Zwölftes Kapitel.
Wladimir Yanof.

[172] Der Leser möge sich jetzt gefälligst um vierzehn Tage, bis zum Anfang dieser Geschichte, zurückversetzen.

Da erscheint ein Mann am östlichen Ufer des Peipussees. In der Nacht wagt er sich über die Eisschollen, die, wirr durch- und übereinander geschoben, die Fläche des Sees bedecken. Eine Patrouille von Zollwächtern, die auf der Spur eines Paschers zu sein glaubt, folgt ihm nach und gibt auf ihn Feuer in dem Augenblicke, wo er für sie hinter Eisblöcken verschwindet. Der Mann bleibt unversehrt und es gelingt ihm, in eine Fischerhütte zu flüchten, worin er sich den Tag über verborgen hält.

Am Abend macht er sich von neuem auf den Weg, muß vor einer Herde Wölfen flüchten und findet Unterschlupf in einer Windmühle, aus der der wackere Müller ihm ein Entweichen ermöglicht. Sehr bald von einer Patrouille des Brigadiers Eck verfolgt, rettet er sich wie durch ein Wunder noch einmal, indem er es wagt, auf hinabtreibende Eisschollen der Pernowa zu springen. Ein Wunder war es gewiß, daß er in dem Schollentreiben des Flusses nicht umgekommen ist, und daß er sich einige Zeit hatte in Pernau aufhalten können, ohne entdeckt zu werden.[172]

Wladimir Yanof ist der Sohn Johann Yanofs, eines alten Freundes Dimitri Nicolefs, der diesem kurz vor seinem Tode sein ganzes Vermögen zur Aufbewahrung anvertraut hatte. Dieses Depot von zwanzigtausend Rubeln sollte Wladimir Yanof zurückgegeben werden, wenn der Verbannte in seine Heimat zurückkehrte.. vorausgesetzt, daß das jemals der Fall war.

Wir wissen ja, infolge welcher politischen Ereignisse er tief nach dem östlichen Sibirien und nach den Salzbergwerken von Munisinsk verschickt worden war. Das Gericht hatte ihn zu lebenslänglicher Deportation verurteilt. Konnte da seine Verlobte, Ilka Nicolef, noch die Hoffnung hegen, daß er ihr je zurückgegeben werde, daß er eines Tages in seiner Adoptivfamilie, der einzigen, die ihm auf Erden verblieben war, Glück und Ruhe finden werde?...

Nein, wohl kaum; jedenfalls würden sich die beiden niemals wiedersehen, wenn Ilka nicht die Erlaubnis bekam, ihm in die Verbannung zu folgen oder... wenn es ihm nicht gelang, zu entfliehen.

Nach vier qualvollen Jahren ist er aber entflohen und hat die sibirischen und die europäischen Steppen des russischen Reiches unter tausend Schwierigkeiten durchmessen.

So ist er bis Pernau gekommen, wo er hoffte, sich nach Frankreich oder England einschiffen zu können. Dort hat er sich versteckt und die Polizei irre zu führen verstanden, während er nach einem Schiffe spähte, das ihn aufnehmen würde, sobald die Ostsee genügend eisfrei geworden wäre.

In Pernau angelangt, sah sich Wladimir Yanof aber am Ende seiner Mittel. Er schrieb deshalb an Dimitri Nicolef, und dieser Brief war es gewesen, der den Lehrer zu seiner Reise veranlaßte, um dem Sohne die ihm von dessen Vater anvertrauten Gelder auszuhändigen.

Hatte Nicolef vor seiner Reise weder gegen seine Tochter, noch gegen seine Freunde etwas erwähnt, so geschah das, weil er sich erst von der Anwesenheit Wladimirs in Pernau überzeugen wollte, und heimgekehrt, schwieg er ebenso, weil der Verbannte ihn hatte schwören lassen, Ilka von seinem Verstecktsein in Pernau nichts zu sagen, jedenfalls nicht eher, als bis ein zweiter Brief ihm meldete, daß der Flüchtling im Auslande und in Sicherheit sei.

Dimitri Nicolef hatte Riga also heimlich verlassen. Seinen Platz in der Post bezahlte er bis nach Reval, um niemand vermuten zu lassen, wohin er sich begäbe, er hatte sich aber von Anfang an vorgenommen, die Post in Pernau zu verlassen, wo er im Abenddunkel einzutreffen hoffen durfte, und ohne den[173] Wagenunfall zwanzig Werst vor seinem Ziele wäre die Fahrt ja auch in erwünschtester Weise verlaufen.

Wir wissen schon, welch beklagenswerte Verkettung von Umständen den Plan Dimitri Nicolefs vereiteln sollte. In Gesellschaft mit dem Bankbeamten hatte er eine Nacht im Kabak »Zum umgebrochenen Kreuze« zubringen müssen. Von hier war er um vier Uhr morgens aufgebrochen, um nach Pernau zu wandern, da ihm das ratsamer erschien, als die Rückkehr des Postschaffners abzuwarten und jetzt... jetzt beschuldigte man ihn, seinen Reisegenossen ermordet zu haben!

Als Dimitri Nicolef die Schenke an der Landstraße verließ, war es noch völlig finster, und in der Hoffnung, ungesehen zu bleiben, eilte er auf dem noch ganz verlassenen Wege nach Pernau. Nach zweistündiger schneller Wanderung traf er mit Sonnenaufgang in Pernau ein und begab sich sofort nach dem Gasthause, wo Wladimir unter falschem Namen wohnte.

Welche Freude für die beiden Männer, einander nach so langer Trennung, nach so schweren Prüfungen und so vielen Gefahren wiederzusehen!

Fand hier nicht ein Vater gleichsam seinen Sohn wieder? Nicolef übergab Wladimir ein wohlverschlossenes Paket, das Johann Yanofs gesamtes Vermögen enthielt, und da ihm danach verlangte, der Einschiffung des Entwichenen beizuwohnen, blieb er zwei Tage bei diesem. Die Abfahrt des Schiffes, auf dem Wladimir Yanof Passage genommen hatte, verzögerte sich aber unerwarteterweise, und da Dimitri Nicolef kaum länger fern zu bleiben wagen durfte, mußte er nach Riga zurückkehren. Der junge Mann trug ihm die zärtlichsten Grüße an Ilka auf, ließ ihn dabei aber hoch und teuer versprechen, seiner Verlobten von seiner Flucht nicht eher Mitteilung zu machen, als bis er vor der schrecklichen moskowitischen Polizei sicher in Schutz wäre. Er würde ihm schreiben, sobald er das melden könnte, und vielleicht konnte der Lehrer dann mit Ilka zu ihm kommen.

Nicolef umarmte Wladimir, verließ Pernau und traf in der Nacht vom 16. zum 17. wieder in Riga ein, natürlich ohne eine Ahnung von der furchtbaren Anklage, die man gegen ihn erhoben hatte.

Dem Leser ist bekannt, mit welch stolzem Selbstbewußtsein der Lehrer diese Beschuldigung zurückwies oder sie vielmehr verachtete, welche Haltung er vor dem Untersuchungsrichter bewahrte; ebenso wie der Beamte dringend darauf bestand, daß Nicolef sich über den Zweck seiner Reise äußern und angeben sollte,[174] wohin er sich von der Schenke »Zum umgebrochenen Kreuze« begeben habe. Dimitri Nicolef verweigerte darüber aber jede Auskunft. Er wollte davon nicht eher sprechen, als bis er aus einem Briefe Wladimirs erfahren hätte, daß sich der Verbannte in Sicherheit befände. Ein solcher Brief kam leider nicht an, und wir wissen ja, mit welcher Ungeduld ihn Nicolef die beiden letzten Tage erwartete. Jetzt aber, wo er, verdächtigt durch sein hartnäckiges Schweigen, das er nicht brechen wollte, von seinen politischen Gegnern mit unerbittlichem Hasse verfolgt und von der wütenden Volksmenge mit dem Tode bedroht, in Haft genommen werden sollte, jetzt erschien Wladimir Yanof selbst auf der Bildfläche.

Und jetzt wußten alle, wer er war, dieser Verbannte, der nach Riga hergeeilt war. Als die Haustür sich öffnete, fiel Wladimir Yanof dem Dimitri Nicolef in die Arme, er drückte die Verlobte stürmisch an sein Herz, umarmte Jean, drückte die Hände, die sich ihm entgegenstreckten und erklärte angesichts des Obersten und des Majors Verder, die ihm auf dem Fuße gefolgt waren:

»Ja... in Pernau war ich... doch als ich dort hörte, welchen Verbrechens Nicolef geziehen worden sei, als ich vernahm, man beschuldige ihn, der Urheber des Verbrechens im 'Umgebrochenen Kreuze' zu sein, als die Tagesblätter verkündigten, daß er sich weigerte, die Veranlassung zu seiner Reise anzugeben, obwohl er nur ein Wort zu sagen, nur einen Namen, den meinigen, zu nennen brauchte, sich zu rechtfertigen, und daß er das dennoch nicht tat, um mich nicht zu gefährden, da habe ich nicht länger zögern können, habe ich eingesehen, was meine Pflicht war, und habe Pernau verlassen, und da bin ich nun hier!... Was du für mich hast tun wollen, Dimitri Nicolef, du, der bewährte Freund Johann Yanofs und mein zweiter Vater, das beschloß ich, für dich zu tun.

– Und daran hast du unrecht getan, Wladimir... schwer unrecht, Wladimir!... Ich bin ja unschuldig, hatte nichts zu fürchten und befürchtete auch nichts; meine Schuldlosigkeit mußte doch bald an den Tag kommen.

– Ich... ich hätte nicht recht gehandelt, Ilka? wendete sich Wladimir an Ilka.

– Antworte darauf nicht, mein Kind, sagte Nicolef, du bist nicht berufen, zwischen deinem Vater und deinem Verlobten eine Entscheidung zu fällen. Ich achte dich hoch, Wladimir, wegen dessen, was du tun zu müssen glaubtest, doch ich tadle dich, weil du es getan hast. Bei besserer Überlegung würdest du begriffen haben, daß es wichtiger gewesen wäre, erst dich in Sicherheit zu bringen. Von da aus hättest du geschrieben, und nach Empfang deines Briefes würde[175] ich gesprochen, würde ich die Gründe zu meiner Reise dargelegt haben. Konnte ich denn nicht mehr die wenigen Tage schwerer Prüfung auf mich nehmen, damit du erst Schutz vor weiterer Gefahr fändest?

– Liebster Vater, fiel da Ilka mit fester Stimme ein, du wirst eine Antwort von mir doch anhören müssen. Was auch kommen möge: Wladimir hat ehrenhaft und recht gehandelt, und mein ganzes Leben wird nicht ausreichen, ihm den Dank dafür abzutragen.

– O, Dank... tausend Dank, Ilka! rief Wladimir. Ich bin schon dadurch belohnt genug, daß ich es deinem Vater ersparen konnte, seine Ehre auch nur einen Tag länger angezweifelt zu sehen!«

Nach dem mannhaften Auftreten Wladimir Yanofs mußte die Schuldlosigkeit Dimitri Nicolefs ja ohne weiters anerkannt werden. Die Nachricht davon war sofort nach außen gedrungen. Daß die Herren Johausen ihr mit gehässiger Starrsinnigkeit keinen Glauben beimessen wollten, daß der Major Verder einen Slawen nur mit Bedauern von der gegen ihn erhobenen Anklage befreit sah, daß die Freunde des Bankiers dem unerwarteten Zwischenfall gegenüber noch allerlei Bedenken trugen, ist ja kaum zu verwundern, und es wird sich bald zeigen, ob sie schon die Waffen vor dem gestreckt hatten, was eigentlich so gut wie ein Beweis war.

Es ist ja aber bekannt, mit welcher, oft unlogischen und auch oft nicht dauernden Schnelligkeit sich ein Umschwung der öffentlichen Meinung vollzieht, und das kam auch im vorliegenden Falle zum Vorschein. Jetzt war schon nicht mehr davon die Rede, Dimitri Nicolefs Haus zu stürmen... alle Köpfe hatten sich beruhigt, und die Polizei hatte nicht mehr nötig, über die Sicherheit des Lehrers zu wachen.

Zunächst galt es nur noch zu entscheiden, was mit Wladimir Yanof geschehen sollte. Hatte ihn auch nur sein Ehrgefühl, sein geschärftes Pflichtbewußtsein nach Riga geführt, so blieb er dennoch ein politisch verurteilter Flüchtling aus den Bergwerken Sibiriens.


Er hat die Steppen des russischen Reiches durchmessen. (S. 173.)
Er hat die Steppen des russischen Reiches durchmessen. (S. 173.)

Dem gab auch der Oberst Raguenof mit einer Stimme Ausdruck, worin sich offenbares Wohlwollen mit einer gewissen Zurückhaltung des moskowitischen Beamten und Chefs der Polizei mischte.

»Wladimir Yanof! sagte er, Sie haben die Acht gebrochen und das muß ich dem Gouverneur dienstlich melden. Ich werde jetzt also den General Gorko aufsuchen, sehe aber kein Hindernis, Sie bis zu meiner Rückkehr in diesem[176] Hause zu lassen, wenn Sie Ihr Wort verpfänden, inzwischen keinen Fluchtversuch zu unternehmen.

– Mein Wort darauf, Herr Oberst,« antwortete Wladimir.

Der Oberst Raguenof ließ Eck mit dessen Mannschaft auf der Straße und machte sich sofort auf den Weg.

Wir dürfen es wohl unterlassen, die rührende Szene zu schildern, die sich jetzt zwischen Jean, Ilka und Wladimir abspielte. Der Doktor Hamine und der Konsul Delaporte hatten die Überglücklichen allein gelassen. Das war eine kurze[177] Zeit des Glücks, wie es die Familie des Lehrers seit langer Zeit nicht mehr kannte. Die Drei sahen einander ja endlich wieder, sprachen miteinander und schmiedeten fast schon Zukunftspläne. Niemand dachte augenblicklich an die Lage Wladimir Yanofs, an seine frühere Verurteilung und ebensowenig an die Folgen seiner Flucht, die ja recht schlimme sein konnten.

Nach einer Stunde kam der Oberst Raguenof zu rück.

»Auf Befehl des Generals Gorko, begann er, an Wladimir gewendet, werden Sie sich nach der Feste von Riga begeben und dort die weiteren Maßnahmen abwarten, deren Anordnung man von Petersburg erbitten wird.

– Ich bin bereit zu gehorchen, Herr Oberst, erklärte Wladimir Yanof ruhig. – Gott befohlen, lieber Vater, sagte er zu Nicolef, lebe wohl, mein Bruder – zu Jean – und die Hand Ilkas ergreifend: Gott behüte dich, herzliebe Schwester...

– Nein... dein Weib!« antwortete das junge Mädchen.

Dann kam die Trennung... wer hätte wissen können, für wie lange?

Von diesem Tage an wendete sich das außerordentliche Interesse an dieser noch lange nicht abgeschlossenen Angelegenheit fast ausschließlich dem Verbannten zu, der nicht gezögert hatte, zur Entlastung des Angeschuldigten seine Freiheit, ja – er galt ja als politischer Verbrecher – sein Leben aufs Spiel zu setzen. Es wäre wahrlich schwer gewesen, seine Handlungsweise nicht zu bewundern, wie man daneben auch über Dimitri Nicolef denken mochte. Selbst im Lager der Gegner priesen vorzüglich die Frauen um die Wette den hohen Edelmut, der Wladimir Yanof bei seinem Tun geleitet hatte. Ein wenig erweckte deren Teilnahme für ihn wohl auch seine Liebe zu Ilka, und das grausame Schicksal, gerade da voneinander gerissen zu werden, wo beide für immer verbunden werden sollten. Jetzt fragte man sich nun besorgt, was der Kaiser in diesem Falle beschließen und ob man den Flüchtling nach Sibirien zurückschicken werde, das dieser unter so vielen Mühseligkeiten und Gefahren – freilich als Bannbrüchiger – verlassen hatte. Würde seine Verlobte nach dem Glücke des so kurzen Wiedersehens verurteilt sein, ihn für immer zu betrauern?... Wenn er die Feste von Riga wieder verließ, würde ihm da seine hochsinnige Tat eine Begnadigung erwirkt haben oder sollte er dann nochmals den Dornenweg in die Verbannung zurücklegen?

Immerhin wäre es ein Irrtum, zu glauben, daß das unerwartete Auftreten Wladimir Yanofs alle von der Unschuld Dimitri Nicolefs überzeugt hätte.[178]

Hier in Riga mit seiner vorwiegend germanischen Bevölkerung konnte das ja kaum anders sein. Vorzüglich die oberen Gesellschaftsklassen gestanden noch keineswegs zu, daß dieser Lehrer, der Vertreter der slawischen Interessen, schon von dem auf ihm lastenden Makel gereinigt sei. Die Tageszeitungen dieser Partei wußten mit erkennbar böswilliger Absicht noch immer das und jenes dagegen einzuwenden. Zunächst war der Mörder Pochs ja noch unentdeckt... man hatte nur ein Opfer, das nach Vergeltung schrie, vor allem durch den Mund der haßerfüllten und unbeugsamen Gegner des moskowitischen Einflusses.

Das Haus der Gebrüder Johausen bildete den Herd, wo dieser Haß am hellsten aufloderte, und hier war man übereingekommen, ihn nicht verlöschen zu lassen.

In diesen Kreisen hatte man gleichsam als Tagesbefehl die Forderung aufgestellt, vorstellig zu werden gegen die Beamten, die in dieser Angelegenheit nicht mit der nötigen Schärfe aufträten. Man scheute sich selbst nicht, daneben durchblicken zu lassen, daß sie unter einem gewissen Druck von oben ständen. War denn Dimitri Nicolef wirklich schon gänzlich außer Verfolgung gesetzt?... Wagte man zu behaupten, daß seine Schuldlosigkeit von niemand mehr angezweifelt würde? Zerstörte das Erscheinen Wladimir Yanofs wohl tatsächlich alle Handhaben, die durch die bisherige Untersuchung des Falles gewonnen worden waren?

Auch Frank Johausen teilte die Ansicht der meisten, vorzüglich der Leute die sich ihre Beute auf keinen Fall entgehen lassen wollten.

»Jetzt weiß man ja, warum Nicolef jene Reise unternommen hatte; er wollte mit Wladimir Yanof in Pernau zusammentreffen... nun ja, das mag auch zugegeben werden. Daß er die Schenke schon früh um vier Uhr verließ, geschah, um Pernau zu Fuß noch zeitig am Morgen zu erreichen... auch das mag richtig sein. Doch hat er die Nacht vom dreizehnten zum vierzehnten im Kabak 'Zum umgebrochenen Kreuze' zugebracht?... Ja oder nein?... Ist Poch in derselben Nacht in dem genannten Kabak ermordet und dann beraubt worden?... Ja oder nein?... Kann der Mörder ein anderer sein als der Reisende, der das Zimmer inne hatte, wo das Werkzeug gefunden wurde, mit dem er sich in das Zimmer des Unglücklichen gewaltsam Zugang verschaffen hat?... War dieser Reisende Dimitri Nicolef?... Ja oder nein?«

In dieser Weise gestellte Fragen mußten ja wohl oder übel eine bejahende Antwort finden. Doch wenn man nun anders fragte, z.B.: Hätte das Verbrechen nicht auch von einem von außen eingedrungenen Übeltäter begangen werden[179] können?... Ja oder nein?... Könnte das nicht ebensogut der Herbergswirt Kroff gewesen sein?... Ja oder nein?... Würde es diesem – vor oder nach dem Weggange des Lehrers – nicht weit leichter als Nicolef gewesen sein, Poch, als dieser schlief, meuchlings zu überfallen?... Ja oder nein?... Wußte dieser Kroff nicht, daß die Mappe des Bankbeamten eine beträchtliche Summe enthielt?... Wie da?...

Die Untersuchung erteilte hierauf zwar die Antwort, daß sich beim Verhör keinerlei Verdachtsgründe gegen den Schenkwirt ergeben hätten, doch diese Antwort brauchte noch nicht unfehlbar richtig zu sein. Anderseits verschloß sich die Behörde ja auch nicht der Annahme, daß der Urheber des Verbrechens einer jener Landstreicher gewesen sein könnte, deren Auftreten gerade aus dem oberen Livland mehrfach gemeldet worden war.

Daran dachte auch der Oberst Raguenof, als er sich am nächsten Tag über die Angelegenheit mit dem Major Verder besprach, freilich ohne daß beide, wie man sich leicht denken kann, darüber zu einer Verständigung kamen.

»Sehen Sie, Major, sagte Raguenos, daß Nicolef in der Nacht durch das Fenster seiner Stube gestiegen wäre, um in die Pochs einzudringen, das erscheint mir doch als eine recht unbegründete Annahme...

– Aber die Spuren... die Schmarren der Fensterbank... unterbrach ihn der Major.

– Diese Spuren?... O, da müßte man doch zunächst wissen, ob es ganz frische waren, und das ist ja in keiner Weise nachgewiesen. Der Kabak 'Zum umgebrochenen Kreuze' liegt völlig vereinsamt an der Landstraße. Ist da die Möglichkeit ausgeschlossen, daß so ein Strauchdieb in jener oder in einer anderen Nacht versucht hätte, da mit Gewalt einzudringen?

– Dazu erlaube ich mir zu bemerken, Herr Oberst, daß der Mörder dann hätte wissen müssen, daß hier ein reicher Fang zu machen wäre. Davon war aber Nicolef hinreichend unterrichtet...

– Und andere nicht minder, fiel der Oberst Raguenos eifrigst ein, denn Poch war so unüberlegt gewesen, davon zu sprechen und seine Mappe jedermann sehen zu lassen. Wußte das Kroff also etwa nicht, oder Broks, der Postschaffner und ebenso dessen Jemschiks, die den Wagen von einem Pferdewechsel zum anderen führten, ganz zu schweigen von den Bauern und Holzfällern, die in der Gaststube der einsamen Schenke saßen, als Nicolef und der Bankbeamte durch deren Tür eintraten?»[180]

Diesen Einwänden ließ sich ein gewisser Wert nicht wohl absprechen. Der Verdacht konnte nicht einzig und allein auf Dimitri Nicolef fallen. Mindestens hätte noch nachgewiesen werden müssen, daß der Privatlehrer sich in so bedrückender Geldverlegenheit befunden habe, daß er, um dieser abzuhelfen, nicht einmal vor einem Raube und gleichzeitig einem Morde zurückgeschreckt wäre.

Trotz alledem wollte der Major sich nicht fügen, sondern beharrte bei seiner Überzeugung von der Schuld Nicolefs.

»Und ich, antwortete ihm darauf der Oberst, ich bleibe dabei, daß die Deutschen immer Deutsche sind.

– Wie die Slawen immer und allezeit Slawen, erwiderte der Major.

– Nun, lassen wir den Richter Kerstorf seine Untersuchung fortsetzen, sagte schließlich der Oberst Raguenof. Wenn die Sache vollständig aufgeklärt ist, wird es noch Zeit sein, das Für und das Wider abzuwägen.«

Der Kriminalbeamte, der sich durch die von politischer Leidenschaft bestimmte öffentliche Meinung nicht im geringsten beeinflussen ließ, betrieb inzwischen die Untersuchung der Angelegenheit mit größter Sorgfalt. Er kannte jetzt – worüber der Lehrer vorher jede Auskunft verweigert hatte – die Gründe für dessen Reise, und das bestärkte ihn in seinem Widerstreben, den Ehrenmann für schuldig zu halten. Wer hatte dann aber das Verbrechen begangen? Wie viele Zeugen hatte er schon aufgerufen: die Postillone, die den Wagen von Riga bis Pernau begleitet hatten, die Bauern und Waldarbeiter, die, als Poch eintraf, in der Schenke beim Abendtrunk saßen, überhaupt alle, die davon wußten oder wissen konnten, was der Bankbeamte in Reval vorhatte, d. h. daß er dort für Rechnung der Gebrüder Johausen einen größeren Geldbetrag abliefern wollte... und doch hatte sich nichts ergeben, was den einen oder den andern belastet hätte.

Der Schaffner Broks wurde wiederholt einem Verhör unterzogen. Besser als jeder andere kannte er alle Verhältnisse Pochs und wußte, daß dieser eine große Summe baren Geldes bei sich hatte. Gegen den wackeren Mann konnte aber auch nicht der leiseste Verdacht aufkommen. Nach dem Unfalle mit dem Postwagen hatte er sich mit den Spannpferden und dem Postillon sofort nach Pernau begeben und dort in der Pferdewechselstelle geschlafen... das stand außer allem Zweifel. Das Alibi war nachgewiesen, und er konnte in der dunkeln Angelegenheit nicht weiter in Betracht kommen.

Das Eingreifen eines Übeltäters, der von draußen gekommen wäre, erschien also so gut wie ausgeschlossen. Wie hätte auch ein Landstreicher, ein Mensch[181] ohne jede Beziehung zu dem Bankbeamten, auf den Gedanken kommen sollen einen Diebstahl zu begehen, wenn er nicht etwa auf irgend eine Weise in Riga erfahren hatte, mit welcher Art Besorgung Poch beauftragt wäre. Dann müßte er diesem aber auch noch mit der Schnellpost nachgeeilt sein, um eine günstige Gelegenheit abzupassen, und müßte sich den Unfall zunutze gemacht haben, der Poch nötigte, im Kabak »Zum umgebrochenen Kreuze« Unterkunft zu suchen.

War eine solche Annahme immerhin denkbar, so lag die Wahrscheinlichkeit doch weit näher, daß das Verbrechen von dem einen oder anderen derer begangen worden wäre, die jene Nacht in der Schenke zugebracht hatten. Dabei kamen aber nur der Schenkwirt selbst und Dimitri Nicolef in Frage.

Seit dem traurigen Vorfalle war Kroff, wie der Leser weiß, unter Überwachung zweier Polizisten im Kabak geblieben. Wiederholt dem Untersuchungsrichter vorgeführt, hatte er mehrere lange und eingehende Verhöre bestanden, doch hatte weder sein Vorleben noch das, was er auf Kerstorfs Fragen antwortete, den leisesten Verdacht gegen ihn aufkommen lassen. Im übrigen vertrat er ebenfalls die Ansicht, daß Dimitri Nicolef der Mörder sein müsse, da es diesem am leichtesten gewesen wäre, das Verbrechen zu begehen.

»Und Sie haben in der Nacht keinerlei Geräusch gehört? fragte ihn der Beamte.

– Nicht das geringste, Herr Richter.

– Es hat aber doch das erste Fenster geöffnet und das zweite sogar aufgesprengt werden müssen...

– Gewiß, doch meine Stube liegt nach dem Hofe hinaus, antwortete Kroff, und die Fenster der zwei anderen Stuben befinden sich an der Straßenseite des Hauses. Außerdem schlief ich jedenfalls fest und dazu tobte jene Nacht ein schrecklicher Sturm, bei dem kaum etwas anderes hörbar gewesen wäre.«

Während Kroff diese Aussagen machte, behielt der Richter ihn scharf im Auge; doch obgleich er gegen den Schenkwirt im Grunde etwas eingenommen war, fiel ihm gar nichts auf, was die Wahrheitsliebe des Mannes hätte anzweifeln lassen.

Nach dem Verhöre begab sich Kroff unbehelligt wieder auf den Weg nach dem »Umgebrochenen Kreuze«. Selbst wenn er schuldig war, erschien es ja besser, ihn bei fortdauernder Beobachtung in Freiheit zu lassen. Vielleicht verriet er sich da selbst auf die eine oder andere Weise.[182]

Vier Tage waren verflossen, seit man Wladimir Yanof in der Feste von Riga zur Hast gebracht hatte.

Auf besonderen Befehl des Gouverneurs war ihm hier ein Zimmer eingeräumt worden, überhaupt begegnete man ihm mit der Rücksicht, die seine Lage und seine Handlungsweise verdienten. Der General Gorko bezweifelte nicht, daß diese Vergünstigungen selbst höheren Ortes gutgeheißen würden, welchen Ausgang die Sache für Wladimir Yanof auch nehmen möchte.

Dimitri Nicolef, dessen Gesundheit von den schweren Kränkungen der letzten Tage doch so weit gelitten hatte, daß er sich aufs Zimmer beschränkt sah, hatte ihn nicht, wie es sein Wunsch war, sehen können. Der Familie Nicolef und den näheren Freunden Wladimir Yanofs war nämlich der Zutritt zu dem Gefängnisse gestattet worden. Jeden Tag begaben sich Jean und Ilka nach der Feste, wo man sie ohne weiteres bei dem Gefangenen einließ. Hier wurden lange und vertrauliche Gespräche geführt, in denen auch wieder eine frohere Hoffnung zum Durchbruch kam. Ja, der Bruder und die Schwester glaubten an die Hochherzigkeit des Kaisers... sie wollten nun einmal daran glauben!... Seine Majestät konnte nicht unempfänglich sein für die Bitten der unglücklichen Familie, die seit einiger Zeit unter so schweren Schicksalsschlägen seufzte. Nein, Wladimir und Ilka würden nicht nochmals durch tausende von Meilen, und vor allem nicht durch jene Verurteilung auf Lebenszeit voneinander getrennt sein, die ja noch schrecklicher war, als die weite Entfernung zwischen den Liebenden. Endlich würde doch, wenn Wladimir vom Kaiser begnadigt würde, die Vermählung der beiden erfolgen können. Es verlautete überdies, daß der Gouverneur sich für die Niederschlagung des früheren Urteils verwendete. Die eigentümliche Stellung Dimitri Nicolefs in Riga, gerade jetzt am Vorabend der städtischen Wahlen und in einer Zeit, wo die Regierung bestrebt war, die Munizipalverwaltung in den baltischen Provinzen zu russifizieren... alles traf zusammen, für den Flüchtling einen vollständigen Straferlaß erwarten zu können.

Am 24. April verließ Jean, nach herzlicher Verabschiedung von Yanof, von seinem Vater und seiner Schwester, Riga wieder, um sich nach Dorpat zu begeben. Hier gedachte er, den man als den Sohn eines Mörders behandelt hatte, die Universität mit hochgehaltener Stirn zu betreten.

Es ist wohl kaum nötig, den Empfang zu schildern, den er bei seinen Kameraden überhaupt, besonders warm aber bei Gospodin und der Korporation fand, der er angehörte. Ebensowenig aber braucht hervorgehoben zu werden, daß[183] die übrigen Studenten, die Gefolgschaft Karl Johausens, noch keineswegs die Waffen gestreckt hatten. Alles deutete also darauf hin, daß es hier – wie man sagt – noch zu einem Krach kommen werde.

Das traf denn auch schon am Tage nach der Rückkehr Jean Nicolefs ein.

Jean hatte von Karl für dessen Beleidigungen Satisfaktion verlangt, und dieser erschwerte sie noch durch die Weigerung, sich mit ihm zu schlagen.

Da versetzte Jean ihm einen Schlag ins Gesicht. Der Zweikampf war nun unvermeidlich geworden, und Karl Johausen wurde dabei ziemlich schwer verwundet.

Welche Wirkung das Duell hatte, als die Nachricht davon nach Riga gedrungen war, kann man sich wohl leicht ausmalen. Herr und Frau Johausen reisten sofort ab, ihren vielleicht gar tödlich getroffenen Sohn zu pflegen. Als sie wieder heimkehrten, entbrannte der Streit mit den Erzfeinden natürlich mit um so größerer Wut.

Fünf Tage später traf übrigens die Wladimir Yanof betreffende Antwort von Petersburg ein.

Man hatte alle Ursache, auf den Edelmut des Kaisers zu zählen. In der Tat wurde der Verbannte, der aus den Bergwerken Sibiriens entflohen war, rückhaltlos begnadigt, und Wladimir Yanof infolgedessen sofort in Freiheit gesetzt.

Quelle:
Jules Verne: Ein Drama in Livland. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXV, Wien, Pest, Leipzig, 1905, S. 172-184.
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