf, ich habe Sie hierher rufen lassen, um einige Erkundigung über eine Sache einzuziehen, mit deren Untersuchung und Aufklärung ich betraut worden bin...

– Um was handelt es sich, Herr Richter? fragte Dimitri Nicolef.

– Nehmen Sie zunächst Platz und hören Sie mich an.«

Der Lehrer setzte sich auf einen Stuhl gegenüber dem Schreibtische, hinter dem der Armsessel des Richters stand, während der Major am Fenster stehen blieb. Das Gespräch nahm jetzt mehr den Charakter eines Verhörs an.

»Erstaunen Sie nicht darüber, sagte der Richter, daß die Fragen, die ich an Sie zu stellen habe, Ihre Person insofern berühren, als sie sich auf Vorgänge in Ihrem Privatleben beziehen. Es ist sehr notwendig, im Interesse der Sache, wie in Ihrem eigenen, daß Sie mir diese ohne Umschweif beantworten.«

Nicolef, der den Richter mehr nur ansah, als daß er auf seine Worte hörte, verhielt sich einige Augenblicke schweigend und begnügte sich, die Arme gekreuzt haltend, mit einem schwachen Neigen des Kopfes.

Kerstorf hatte das Protokoll der Untersuchung am Tatorte vor sich liegen. Er schlug es auf dem Tische auf und fragte ruhigen, doch ernsten Tones:

»Herr Nicolef, Sie sind einige Tage von hier abwesend gewesen?

– Das ist richtig.

– Wann hatten Sie Riga verlassen?

– Am dreizehnten, ganz früh am Morgen.

– Und wann sind Sie zurückgekehrt?[143]

– Vergangene Nacht gegen ein Uhr.

– Sie waren allein verreist?...

– Ganz allein.

– Und sind Sie auch allein zurückgekommen?

– Ebenfalls allein.

– Sie haben sich der fahrenden Post nach Reval bedient?

– Ja, antwortete Nicolef, doch mit einigem Zögern.

– Für den Rückweg aber...

– Habe ich eine Telega genommen.

– Wo hatten Sie diese Telega gefunden?

– Etwa fünfzig Werst von hier auf der Rigaer Landstraße.

– Es war also am Morgen des dreizehnten, wo Sie abgefahren sind?

– Ja, Herr Richter, früh sechs Uhr.

– Befanden Sie sich im Postwagen allein?

– Nein, darin saß noch ein anderer Reisender.

– Kannten Sie diesen?

– Nicht im geringsten.

– Sie haben da aber doch bald erfahren, daß das ein Bankangestellter des Hauses der Gebrüder Johausen, ein gewisser Poch war?

– Ja freilich; der ziemlich plauderhafte Mann hat sich ja fast unausgesetzt mit dem Schaffner des Wagens unterhalten.

– Er sprach da von persönlichen Angelegenheiten?

– Von nichts anderem.

– Und was äußerte er da?

– Daß er im Auftrage der Herren Johausen nach Reval ginge.

– Schien er es nicht sehr eilig zu haben mit der Rückkehr nach Riga, wo er sich verheiraten wollte?

– Jawohl, Herr Richter, soweit ich mich seiner Worte erinnere, denn ich hörte nur mit halbem Ohre auf das Gespräch der Beiden, das mich ja nicht interessierte.

– Nicht interessierte? fiel da der Major Verder ein.

– Gewiß nicht, antwortete Nicolef mit einem verwunderten Blicke auf den Major. Warum sollte ich Interesse für das gehabt haben, was der Mann schwätzte?

– Das ist gerade, was durch die mir obliegende Untersuchung aufgeklärt werden soll«, erwiderte Kerstorf.[144]

Auf diese Antwort machte der Privatlehrer eine Bewegung wie einer, der nicht begriffen hat, was man zu ihm sagte.


 »Was kann er von dir wollen?« (S. 142.)
»Was kann er von dir wollen?« (S. 142.)

»Hatte dieser Poch, fuhr der Beamte fort, nicht eine Mappe bei sich, eine von der Art, wie sie Bankdiener gewöhnlich zum Befördern von Geldern tragen?

– Das ist möglich, Herr Richter, bemerkt hab ich es aber nicht.

– Sie können also nicht sagen, ob er eine solche, vielleicht aus Unvorsichtigkeit, hat auf der Sitzbank liegen oder anderen Personen sehen lassen, die an den Pferdewechselstellen an den Wagen herankamen?[145]

– Ich saß in meinen Mantel gehüllt immer in der Ecke, habe wohl auch öfters unter der Kapuze längere Zeit geschlafen und deshalb eigentlich kaum gesehen, was mein Reisegefährte tat oder nicht tat.

– Der Schaffner Broks spricht sich, was das Vorhandensein einer solchen Tasche betrifft, mit aller Bestimmtheit aus, daß Poch eine Mappe bei sich führte.

– Ja, Herr Richter, wenn der Mann das behauptet, wird es ja richtig sein. Ich freilich kann seine Aussage weder bestätigen noch widerlegen.

– Sie haben mit Poch gar nicht gesprochen?

– Wenigstens während der Fahrt nicht. Die ersten Worte haben wir miteinander gewechselt, als wir nach dem Unfalle mit dem Postwagen eine Unterkunft aufsuchten.

– Und den ganzen Tag über haben Sie, die Kapuze sorgsam über den Kopf gezogen, in Ihrer Ecke gesessen?

– Sorgsam, Herr Richter?... Warum sorgsam? fragte Nicolef, der bei dem Worte gestutzt hatte.

– Weil es Ihnen, wie es scheint, sehr darauf ankam, unerkannt zu bleiben.«

Der Major Verder war es, der, das Verhör aufs neue unterbrechend, diese Bemerkung, die offenbar einer Beschuldigung gleichkam, eingeschaltet hatte.

Jetzt reagierte Nicolef darauf nicht so lebhaft, wie auf das von dem Richter ausgesprochene Wort. Einen Augenblick schwieg er, dann sagte er ruhig:

»Zugegeben, daß mir daran gelegen gewesen wäre, unerkannt zu reisen, so glaube ich doch, daß dazu in Livland wie anderwärts jeder freie Mann das Recht hat!

– Eine weise Vorsicht, versetzte der Major, um nicht von Zeugen wieder erkannt zu werden, denen man gegenübergestellt werden könnte.«

Das war wieder eine schwerwiegende Anspielung, deren Ernst der Privatlehrer nicht verkennen konnte und vor der er sichtlich erblaßte.

»Kurz, fuhr der Richter fort, Sie leugnen doch nicht, an jenem Tage den Bankbediensteten Poch zum Reisegefährten gehabt zu haben?...

– Nein, wenigstens wenn das Poch war, der mit mir in der Post saß.

– Darüber besteht kein Zweifel,« ließ der Major Verder sich vernehmen.

Kerstorf setzte die Befragung fort.

»Die Fahrt verlief von einem Pferdewechsel zum anderen ohne jeden Zwischenfall. Zu Mittag wurde eine Stunde Aufenthalt genommen, um etwas[146] zu essen. Sie haben sich da, in einer dunkleren Ecke der Gaststube, von den anderen gesondert auftragen lassen, immer dem Anscheine nach in der Absicht, unerkannt zu bleiben. Dann ist die Post weiter gefahren. Das Wetter war sehr schlecht. Die Pferde konnten gegen den Sturm kaum aufkommen. Später, etwa halb sieben Uhr abends, ist ein Unfall eingetreten. Eines der Pferde war gestürzt, der Wagen, dessen Vorderachse gebrochen war, kam zum Umfallen...

– Darf ich erfahren, Herr Richter, sagte da Nicolef, warum Sie und in welchem Interesse Sie diese Einzelheiten hier anführen?

– Im Interesse der Justiz, Herr Nicolef. Als der Schaffner Broks sich überzeugt hatte, daß mit dem Wagen nicht mehr bis zur nächsten Pferdewechselstelle, der in Pernau, zu kommen war, ist der Vorschlag aufgetaucht, in einer Schenke zu übernachten, die an der Landstraße gegen zweihundert Schritt weit von der Unfallsstelle lag, und Sie sind es gewesen, der auf diese Schenke aufmerksam gemacht hat.

– Die ich bisher aber nicht kannte, Herr Richter, und an jenem Abend zum ersten Male betreten habe.

– Mag sein. Gewiß ist es aber, daß Sie vorgezogen haben, darin die Nacht zu verbringen, statt sich mit dem Schaffner und dem Postillon noch nach, Pernau zu begeben.

– Ganz recht, ich hatte keine Lust, noch gegen zwanzig Werst in dem abscheulichen Wetter zurück zulegen, und zog es deshalb vor, jene Schenke mit dem Bankbediensteten aufzusuchen...

– Den Sie erst dazu bestimmt hatten, Ihnen zu folgen.

– Ich... ich hatte ihn zu gar nichts bestimmt, erklärte Nicolef. Bei dem Unfalle mit dem Postwagen verletzt – er hatte eine Quetschung und Hautabschürfung am Bein davongetragen – wäre er gar nicht imstande gewesen, die Strecke, die uns noch von Pernau trennte, zurückzulegen. Es war wirklich ein Glück für ihn, daß jene Schenke...

– Ein Glück für ihn!« platzte der Major Verder heraus, der, nicht so kaltblütig wie der auf alles gefaßte Beamte, bei diesen Worten fast einen Sprung machte.

Dimitri Nicolef drehte sich um, zuckte aber nur etwas verächtlich mit den Schultern.

Kerstorf, dem ja daran lag, das Verhör nicht aus der Richtung, in die er es geleitet hatte, ablenken zu lassen, beeilte sich, weitere Fragen zu stellen.[147]

»Der Schaffner und der Postillon sind zu derselben Zeit nach Pernau fortgeritten, wo Sie beide den Kabak 'Zum umgebrochenen Kreuze' erreichten?

– 'Zum umgebrochenen Kreuze'? wiederholte Nicolef. Ich wußte nicht, daß das kleine Gasthaus diesen Namen führte.

– Als Sie mit Poch dort eintrafen, wurden Sie von dein Schenkwirt Kroff empfangen. Sie verlangten von ihm ein Zimmer für die Nacht, und Poch ebenfalls. Kroff hat Ihnen angeboten, etwas zu Abend zu essen, was Sie abschlugen, während der Bankbeamte darauf einging.

– Ja, weil mir daran nichts gelegen war.

– Woran Ihnen aber mehr lag, Herr Nicolef, das war, am nächsten Morgen noch vor Tagesanbruch weiterzugehen, ohne den Postschaffner abzuwarten. Sie haben diese Absicht auch dem Gastwirt Kroff mitgeteilt und sich dann sofort in Ihr Zimmer zurückgezogen.

– Gewiß, so ist es gewesen, bestätigte der Lehrer, dem man schon anmerkte, daß diese unausgesetzten Fragen ihn belästigten.

– Ihr Zimmer lag links von der Gaststube, worin noch einige Kunden Kroffs beim Abendtrunk saßen, und es nahm das Ende der betreffenden Hausseite ein.

– Das weiß ich nicht, Herr Richter. Ich wiederhole Ihnen, daß mir das kleine Gasthaus, in das ich zum ersten Male den Fuß setzte, ganz unbekannt war. Und obendrein war es schon finster, als ich hinkam, und noch finster, als ich wieder fortging.

– Ohne den Postschaffner abzuwarten, ein Umstand, auf den ich besonderes Gewicht lege, bemerkte Kerstorf, ohne den Schaffner abzuwarten, der Sie nach Wiederherstellung des Wagens abholen sollte.

– Ohne den Mann abzuwarten, bestätigte Nicolef, da ich bis Pernau nur noch zwanzig Werst zu gehen hatte.

– Mag sein. Sie geben aber wohl zu, diesen Entschluß erst an jenem Abend gefaßt und ihn am Morgen um vier Uhr ausgeführt zu haben?«

Dimitri Nicolef schwieg still.

»Jetzt, fuhr Kerstorf fort, wäre ich so weit, eine Frage an Sie zu richten, deren Beantwortung Ihnen voraussichtlich nicht unbequem erscheint.

– Bitte, Herr Richter.

– Was war der Grund Ihrer Reise, einer Reise, zu der Sie sich so schnell und mit Geheimhaltung entschlossen, von der Sie nicht einmal am[148] Tage vorher Ihren Zöglingen, die darum befragt worden sind, gesprochen hatten?«

Diese Frage schien Nicolef arg in Verlegenheit zu setzen.

»Persönliche Angelegenheiten, sagte er endlich.

– Welcher Art?

– Darüber brauche ich mich hier wohl nicht auszusprechen.

– Sie weigern sich zu antworten?

– Ja, ich weigere mich.

– Würden Sie wenigstens angeben, wohin Sie von Riga aus gehen wollten?

– Auch das kommt hier wohl nicht in Frage.

– Sie hatten einen Platz bis Reval bezahlt. Hatten Sie in Reval etwas zu besorgen?«

Keine Antwort.

»Mir scheint, das wird eher in Pernau der Fall gewesen sein, fuhr der Richter fort, da Sie die Rückkehr des Postwagens nach dem Kabak 'Zum umgebrochenen Kreuze' nicht abwarten zu sollen glaubten.«

Dimitri schwieg noch immer.

»Doch hören Sie weiter, sagte der Richter. Sie sind nach der Aussage des Gastwirts gegen drei Uhr morgens aufgestanden. Der Mann hat sein Lager da gleichzeitig verlassen. Als Sie dann in den Mantel gehüllt und die Kapuze, wie am Tage vorher, über den Kopf gezogen aus dem Zimmer getreten sind, so daß man von Ihrem Gesicht kaum etwas sehen konnte, hat Kroff Sie noch gefragt, ob Sie eine Tasse Tee oder ein Gläschen Branntwein wünschten. Das haben Sie abgelehnt und nur Ihr Nachtlager bezahlt. Dann hat Kroff, nach Entfernung der Vorlegebalken an der Tür deren Schloß mit dem Schlüssel, den er bei sich trug, geöffnet, und Sie haben sich, ohne noch ein Wort zu äußern, eiligen Schrittes entfernt und sind inmitten der Dunkelheit auf der Landstraße nach Pernau zu gegangen. Stimmt von dem, was ich eben gesagt habe, etwa nicht jede Einzelheit?

– Nein, es stimmt alles.

– Nun zum letzten Male: Wollen Sie mir den Grund Ihrer Reise und auch noch mitteilen, wohin Sie sich von Riga aus begeben wollten?

– Herr Richter Kerstorf, erklärte jetzt Dimitri Nicolef eisigkalten Tones, ich begreife nicht, wozu alle diese Fragen dienen sollen, ebensowenig, warum ich[149] überhaupt hier aufs Gericht gerufen worden bin. Ich habe dennoch auf alle Fragen geantwortet bei denen ich mich dazu verpflichtet glaubte... auf andere freilich nicht. Das halte ich für mein gutes Recht. Ich bemerke übrigens hierzu, daß ich im guten Glauben gehandelt habe. Wollte ich es verheimlichen, diese Reise gemacht zu haben – und das aus Gründen, worüber mir doch allein ein Urteil zusteht – wollte ich leugnen, daß ich jener Passagier der Post und der Begleiter des erwähnten Bankbediensteten gewesen sei, wie könnten Sie mich des Gegenteils überführen, da, Ihrer eigenen Aussage nach, weder der Schaffner, noch Poch oder irgend jemand anderer mich hatte erkennen können, da ich so viele Vorsichtsmaßregeln beobachtet hätte, unerkannt zu bleiben?«

Hierzu die Bemerkung, daß Dimitri Nicolef das alles mit großer Selbstbeherrschung sagte, der sich indessen ein gewisser Zug von Verachtung beimischte. Desto erstaunter mußte er freilich über die nächste Gegenrede des Beamten sein.

»Wenn Poch und Broks auch nicht wissen konnten, wer Sie waren, Herr Nicolef, so ist doch ein anderer Zeuge vorhanden, der Sie erkannt hat, er...

– Ein anderer Zeuge?

– Ja, einer, dessen Aussage Sie sofort hören werden.«

Der Richter wendete sich an einen Polizisten.

»Führt mir den Brigadier Eck herein«, sagte er.

Einen Augenblick darauf trat der Brigadier ins Bureau, begrüßte seinen Vorgesetzten mit der gewohnten militärischen Ehrenbezeugung und wartete darauf, von Kerstorf befragt zu werden.

»Sie sind der Brigadier Eck von der sechsten Abteilung?« begann dieser.

Der Brigadier gab seinen vollen Namen und seine Stellung an, während Dimitri Nicolef ihn ansah wie einen, den er das erste Mal zu Gesicht bekäme.

»Haben Sie sich am vergangenen dreizehnten April noch am Abend im Kabak 'Zum umgebrochenen Kreuze' befunden?

– Gewiß, Herr Richter. Ich kam dahin auf dem Rückwege von einer Suche längs der Pernowa, wo wir einen Flüchtling verfolgt hatten, der auf die im Flusse hinabtreibenden Schollen sprang.«

Auf diese Antwort konnte Dimitri Nicolef eine gewisse Bewegung nicht unterdrücken, die Kerstorf auffiel. Der Richter unterließ aber jede darauf bezügliche Bemerkung und wendete sich nun wieder an den Brigadier.

»Teilen Sie uns mit, was Sie zu sagen haben.«

Der Brigadier tat das mit folgenden Worten:[150]

»Ungefähr seit zwei Stunden befand ich mich mit einem meiner Leute im Kabak 'Zum umgebrochenen Kreuze', und wir rüsteten uns schon, nach Pernau aufzubrechen, als sich die Tür zum Gastzimmer öffnete. Auf der Schwelle erschienen zwei Herren, offenbar zwei Reisende. Ihr Wagen war auf der Landstraße zerbrochen, und so suchten sie in jener Schenke Unterkommen. während der Schaffner und der Postillon auf den Bespannpferden nach Pernau weggeritten waren. Der eine der beiden Reisenden war der Bankbeamte Poch aus Riga, den ich schon lange kannte, und mit dem ich an jenem Abend etwa noch zehn Minuten gesprochen habe. Der andere Reisende fiel mir auf, weil er offenbar das Gesicht unter der Kapuze seines Mantels zu verbergen bemüht war. Das erschien mir verdächtig, und ich suchte deshalb zu erforschen, wer dieser Fremde sein möchte.

– Damit hast du nur deine Pflicht getan, Eck, warf der Major Verder ein.

– Poch, berichtete der Brigadier weiter, der, am Fuße leicht verletzt, an einem Tische saß, hatte eine Mappe mit den Anfangsbuchstaben der Firma Gebrüder Johausen neben sich gelegt. Da sich noch fünf oder sechs Leute in der Gaststube befanden, empfahl ich Poch, die Geldmappe, die übrigens an seinem Gürtel noch mit einer Kette befestigt war, nicht unnötig sehen zu lassen. Dann trat ich näher an die Tür und beobachtete den Unbekannten, den Kroff schon nach seinem Zimmer führte. Da glitt dessen Kapuze zufällig zurück, und ich konnte einen Augenblick, doch nur einen Augenblick, das Gesicht darunter sehen.

– Und das hat Ihnen genügt?

– Vollkommen, Herr Richter.

– Sie erkannten den Betreffenden?

– Natürlich; ich hatte ihn ja in Riga oft genug auf der Straße gesehen.

– Das war also Herr Dimitri Nicolef?

– Wie Sie sagen.

– Der, der jetzt hier anwesend ist?

– Derselbe.«

Der Privatlehrer, der diese Aussage, ohne sie zu unterbrechen, voll Spannung angehört hatte, nahm jetzt das Wort.

»Der Brigadier, bestätigte er, hat sich nicht getäuscht. Ich glaube, schon weil er es behauptet, daß er sich damals in jenem Kabak befunden hat, nur habe ich auf ihn nicht Acht gehabt, während er mich beobachtet hat. Übrigens, Herr Richter, begreife ich nicht, warum Ihnen daran liegen konnte, uns einander[151] gegenüberzustellen, da ich doch schon allein erklärt hatte, jene Nacht in dem Gasthause 'Zum umgebrochenen Kreuze' gewesen zu sein.

– Das werden Sie sofort erfahren, Herr Nicolef, antwortete der Beamte. Vorher aber frage ich Sie nochmals: Weigern Sie sich, anzugeben, was der Grund Ihrer Reise gewesen war?

– Ich weigere mich... jetzt wie vorher.

– Das kann für Sie unangenehme Folgen haben.

– Unangenehme?... Warum denn?

– Weil eine Aufklärung darüber dem Gerichte vielleicht erspart hätte, Sie überhaupt persönlich wegen eines Vorfalles zu belästigen, der sich in jener Nacht im Kabak 'Zum umgebrochenen Kreuze' zugetragen hat.

– In jener Nacht? wiederholte der Lehrer.

– Ja. Haben Sie in der zwischen acht Uhr abends und drei Uhr morgens verflossenen Zeit gar nichts Auffälliges gehört?

– Nein, denn ich habe bis zu der Minute, wo ich aufstand, fest geschlafen.

– Auch nichts Verdächtiges bemerkt, als Sie fortgingen?

– Gar nichts.«

Mit einer Stimme, die nichts von Aufregung oder Beunruhigung verriet, setzte Dimitri Nicolef noch hinzu.

»Ich fange an zu ahnen, Herr Richter, daß ich hier in einer sehr ernsthaften Angelegenheit wider meinen Willen eine gewisse Rolle spiele, und daß Sie mich als Zeugen aufgerufen haben.

– Als Zeugen... o nein, Herr Nicolef.

– Nein, aber als Angeschuldigten! rief der Major Verder.

– Herr Major, verwies ihn der Richter strengen Tones, greifen Sie dem Gerichte nicht vor und erwarten Sie dessen Entscheidung!«

Der Major mußte diese Rüge hinnehmen, und es schien, als murmelte Dimitri Nicolef gleichzeitig etwa die Worte:

»Ah... also deshalb hat man mich hierher gerufen.«

Dann fragte er aber mit sicherer Stimme:

»Wessen werde ich beschuldigt?

– Der Bankbedienstete Poch ist in der Nacht vom dreizehnten zum vierzehnten April im Kabak 'Zum umgebrochenen Kreuze' ermordet worden.

– Der Unglückliche ist ermordet worden? rief Nicolef.[152]

– Ja, antwortete Kerstorf, und wir haben die Überzeugung, daß sein Mörder der Reisende gewesen ist, der das Zimmer, das Sie innehatten, einnahm.

– Und da Sie, Dimitri Nicolef, dieser Reisende waren... ließ sich der Major Verder vernehmen.

– Ich... ich soll der Mörder gewesen sein!«

Bei diesen Worten stieß Nicolef seinen Stuhl zurück und wandte sich nach der Tür des Bureaus, vor der der Brigadier Eck stand.


 »Verhaften Sie mich, wenn Sie wollen...« (S. 155.)
»Verhaften Sie mich, wenn Sie wollen...« (S. 155.)

»Sie leugnen das, Dimitri Nicolef? fragte der Richter, der sich ebenfalls erhob.[153]

– Es gibt Dinge, die man zu leugnen gar nicht erst nötig hat, weil sie sich geradezu selbst leugnen, antwortete Nicoles.

– Nehmen Sie sich in Acht!

– Aber ich bitte Sie... das kann doch nicht im Ernst gemeint sein!

– In vollem Ernst.

– Es widerstrebt mir, darüber weiter ein Wort zu verlieren, antwortete der Lehrer, sich stolz aufrichtend. Darf ich aber wissen, warum die Beschuldigung sich eigens und einzig auf den Reisenden richtet, der die Nacht in jenem Zimmer des Kabaks zugebracht hat?

– Weil sich auf der Fensterbank desselben Zimmers, erklärte Kerstorf, deutliche Spuren davon erkennen ließen, daß der Mörder es in der Nacht auf diesem Wege verlassen hat, um ins Zimmer Pochs durch ein Fenster darin, nach Aufsprengung des Ladens, einzudringen, und weil sich das zum Aufbrechen benutzte Schüreisen im Zimmer jenes Reisenden, aber verbogen, wiedergefunden hat.

– Wahrhaftig, meinte Dimitri Nicolef, wenn sich alles das hat feststellen lassen, so ist es mindestens sehr seltsam.«

Dann setzte er, so als ob ihn die Sache gar nichts anginge, noch hinzu:

»Angenommen aber, es wäre ausgeschlossen, nach den gefundenen Spuren zu glauben, daß ein von außen eingedrungener Übeltäter das Verbrechen begangen hätte, so beweisen sie doch keineswegs, daß es nicht erst nach meinem Weggange ausgeführt worden wäre.

– Sie sprechen da eine Beschuldigung des Gastwirtes aus, gegen den die Untersuchung an Ort und Stelle doch keinerlei Verdacht ergeben hat.

– Ich beschuldige niemand, Herr Richter, entgegnete Dimitri Nicolef eher noch etwas stolzer, ich habe aber doch wohl das Recht auszusprechen, daß meine Person wohl die letzte hätte sein dürfen, die die Gerichte mit einem Verdachte wegen dieser Schandtat belasteten!

– Der Mord ist auch noch mit einem Diebstahl verknüpft, sagte da der Major Verder, und die Rubel, die der Getötete für Rechnung der Herren Johausen in Reval abliefern sollte, sind spurlos verschwunden.

– Ja, was hat das aber mit mir zu tun?«

Der Richter beeilte sich, das Zwiegespräch zwischen dem Lehrer und dem Major Verder abzuschneiden.

»Sie bleiben also dabei, Dimitri Nicolef, uns weder den Grund Ihrer Reise, noch den Grund dafür mitzuteilen, daß Sie das Gasthaus schon um vier[154] Uhr morgens verließen, und ebenso verweigern Sie die Aussage darüber, wohin Sie von da aus gingen?

– Dabei bleib' ich!

– Nun gut; so bin ich berechtigt, Ihnen von Amts wegen folgendes zu erklären: Es konnte Ihnen nicht unbekannt geblieben sein, daß der Bankbedienstete eine recht ansehnliche Summe bei sich führte. Nach dem Unfalle mit dem Postwagen ist Ihnen, als Sie Poch nach dem Gasthause 'Zum umgebrochenen Kreuze führten, der Gedanke gekommen, das Geld zu rauben. Als der Augenblick Ihnen dazu günstig erschien, sind Sie durch das Fenster Ihres Zimmer hinaus- und durch das des Pochschen Zimmers eingestiegen... dann haben Sie den Schlafenden ermordet, um ihn bestehlen zu können, und wenn Sie den Kabak schon um vier Uhr früh verließen, geschah es, um den geraubten Schatz zu verstecken, wo...

– Wo wir ihn schon noch finden werden, fiel der Major ein.

– Also zum letzten Male, fuhr der Richter fort, wollen Sie uns mitteilen, wohin Sie sich von jenem Gasthause aus gewendet haben?

– Zum letzten Male: Nein! antwortete der Privatlehrer. Verhaften Sie mich, wenn Sie wollen...

– Nein, Herr Nicolef, schloß der Beamte zum größten Erstaunen des Majors Verder. Es liegen zwar sehr gewichtige Verdachtsgründe gegen Sie vor, doch den Befehl, einen Mann in Ihrer Stellung und von lebenslang erprobter Ehrenhaftigkeit zu verhaften, den unterzeichne ich nicht... wenigstens heute nicht. Sie sind frei, doch halten Sie sich jederzeit dem Gerichte zur Verfügung.«

Quelle:
Jules Verne: Ein Drama in Livland. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXV, Wien, Pest, Leipzig, 1905, S. 140-155.
Lizenz:

Buchempfehlung

L'Arronge, Adolph

Hasemann's Töchter. Volksstück in 4 Akten

Hasemann's Töchter. Volksstück in 4 Akten

Als leichte Unterhaltung verhohlene Gesellschaftskritik

78 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon