IX.

[74] Sylvius Hog – so lautete der Name, der noch denselben Abend in das Fremdenbuch, und zwar gleich hinter dem Namen Sandgoïst, eingetragen wurde. Man wird zugeben, daß zwischen diesen beiden Namen, ebenso wie zwischen den Männern, welche sie trugen, ein starker Unterschied herrschte.[74]

Weder in der äußeren Erscheinung, noch in dem Charakter und Auftreten hatten sie etwas Uebereinstimmendes. Freigebigkeit auf der einen, Habsucht auf der anderen Seite. Der Eine war die Herzensgüte selbst, der Andere die häßliche Hülle einer vertrockneten Seele.

Sylvius Hog zählte kaum sechzig Jahre und erschien noch weit jünger. Groß, gerade aufgerichtet und gut gewachsen, ein gesunder Geist in gesundem Leibe, gefiel er Jedem beim ersten Zusammentreffen schon durch das hübsche liebenswürdige Gesicht, das bartlos und von grauschimmernden, etwas langen Haaren eingerahmt war, mit den ganz wie seine Lippen lächelnden Augen, der breiten Stirn, hinter der sich die edelsten Gedanken bequem entwickeln, und der breiten Brust, in der das Herz frei schlagen konnte. Mit diesen Vorzügen vereinigte er einen unerschöpflichen Vorrath von guter Laune, eine vornehme und bei aller Leutseligkeit ihres Werthes bewußte Erscheinung und eine Natur, welche gewiß jedes edlen Entschlusses, jedes Opfers für Andere fähig war.

Sylvius Hog – aus Christiania – das sagte genug. Dieser war nicht allein bekannt, geschätzt, geliebt und geehrt in der Hauptstadt Norwegens, sondern ebenso im ganzen Lande – natürlich in Norwegen. Die Leute urtheilten nämlich in der anderen Hälfte des skandinavischen Reiches, also in Schweden, nicht ebenso über ihn.

Das verlangt eine nähere Erklärung.

Sylvius Hog war Professor der Rechte in Christiania. In anderen Städten nimmt Derjenige, der Rechtsanwalt, Arzt oder Kaufmann ist, wohl die obersten Stufen der socialen Rangordnung ein. In Norwegen ist dies nicht der Fall; hier gilt der Professor als der Erste.

Wenn es in Schweden vier Classen, den Adel, die Geistlichkeit, die Bürgerschaft und den Bauernstand gibt, so zählt man in Norwegen nur drei, denn hier fehlt der Adel gänzlich; hier hat man keinen Vertreter der Aristokratie, nicht einmal unter den höchsten Beamten. In diesem so zu sagen privilegirten Lande existiren keine Privilegien; die Beamten sind nur die ergebenen Diener des ganzen Volkes. Alles in Allem herrscht hier also vollkommene gesellschaftliche Gleichheit, kein politischer Unterschied.

Da Sylvius Hog einer der bedeutendsten Männer seines Landes war, wird man sich auch nicht wundern, daß er zum Mitglied des Storthings gewählt wurde. In dieser großen Versammlung übte er ebenso durch seine wissenschaftliche Begabung, wie durch die Makellosigkeit seines privaten und[75] öffentlichen Lebens einen Einfluß aus, dem sich sogar die vielen, von den Landbewohnern erwählten Bauern-Deputirten willig unterordneten.

Seit der Constitution von 1814 kann man eigentlich mit Recht sagen: Norwegen ist eine Republik mit dem Könige von Schweden als Präsidenten.

Es versteht sich von selbst, daß dieses auf seine Ausnahmestellung eifersüchtige Norwegen seine Selbstregierung sorgsam bewahrt hat. Das Storthing hat nichts gemein mit dem schwedischen Reichstage. Man wird also verstehen, daß ein besonders einflußreiches und patriotisches Mitglied desselben jenseits der idealen Grenze, welche Schweden von Norwegen trennt, nicht gerade wohl angesehen sein konnte.

Das war auch der Fall mit Sylvius Hog. Von unabhängigem Charakter, der lieber nichts sein wollte, hatte er wiederholt schon abgeschlagen, in das Ministerium einzutreten, und als eifriger Verfechter aller Rechte Norwegens stand er stets und unerschütterlich allen Verlockungsversuchen Schwedens feindlich gegenüber.

Die moralische und politische Trennung beider Länder, deren Vortheil doch nach allen Seiten eine innigere Verbindung sein müßte, ist wirklich eine so bestimmte, daß der König von Schweden – jener Zeit Carl Johann XV. – nach der Krönung in Stockholm sich auch noch in Drontheim, der alten Hauptstadt Norwegens, krönen lassen mußte. Und so weit geht die fast als Mißtrauen zu bezeichnende Zurückhaltung der Norweger in geschäftlichen Angelegenheiten, daß die Bank von Christiania nicht gern die Cassenscheine der Stockholmer Reichsbank annimmt, und die streng festgehaltene Unterscheidung zwischen beiden Völkern reicht so weit, daß die Flagge Schwedens weder auf Gebäuden noch auf den Schiffen Norwegens weht. Die eine ist blau mit einem gelben Kreuz, die andere roth mit blauem Kreuz, nur das obere Eckfeld am Flaggenstock enthält das von norwegischer Seite ebenfalls vielfach bestrittene Unionszeichen beider Länder.

Sylvius Hog aber lebte mit Herz und Seele für sein Norwegen, dessen Interessen er bei jeder Gelegenheit vertheidigte; und als das Storthing 1854 die Frage verhandelte, nicht ferner mehr einen Vice-König und auch keinen Statthalter mehr an der Spitze des Reiches zu dulden, gehörte er zu Denjenigen, welche am erfolgreichsten in die Discussion eingriffen und jenem Principe zum Siege verhalfen.

Man begreift also, daß, wenn er im Osten des Königreiches nicht besonders beliebt war, er sich dessen doch im Westen und selbst in den entlegensten Gaards[76] des Landes rühmen konnte. Das bergerfüllte Norwegen hallte von der Umgebung Christianias bis zu den letzten Felsklippen des Nordcaps von seinem Namen wieder. Würdig dieser vollgewichtigen Popularität, hatte auch noch keine Verleumdung weder den Abgeordneten, noch den Rechtslehrer von Christiania erreichen können. Er war ein rechter Norweger, aber ein Norweger von lebhaftem Blute, ohne das angeborene Phlegma seiner Landsleute, und in Wort und That schneller entschlossen, als es das skandinavische Temperament sonst zuläßt.

Es verrieth sich das auch durch seine raschen Bewegungen, durch die Wärme seines Wortes und die Lebhaftigkeit seiner Gesten. Wäre er in Frankreich geboren gewesen, so hätte man gewiß nicht gezögert, ihn ein »Kind des Südens« zu nennen, wenn dieser Vergleich, der übrigens hier seine volle Berechtigung hat, gestattet ist.

Die Vermögensverhältnisse Sylvius Hog's waren recht gute zu nennen, obgleich man ihn nicht einen Krösus nennen konnte. Als uneigennützige Seele dachte er fast niemals an sich selbst, wohl aber immer an Andere. Eben so wenig strebte er nach hohen Aemtern und Ehrenstellen; Abgeordneter zu sein, genügte ihm vollständig; er wollte nichts weiter.

Eben jetzt genoß Sylvius Hog eines dreimonatlichen Urlaubs, um sich von den Anstrengungen zu erholen, die ein arbeitsreiches Jahr legislatorischer Thätigkeit ihm gebracht hatte; seit sechs Wochen aus Christiania abgereist, beabsichtigte er den ganzen Landestheil bis Drontheim, Hardanger, Telemarken und die Bezirke von Kongsberg und Drammen zu bereisen, das heißt, er wollte die Provinzen besuchen, die er noch nicht aus eigener Anschauung kannte. Er machte also gleichzeitig eine Studien- und Vergnügungsreise.

Einen Theil dieser Vergnügungsfahrt hatte Sylvius Hog zurückgelegt, und bei der Rückkehr aus den nördlichen Amtsbezirken war es, wo er den berühmten Wasserfall, eines der Naturwunder Telemarkens, besichtigen wollte. Nachdem er an Ort und Stelle das damals vorliegende Project einer Eisenbahn von Drontheim nach Christiania eingehend geprüft, hatte er einen Führer verlangt, um ihn nach Dal zu geleiten, und rechnete darauf, diesen am linken Ufer des Maan anzutreffen. Ohne Verzug aber und verlockt durch den wunderbaren Anblick des Maristien, hatte er sich auf den gefährlichen Weg über diesen gewagt, eine Unklugheit, die ihm, wie wir wissen, beinahe das Leben gekostet hätte. Ja, man darf gewiß behaupten, daß ohne das rechtzeitige Eintreffen Joëls und Huldas die ganze Reise und der Reisende in den Schlünden des Rjukanfos ein Ende gefunden hätten.[77]

Quelle:
Jules Verne: Ein Lotterie-Los. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LI, Wien, Pest, Leipzig 1888, S. 74-78.
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