Dreizehntes Kapitel.
Zweite Hausdurchsuchung.

[184] Die Begnadigung Wladimir Yanofs machte nicht nur in Riga, sondern auch in allen baltischen Provinzen ein ungeheures Aufsehen. Man erkannte darin den Beweis, daß die Regierung ihr Einverständnis mit den antigermanischen Bestrebungen kundgeben wolle. Die arbeitende Bevölkerung gab ihrer Freude darüber unverhohlen Ausdruck. Der Adel und die höhere Bürgerschaft bemängelten die unangebrachte Milde des Kaisers, die, nachdem sie Wladimir Yanofzuteil geworden war, sich jedenfalls auch zugunsten Dimitri Nicolefs geltend machen werde. Gewiß hatte das edelmütige Verhalten des Flüchtlings, der sich seinen Häschern selbst überlieferte, diese Begnadigung und damit seine völlige Rehabilitation, die Wiedereinsetzung in alle bürgerlichen Ehrenrechte verdient, die dieser durch seine politische Verurteilung verloren hatte. Erschien sie aber nicht wie ein wohlberechneter Einspruch gegen die auf dem Lehrer lastende Anklage, gegen die Beschuldigung eines bis dahin ehrenwerten und allgemein verehrten Bürgers, der von der slawischen Partei für die bevorstehenden Wahlen als deren Vertreter ins Auge gefaßt war?

In dieser Weise wurde die kaiserliche Entscheidung wenigstens beurteilt, und der General Gorko machte auch kein Hehl aus seiner damit übereinstimmenden Anschauung.


Jeden Tag begaben sich Jean und Ilka nach der Feste. (S. 183.)
Jeden Tag begaben sich Jean und Ilka nach der Feste. (S. 183.)

Wladimir Yanof verließ die Rigaische Feste in Begleitung des Obersten Raguenof, der selbst herbeigeeilt war, ihm den Ukas des Zaren mitzuteilen. Er begab sich sofort zu Dimitri Nicolef, und Ilka und ihr Vater erfuhren, da die Neuigkeit bis dahin geheim gehalten worden war, die frohe Botschaft aus seinem eigenen Munde.

Welche Freude, welch innige Dankbarkeit erfüllte da das bescheidene Haus, in das das Glück endlich wieder Einzug zu halten schien!

Fast gleichzeitig mit dem Begnadigten trafen auch der Doktor Hamine, Herr Delaporte und einige Freunde der Familie ein. Wladimir wurde beglückwünscht und von allen herzlich umarmt. Wer dachte in diesem Augenblick an die Beschuldigungen, die noch auf dem Herrn des Hauses ruhten?

»Und wenn Sie auch verurteilt worden wären, sagte Delaporte zu dem Lehrer, von uns würde keiner an Ihrer Unschuld gezweifelt haben!

– Verurteilt! rief der Doktor. Hätte er überhaupt jemals verurteilt werden können?

– Doch wenn ihm das ungerechterweise widerfahren wäre, erklärte Ilka, so würden Wladimir, Jean und ich unser ganzes Leben darangesetzt haben, deine Rehabilitation, liebster Vater, herbeizuführen.«

Dimitri Nicolef, dessen Gesicht durch die Vorgänge der letzten Tage ganz erbleicht war, konnte augenblicklich keine Worte finden. Er fragte sich vielleicht, was man von der unsicherern menschlichen Gerechtigkeit nicht alles erwarten könne. Es gibt ja leider so viele Beispiele ungerechter und oft nicht wieder gut zu machender Urteilssprüche.[187]

Der Abend vereinte die nächsten Freunde Wladimirs und Nicolefs am Teetische. Wie schlugen da die Herzen höher, wie laut erschallten da die Ausbrüche teilnehmender Freude, als Ilka einfach sagte:

»Ich will dein Weib sein, Wladimir sobald du es wünschest!«

Die Hochzeit wurde auf sechs Wochen vom heutigen Tage an festgesetzt, und inzwischen räumte man Wladimir ein Zimmer im Erdgeschoß des Hauses ein. Die Vermögensverhältnisse der beiden Verlobten waren bekannt. Ilka besaß so gut wie nichts und bisher hatte Nicolef auch über seine Lage, über die Verpflichtung gegen die Firma Johausen wegen der Schulden seines Vaters geschwiegen. Strenge Sparsamkeit hatte es ihm ermöglicht, ein gutes Teil davon abzutragen, und er hoffte noch immer, auch den Rest bezahlen zu können. Deshalb hatte er seinen Kindern nichts davon gesagt, und deshalb wußten diese also nicht, daß der letzte Betrag von achtzehntausend Rubeln nach vierzehn Tagen fällig sein würde. Jetzt mußte er sich wohl zu einer Eröffnung der Sachlage entschließen. Wladimir konnte über eine, die Familie so arg bedrohende Gefahr nicht in Unwissenheit gelassen werden. Diese Mitteilung war jedenfalls nicht dazu angetan, seine Gefühle für das junge Mädchen zu ändern. Mit der für ihn hinterlegten und ihm von Dimitri Nicolef ausgehändigten Summe würde er ja alles abzuwarten und durch Fleiß und Intelligenz auch für die Zukunft zu sorgen wissen.

War die Familie Nicolef jetzt glücklich, ja glücklicher, als sie es je wieder zu werden gehofft hatte, so war in der Familie Johausen ganz das Gegenteil der Fall. Wohl konnte man dort erwarten, daß der schwer verletzte Karl durch gute Pflege mit der Zeit wieder genesen würde, und es war jetzt auch schon möglich gewesen, ihn nach Riga überzuführen. In dem Kampfe aber, den Frank Johausen gegen den Lehrer führte, den er bereits vernichtet zu haben glaubte, fühlte der reiche Mann den Sieg ihm entschwinden. Es gewann mehr und mehr den Anschein, als ob die schrecklichen Waffen, deren sich zu bedienen sein Haß nicht gezögert hatte, ihm unter den Händen zerbrächen. Die Geldverlegenheit seines Rivalen, dessen Schuld am Verfallstage voraussichtlich nicht beglichen wurde... das war noch das einzige, was ihm übrig blieb, seinen politischen Gegner zu vernichten.

Die öffentliche Meinung – vor allem die Anschauung der Leute, die an der Sache nicht beteiligt waren und ohne Voreingenommenheit urteilten – neigte sich jetzt mehr und mehr dahin, an die Unschuld Dimitri Nicolefs zu glauben.[188]

Dagegen häufte sich der Verdacht eher auf den Inhaber des Kabaks »Zum umgebrochenen Kreuze«.

Schloß man einmal das Eingreifen eines Übeltäters von außen her aus, so blieb der Verdacht tatsächlich zunächst an Kroff haften. Ob sein Vorleben für oder gegen den Mann sprach?... Eigentlich war weder das eine noch das andere der Fall. Kroff stand in dem Rufe eines ungebildeten und gewinnsüchtigen Mannes. Wenig gesprächig, stets verschlossen, lebte er allein, ohne Familie in der vereinsamt liegenden, gewöhnlich nur von Bauern und Waldarbeitern besuchten Schenke. Sein Vater und seine Mutter, die von deutscher Herkunft waren, jedoch – was in den baltischen Provinzen nicht so selten ist – der orthodoxen Kirche angehörten, hatten von dem Ertrage dieser Schenke nur recht ärmlich leben können. Das Haus und das eingezäunte Gärtchen... das war alles, was er von ihnen geerbt hatte und was auf keinen Fall den Wert von tausend Rubeln überstieg. Kroff hauste hier als Hagestolz, ohne Knecht oder Magd, verrichtete alle vorkommenden Arbeiten persönlich und verließ seine Schenke nur, wenn er sich in Pernau mit neuen Vorräten versorgen wollte.

Der Richter Kerstorf hatte einen gewissen Verdacht gegen den Schenkwirt noch niemals aufgegeben. Niemand wußte freilich, ob dieser begründet war und ob Kroff ihn nicht hatte dadurch von sich ablenken wollen, daß er den mit dem Bankbeamten eingetroffenen Reisenden beschuldigte. Er konnte es ja auch selbst gewesen sein, der die Schrammen am Zimmerfenster eingeritzt und das Schüreisen nach dem Aufbrechen des Ladens wieder in den Kamin gestellt hatte, er konnte der Urheber des Verbrechens sein, ob dieses nun vor oder nach dem Weggange Dimitri Nicolefs verübt worden war, auf den sich, dank den listigen Maßregeln des Schenkwirtes, dann die Aufmerksamkeit der Behörden in erster Linie hinlenken mußte. Immerhin zeigte sich eine neue, der Verfolgung werte Fährte, die vielleicht zum Ziele führte, wenn man vorsichtig vorging.

Nachdem Dimitri Nicolef seit dem Auftauchen Wladimir Yanofs bezüglich des noch unaufgeklärten Falles kaum noch in Frage kam, mußte Kroff ja fürchten, daß seine eigene Lage nicht mehr so ganz klar und sicher war. Auf jeden Fall mußte der Urheber des Verbrechens ermittelt werden, und da konnte er jedenfalls noch einmal in Untersuchung gezogen werden.

Nach der Mordtat hatte der Schenkwirt bekanntlich sein Haus nur verlassen, als er sich nach dem Amtszimmer des Untersuchungsrichters begab. Obwohl er eigentlich frei war, fühlte er sich doch argwöhnisch überwacht von den Polizisten,[189] die Tag und Nacht nicht aus dem Kabak wichen. In die verschlossenen Zimmer des Reisenden und Pochs, zu denen sich die Schlüssel in der Verwahrung der Kriminalpolizei befanden, hatte bisher niemand eintreten können. Darin stand und lag also alles noch ebenso, wie bei der ersten Aufnahme des Tatbestandes.

Wenn Kroff jedem, der es hören wollte, erklärte, die Untersuchung sei auf einen Abweg geraten, als sie die gegen Nicolef erhobene Anschuldigung fallen ließ, wenn er versicherte, der Reisende sei der wirkliche Schuldige, wenn er nicht aufhörte, diesen gegenüber dem Richter Kerstorf zu belasten, und er darin von den Feinden des Lehrers noch bestärkt wurde... wenn dessen Freunde anderseits das Verbrechen dem Schenkwirt zuschoben, so zeugt das alles dafür, daß die Lage bezüglich des einen wie des andern noch nicht geklärt war und beide sich der schwersten Beschuldigungen zu versehen hatten, so lange der gesuchte Verbrecher der Gerechtigkeit noch nicht in die Hände fiel.

Wladimir Yanof und der Doktor Hamine sprachen oft über diese Lage der Dinge. Sie erkannten die einzige Möglichkeit, den Johausens und ihren Parteigängern den Mund zu schließen, darin, daß der Urheber des Verbrechens nicht nur verhaftet, sondern auch endgültig verurteilt würde. Und während Dimitri Nicolef sich von der ganzen Angelegenheit sozusagen loszulösen, sich gar nicht mehr darum bekümmern zu wollen schien und sie überhaupt nicht mehr erwähnte, bemühten sich seine Freunde unausgesetzt, deren Klärung zu beschleunigen und das mit allen Nachrichten zu unterstützen, die ihnen von irgendwelcher Seite zugingen. Dabei beharrten sie so hartnäckig darauf, den Schenkwirt zu beschuldigen, daß der Richter Kerstorf und der Oberst Raguenof sich wohl oder übel entschließen mußten, im Kabak »Zum umgebrochenen Kreuze« noch eine zweite Hausdurchsuchung vorzunehmen.

Diese erfolgte am 5. Mai.

Der Richter Kerstorf, der Major Verder und der Brigadier Eck trafen am Morgen dieses Tages im Kabak ein.

Die Polizisten, die das Haus noch immer bewachten, hatten nichts Neues zu melden.

Kroff, der ein wiederholtes Erscheinen der Beamten schon erwartet hatte, beeilte sich, sich den Herren zur Verfügung zu stellen.

»Herr Richter, sagte er, es ist mir nicht unbekannt geblieben, daß man auch mich bezüglich dieser Angelegenheit verdächtigt hat. Ich hoffe aber, daß Sie diesmal mit der Überzeugung von meiner Unschuld heimkehren werden.[190]

– Das wird sich ja zeigen, antwortete Kerstorf. Lassen Sie uns beginnen...

– Mit dem Zimmer des Reisenden, zu dem Sie den Schlüssel in Verwahrung haben? fiel der Schenkwirt ein.

– Nein, erwiderte der Beamte.

– Ist es Ihre Absicht, das ganze Haus zu durchsuchen? fragte der Major Verder.

– Allerdings, Herr Major.

– Ich meine freilich, Herr Kerstorf, wenn sich hier überhaupt noch neue Beweisstücke finden sollten, müßten wir danach in dem Zimmer suchen, das damals Dimitri Nicolef bewohnt hat.«

Diese Bemerkung verriet, daß der Major ebenso fest an die Schuld des Lehrers wie an die Unschuld des Schenkwirtes glaubte. Nichts hatte hierin seine Anschauung ändern können, die auf der Überzeugung beruhte, daß der Mörder der Reisende und daß dieser Reisende Dimitri Nicolef gewesen sei. Davon war er nicht abzubringen.

»Führen Sie uns«, befahl der Richter dem Schenkwirte.

Kroff gehorchte mit einer Bereitwilligkeit, die nicht wenig zu seinen Gunsten sprach. Der nach dem Garten zu gelegene Anbau nebst den Schupfen wurden im Beisein des Richters und des Majors ein zweites Mal durchsucht. Dann besichtigte man mit größter Sorgfalt den Garten selbst, die Umgebung jedes Baumes, die Erde längs der lebenden Hecke und die Beete, worauf einzelne Gemüse standen. Vielleicht hatte Kroff irgendwo seine Beute – wenn er den Raub begangen hatte – vergraben, und es war doch wichtig, darüber ins Reine zu kommen.

Die Nachsuchungen blieben fruchtlos. Ebenso enthielt ein Schrank des Schenkwirts nur etwa hundert Scheine zu fünfundzwanzig, zehn, fünf, drei und zu einem Rubel, jedenfalls weit weniger, als was der Bankbeamte in seiner Mappe bei sich gehabt hatte.

Jetzt nahm der Major Verder den Richter bei Seite.

»Vergessen Sie nicht, Herr Kerstorf, sagte er, daß Kroff seit der Verübung des Verbrechens den Kabak nie ohne Begleitung verlassen hat, denn die Polizisten sind schon seit demselben Morgen hier.

– Das weiß ich, antwortete Kerstorf, doch vor deren Eintreffen und nach dem Weggange Nicolefs ist der Mann immerhin einige Stunden allein gewesen.[191]

– Sie sehen aber doch, Herr Kerstorf, daß wir bisher nichts verdachterweckendes gefunden haben.

– Ganz recht: bisher noch nichts. Die Hausdurchsuchung ist aber noch nicht zu Ende. Sie haben die Schlüssel zu den beiden Zimmern, Herr Major?

– Hier sind sie, Herr Kerstorf.«

Der Major brachte dabei die Schlüssel, die im Polizeibureau aufbewahrt worden waren, aus der Tasche.

Die Tür des Zimmers, worin der Bankbeamte den Tod gefunden hatte, wurde geöffnet.

Hier befand sich alles noch in demselben Zustande, wie man es nach der ersten Besichtigung verlassen hatte. Davon konnte man sich leicht überzeugen, sobald die Fensterläden aufgeschlagen waren. Das Bett lag noch in Unordnung da, das Kopfkissen mit seinen Blutflecken ebenso, und auf dem Fußboden zog sich ein jetzt braunroter Streifen bis zur Tür hin. Eine Spur von sich hatte der Mörder, wer das auch sein mochte, nicht zurückgelassen.

So wurden die Läden also wieder geschlossen, und Kerstorf, der Major, der Brigadier und Kroff gingen zunächst nach der Gaststube zurück.

»Nun wollen wir das andere Zimmer besichtigen,« sagte der Richter.

Zuerst wurde dessen Tür in Augenschein genommen. An der Außenseite zeigte sich nichts auffälliges. Die in den Kabak verlegten Polizisten konnten auch erklären, daß niemand versucht hätte, sie zu öffnen. Keiner der beiden Leute hatte seit vierzehn Tagen das Haus auch nur auf einen Augenblick verlassen.

Das Zimmer lag in tiefer Finsternis.

Der Brigadier Eck ging nach dem Fenster, öffnete dieses, schob den Riegel der Ladenflügel zurück und schlug diese nach der Mauer zu auf, so daß nun ein heller Lichtstrom hereinflutete.

Auch hier war seit der vorigen Besichtigung keine Veränderung zu bemerken. Im Hintergrunde stand das Bett, worin Dimitri Nicolef geschlafen hatte, und neben dessen Kopfende ein grober Tisch mit einem eisernen Leuchter und einer halb niedergebrannten Unschlittkerze. Ein Stuhl mit Strohgeflecht stand in der einen, ein Schemel in der anderen Ecke, zur Rechten ein Schrank mit geschlossener Tür. An der letzten Wand war der Kamin angebracht, eigentlich nur eine Art Herd aus zwei größeren, flachen Steinen.


Man besichtigte den Garten mit größter Sorgfalt. (S. 191.)
Man besichtigte den Garten mit größter Sorgfalt. (S. 191.)

Darüber der am unteren Teile erweiterte Rauchfang, der sich verengernd als Schornstein bis über das Dach hinaus fortsetzte.[192]

Das Bett wurde genau besichtigt, zeigte aber, wie das vorige Mal, nichts, was einen Verdacht hätte erwecken können. In dem Schranke und dessen Schubkästen fand sich weder ein Kleidungsstück noch ein Papier vor: er war vollständig leer.

Der an der Ecke der Feuerstätte lehnende Schürhaken wurde sorgfältig betrachtet. Ohne Zweifel konnte er, da sein Ende etwas verbogen war, zum Aufbrechen des Ladens am anderen Fenster gedient haben. Freilich hätte auch, bei dem schlechten Zustande des Ladens, jedes andere Werkzeug, ja schon einfach ein Stock genügt, diesen aufzusprengen. Die Schrammen auf der Fensterbank wurden ebenso wie früher wiedergefunden, doch bewiesen sie denn, daß eine Person hier eingedrungen wäre?... Bestimmt behaupten ließ sich das wenigstens nicht.

Der Richter trat noch einmal an den Herd heran.

»Hat jener Reisende hier Feuer gehabt? fragte er.

– Nein, gewiß nicht, versicherte Kroff.

– Und sind die Aschenreste hier das vorige Mal untersucht worden?

– Ich glaube nicht, antwortete der Major Verder.

– So mag es jetzt geschehen.«

Der Brigadier beugte sich über die Herdfläche und bemerkte dabei links hinten darauf ein halbverbranntes Stück Papier, ursprünglich von viereckiger Form, von dem jetzt freilich nur noch ein Eckstück übrig, das sonst aber zu Zunder verwandelt war.

Wie erstaunten aber alle, als man in diesem Papierstückchen den Rest eines Schatzbankscheines erkannte! Kein Zweifel, es handelte sich hier um ein Staatsbankpapier zu hundert Rubeln, dessen Nummer leider vom Feuer zerstört war, doch von welchem anderen als der Flamme der auf dem Tische stehenden Kerze, da im Kamin kein Feuer angezündet worden war?

Das Papierstück war überdies mit Blut besudelt.

Ohne Zweifel rührten die Flecke von den Händen des Mörders her, von dem, der den Schein wegen der Blutspuren darauf verbrannt hatte. Woher konnte das Bankbillett aber stammen, wenn nicht aus der Mappe des unglücklichen Poch? Der Umstand, daß es nicht gänzlich verbrannt war, machte es zu einem recht schwerwiegenden Beweisstücke.

Erschien jetzt noch ein Zweifel erlaubt?... Wie hätte man noch annehmen können, daß der Mord von einem der von außen eingedrungenen Verbrecher[195] verübt worden sei? Lag es nicht vielmehr klar auf der Hand, den Mörder in dem Reisenden zu sehen, der das Nebenzimmer bewohnt hatte, der dann in dieses zurückgekehrt und endlich am Morgen um vier Uhr weggegangen war?

Der Major und der Brigadier sahen einander an wie Leute, deren Überzeugung schon seit längerer Zeit feststeht. Da Kerstorf aber noch schwieg, gaben sie dieser durch kein Wort Ausdruck.

Nur Kroff konnte sich jetzt nicht mehr bemeistern.

»Da... was hatte ich Ihnen gesagt. Herr Richter? rief er. Können Sie jetzt noch an meiner Schuldlosigkeit zweifeln?«

Kerstorf steckte den Rest des Kassenscheines als ein Beweisstück in sein Notizbuch.

»Die Untersuchung, meine Herren, begnügte er sich zu antworten, ist hiermit beendet. Wir wollen also ohne Säumen aufbrechen.«

Eine Viertelstunde später rollte der Wagen schon auf der Landstraße nach Riga dahin; nur die beiden Polizisten waren zur ferneren Überwachung des Kabaks »Zum umgebrochenen Kreuze« zurückgeblieben.

Am nächsten Tage wurde Frank Johausen schon zu früher Stunde von dem Ergebnis der Hausdurchsuchung benachrichtigt. Da die Nummer des verbrannten Schatzscheines zerstört war, ließ es sich nicht nachweisen, ob dieser zu denen gehört hatte, deren Nummern im Bankhause aufgeschrieben worden waren. Da er aber zweifellos der Serie angehört hatte, von der Poch damals eine größere Anzahl mit sich führte, mußte man fast unbedingt annehmen, daß er aus dessen Dokumentenmappe gestohlen war.

Die neue Entdeckung verbreitete sich blitzschnell. Vor allen andern waren die Freunde Dimitri Nicolefs darüber fast versteinert. Die ganze Angelegenheit bekam jetzt ein anderes Gesicht oder nahm vielmehr ihr erstes wieder an. Welch schwere Prüfungen standen nun der Familie noch bevor, die schon von solchen verschont zu bleiben geglaubt hatte!

Die Parteigänger Johausens triumphierten in lärmendster Weise. Ihrer Ansicht nach mußte die Verhaftung Dimitri Nicolefs jetzt unverzüglich angeordnet werden, und dieser würde, vor Gericht gestellt, der schweren Strafe nicht entgehen können, die das ruchlose Verbrechen verdiente.

Wladimir Yanof wurde durch den Doktor Hamine von dem neuen Zwischenfall in Kenntnis gesetzt; beide beschlossen aber, gegen Nicolef darüber zu schweigen. Dieser würde ja so wie so zeitig genug erfahren, welchen neuen Beschuldigungen[196] er wieder ausgesetzt wäre. Wladimir hätte gern verhindert, daß diese Gerüchte seiner Verlobten zu Ohren kämen. Das erwies sich aber als unmöglich, und noch an demselben Tag traf er sie fast aufgelöst in bitterstem Schmerze.

»Mein Vater ist unschuldig!... Mein Vater ist unschuldig! rief sie wiederholt, war aber nicht imstande, ein anderes Wort hervorzubringen.

– Ja... gewiß, liebste Ilka, das ist er, und wir wer den den Schuldigen schon entdecken und alle, die ihn anklagen, besiegen. Wahrlich, ich frage mich, ob alles das nicht nur ein gemeiner, hinterlistiger Anschlag ist, den besten und ehrbarsten der Menschen zu vernichten.«

Auf derartige Gedanken konnte ein Mann mit so edlem Charakter recht wohl kommen. Er wußte ja, wie weit politischer Haß sich verirren kann. Und doch, was wies darauf hin, daß ein solch heimtückischer Anschlag hier vorläge, und war denn zu befürchten, daß dessen Zweck je erreicht werden könnte?

Was geschehen sollte, geschah.

Am Nachmittage wurde Dimitri Nicolef nach dem Bureau des Untersuchungsrichters bestellt. Er begab sich sofort nach dem Wohnzimmer hinunter, wo Wladimir und Ilka ihn von dem Vorgefallenen unterrichteten.

»Noch einmal diese Geschichte! rief er, die Achseln zuckend. Nimmt sie denn kein Ende?

– Man wird von dir eine neue Zeugenaussage erwarten, lieber Vater, sagte das junge Mädchen.

– Wünschen Sie, daß ich Sie begleite? fragte Wladimir.

– Nein, ich danke dir, Wladimir.«

Der Privatlehrer verließ das Haus schnellen Schrittes und betrat schon nach einer Viertelstunde das Bureau des Richters.

Dieser befand sich jetzt hier mit einem Aktuar allein. Infolge einer Verhandlung mit dem Gouverneur und dem Obersten Raguenof sollte der Lehrer zunächst nur einem zweiten Verhöre unterworfen werden, während seine etwaige Verhaftung der Entschließung des Richters anheimgegeben wurde.

Kerstorf nötigte Nicolef, Platz zu nehmen.

»Herr Nicolef, begann er dann mit einer Stimme, die eine gewisse Erregung erkennen ließ, gestern hat in meinem Beisein in der Schenke 'Zum umgebrochenen Kreuze' eine zweite Hausdurchsuchung stattgefunden. Die Polizisten haben das ganze Anwesen gründlichst durchsucht, ohne daß sich dabei etwas Verdächtiges gefunden hätte. Nur in dem Zimmer, das Sie in der Nacht vom[197] dreizehnten zum vierzehnten April eingenommen haben, hat man das hier entdeckt.«

Er wies dem Lehrer dabei das Eckstück des Reichskassenscheines vor.

»Nun, was hat es mit diesem Stückchen Papier auf sich? fragte Dimitri Nicoles.

– Das ist der Überrest eines Reichskassenscheines, der verbrannt und auf die Asche im Kamin geworfen worden ist.

– Eines der Bankbilletts, die aus Pochs Mappe gestohlen worden waren?

– Das ist mindestens sehr wahrscheinlich, antwortete der Beamte, und Sie, Herr Nicolef, werden sich kaum darüber wundern, daß dieser Fund Sie zu belasten scheint.

– Mich belasten? erwiderte der Lehrer, der wieder den früheren etwas höhnischen und verächtlichen Ton anschlug. Ich frage Sie, Herr Richter, ist denn noch immer nicht jeder Verdacht gegen meine Person entkräftet, haben auch die Erklärungen Wladimir Yanofs mich noch nicht vollständig davon befreit?«

Kerstorf gab hierauf keine Antwort. Er faßte nur Nicolef scharf ins Auge, den unglücklichen Mann, dessen kränkliches Aussehen bezeugte, daß er sich von der Gemütserschütterung der letzten Wochen noch nicht wieder erholt hatte. Seine Prüfungszeit schien auch noch nicht zu Ende zu sein, da ja immer neue Anschuldigungen gegen ihn auftauchten.

Dimitri Nicolef hatte sich mit der Hand über die Stirn gestrichen.

»Dieses Überbleibsel eines Kassenscheines, sagte er, ist also auf der Feuerstatt des Zimmers gefunden worden, worin ich jene Nacht zugebracht habe?

– Jawohl, Herr Nicolef.

– Und das Zimmer ist seit der ersten amtlichen Besichtigung immer verschlossen gewesen?

– Mit dem betreffenden Schlüssel; es ist auch gewiß, daß dessen Tür seither nicht wieder geöffnet worden ist.

– Es hat also niemand dahinein gelangen können?..

– Niemand.«

Dem Richter schien es zu passen, daß jetzt er sich durch einen Rollenaustausch ausfragen ließ.

»Der Bankschein hatte Blutflecke bekommen, fuhr Nicolef nach Besichtigung des Papierstückes fort, dann ist er nicht völlig verbrannt worden und man hat ihn unter der Asche aufgefunden?[198]

– Wie Sie sagen.

– Wie konnte er dann aber bei der ersten Hausdurchsuchung dem Auge der Anwesenden entgehen?

– Das vermag ich nicht zu erklären und es wundert mich selbst nicht wenig, denn offenbar hat er schon damals an derselben Stelle gelegen, da ihn seitdem niemand hat dahin bringen können.

– Ich bin darüber nicht weniger verwundert als Sie, antwortete Dimitri Nicolef etwas ironischen Tones. Ich müßte statt verwundert eigentlich beunruhigt sagen, denn ohne Zweifel bin ich es, den man beschuldigt, den Schein in den Kamin geworfen zu haben.

– Allerdings sind Sie das, erklärte Kerstorf.

– Und da dieser Schein, fuhr der Lehrer noch mehr ironisch fort, zu dem Teile des Bündels gehörte, das der Bankbeamte in seiner Mappe bei sich hatte, da er nach der Ermordung Pochs aus dieser Mappe entwendet worden ist, so unterliegt es natürlich keinem Zweifel, daß als der Dieb der Reisende anzusprechen ist, der jenes Zimmer bewohnt hatte, und da ich das war, so bin ich selbstverständlich der Mörder.

– Ja, wer könnte daran zweifeln? fragte Kerstorf, ohne Nicolef aus den Augen zu verlieren.

– Freilich... niemand, Herr Richter. Alles stimmt ja so vortrefflich überein... der Beweis ist in schlagender Weise erbracht. Doch wollen Sie mir freundlichst erlauben, Ihrem Gedankengang den meinigen gegenüberzustellen?

– Ich bitte darum, Herr Nicolef.

– Das Gasthaus 'Zum umgebrochenen Kreuze' habe ich früh um vier Uhr verlassen. War das Verbrechen zu dieser Stunde schon begangen?... Ja, wenn ich dessen Urheber gewesen bin, nein, wenn ich dieser nicht war. Vielleicht kommt auf den Zeitpunkt nicht so viel an. Können Sie, Herr Richter, aber mit Bestimmtheit behaupten, daß der Mörder nach meinem Weggange nicht alle Maßregeln getroffen, alle Vorsicht gebraucht hätte, den Verdacht auf den Reisenden, das heißt auf mich zu lenken, daß er nicht hätte das vorher von mir benutzte Zimmer betreten und das Schüreisen darin hinstellen können; ebenso, daß er nicht Zeit gehabt hätte, den blutbefleckten, halb verbrannten Bankschein auf den Herd zu legen, und die Schrammen auf der Fensterbank einzuritzen, um den Anschein zu erwecken, daß ich... ich durch dieses hinausgestiegen wäre, um den Bankbeamten in seinem Bette zu töten?[199]

– Was Sie da sagen, Herr Nicolef, läuft unmittelbar auf eine Beschuldigung des Schenkwirts Kroff hinaus.

– Kroffs oder jedes beliebigen andern. Meine Sache ist es übrigens nicht, den Schuldigen zu ermitteln: ich habe mich nur zu verteidigen, und das tue ich!«

Auf Kerstorf machte das Verhalten und Auftreten Dimitri Nicolefs offenbar tiefen Eindruck. Was dieser eben sagte, hatte er sich ja schon vielmals selbst gesagt. Nein... er weigerte sich, einen Mann von so ehrenhaftem Vorleben schuldig zu finden. Und dennoch hatten, wenn er Kroff als Täter annahm, die Hausdurchsuchungen, die sonstigen Ermittelungen und die Zeugenaussagen nichts ergeben, was den Schenkwirt belastet hätte. Darauf wies der Richter auch Nicolef im Laufe des Verhörs hin, das sich noch über eine Stunde ausdehnte.

»Herr Richter, sagte endlich der Lehrer, an Ihnen ist's, zu entscheiden, auf wen von uns – ob auf Kroff oder mich – der größte Verdacht fällt. Jeder, der gerecht urteilt und die Sachlage unbefangen betrachtet, muß zugeben, daß ich das nicht bin. Aus Gründen, die Ihnen heute bekannt sind, habe ich früher über den Zweck meiner Reise schweigen müssen. Sie kennen diese Gründe, seit Wladimir Yanof sich eingefunden und sie Ihnen mitgeteilt hat. Das war in der Sache, soweit sie mich berührt, der dunkle Punkt, der inzwischen aufgehellt worden ist. Ob nun der Schenkwirt oder ein von außen eingedrungener Unhold der Urheber des Verbrechens ist, das hat das Gericht zu entscheiden. Ich selbst setze in die Schuld Kroffs allerdings keinen Zweifel. Der Mann wußte, daß Poch sich zur Begleichung einer Zahlung für Rechnung der Gebrüder Johausen nach Reval begeben wollte, er wußte, daß dieser der Überbringer einer beträchtlichen Summe war, ihm war bekannt, daß ich früh um vier Uhr schon wieder aufbrechen wollte, kurz, er wußte alles, was er dazu brauchte, den Mord auszuführen und die Verantwortlichkeit dafür dem mit dem Bankbeamten eingetroffenen Reisenden zuzuwälzen. Er kann den Unglücklichen schon vor oder nach meinem Weggange ermordet haben. Dann mag er in mein Zimmer gegangen sein, den Rest des Kassenscheins auf den Kaminherd geworfen und überhaupt alles darauf eingerichtet haben, daß der Schein der Schuld auf mich fallen mußte. Glauben Sie nun immer noch, daß ich Pochs Mörder bin, so nehmen Sie mich in Hast und stellen mich vor die Geschwornen. Ich werde da Kroff beschuldigen. Es kann sich nur um einen Kampf zwischen uns beiden handeln, und ich wüßte nicht, was ich von dem Gerechtigkeitssinne der Menschheit denker sollte, wenn ich es wäre, den man verurteilte!«


Das Papierstück war überdies mit Blut besudelt. (S. 195.)
Das Papierstück war überdies mit Blut besudelt. (S. 195.)

Dimitri Nicolef hatte seine Anschauungen, die ihn – seiner Ansicht nach – doch rechtfertigen sollten, gar nicht besonders lebhaft zum Ausdruck gebracht. Kerstorf hatte ihn auch nicht unterbrochen, und als der Lehrer zum Schluß die Frage hinwarf: »Werden[200] Sie meinen Verhaftsbefehl unterzeichnen?« antwortete er ruhig:

»Nein, Herr Nicolef!«[201]

Quelle:
Jules Verne: Ein Drama in Livland. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXV, Wien, Pest, Leipzig, 1905, S. 184-185,187-193,195-202.
Lizenz:

Buchempfehlung

Kleist, Heinrich von

Die Hermannsschlacht. Ein Drama

Die Hermannsschlacht. Ein Drama

Nach der Niederlage gegen Frankreich rückt Kleist seine 1808 entstandene Bearbeitung des Hermann-Mythos in den Zusammenhang der damals aktuellen politischen Lage. Seine Version der Varusschlacht, die durchaus als Aufforderung zum Widerstand gegen Frankreich verstanden werden konnte, erschien erst 1821, 10 Jahre nach Kleists Tod.

112 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon