[37] Meine Nachtruhe von Mittwoch zu Donnerstag war ziemlich schlecht. Die Hängematte bewegte sich hin und her, und ich mußte mich mit Knieen und Ellenbogen fest an ihr Schaukelbrett lehnen. Reisesäcke und Koffer flogen in meiner Cajüte herum; aus dem benachbarten Saal, in welchem zwei- bis dreihundert Collis provisorisch abgesetzt waren, drang ein wüster Lärm, der dadurch entstand, daß die Gegenstände auf- und niederrollten und mit Vehemenz an Tische und Bänke stießen. Die Thüren klappten auf und zu, die Dielen knackten, die Zwischenwände ächzten in der dem Tannenholz so eigenthümlichen Weise, Gläser und Flaschen bebten klirrend an einander, und förmliche Katarakte von Tafelgeschirr stürzten auf den Fußboden der Speisezimmer.
Auch hörte ich das unregelmäßige Schnarren der Schraube und das Schlagen der Räder, die abwechselnd aus dem Wasser hervorkommend mit ihren Schaufeln die Luft peitschten. An all' diesen Symptomen konnte ich wahrnehmen, daß der Wind frisch geworden war, und daß das Dampfschiff nicht mehr gegen die Wogen der hohen See, die es in der Quere erfaßten, unempfindlich blieb.
Um sechs Uhr Morgens erhob ich mich nach einer schlaflosen Nacht, und kleidete mich mit der einen Hand an, so gut es eben gehen wollte,[37] während ich mich mit der andern am Schaukelbrett hielt. Ohne Stützpunkt wäre es mir unmöglich gewesen, mich aufrecht zu halten, und ich mußte förmlich mit meinem Paletot ringen, um ihn über Rücken und Arme ziehen zu können. Dann verließ ich meine Cajüte, stieg mühsam über die Collis im Nebensaale und erkletterte die Treppe auf den Knieen, wie ein römischer Bauer, der die Stufen der Scala Santa des Pontius Pilatus erklimmt. Endlich gelangte ich auf das Verdeck, wo ich mich mit aller Kraft an einen Kreuzholztakelhaken klammerte.
Es war kein Land mehr in Sicht; wir hatten in der Nacht das Cap Clear umfahren. So weit das Auge reichte, erblickte es nur den weiten, auf dem Himmelsgrunde von der Wasserlinie bezeichneten Kreis, und das schieferfarbene Meer hob sich in langen, schaumlosen Wogen. Da der Great-Eastern von den Wellen in der Quere gefaßt und von keinem Segel unterstützt wurde, rollte er schrecklich; seine Masten beschrieben, wie lange Compaßspitzen, gigantische Kreisbogen in der Luft. Das Schaukeln war wenig merklich, was ich gerne zugeben will, das Rollen aber wurde unerträglich, so daß man sich mit aller Anstrengung nicht aufrecht halten konnte. Der wachthabende Officier hatte sich an den Steg geklammert und schwebte hin und her wie in einer Schaukel.
Von einem Kreuzholz zum andern tastend, gelang es mir endlich, den Radkasten des Steuerbords zu erreichen. Da das Verdeck durch den Nebel feucht und sehr glatt geworden war, mußte man sich vor dem Ausgleiten in Acht nehmen, und eben wollte ich, um mich besser stützen zu können, das Geländer des Steges ergreifen, als ein menschlicher Körper mir vor die Füße rollte.
Es war der Doctor Dean Pitferge; er richtete sich allmälig wieder auf, blickte mich an, und sagte:
»Ganz richtig; die Größe des Bogens, den die Wände des Great-Eastern beschreiben, beträgt vierzig Grad, d.h. zwanzig unter und zwanzig über der Horizontalen.
– Wirklich! rief ich unter herzlichem Lachen – nicht über die Bemerkung, sondern weil sie in so komischer Situation gemacht wurde.
– Ja, wirklich, bestätigte der Doctor. Während der Oscillation beträgt die Schnelligkeit der Wände einen Meter siebenhundertvierundvierzig Millimeter auf die Secunde. Ein transatlantischer Dampfer, der um die[38] Hälfte schmaler ist, braucht nur diese Zeit, um von einem Bord zum andern zu kommen.
– Wenn der Great-Eastern so schnell seine perpendiculäre Stellung wieder einnimmt, muß ein überaus großes Maß von Stetigkeit vorhanden sein, entgegnete ich.
– Bei ihm wohl, aber nicht bei seinen Passagieren! versetzte heiter Dean Pitferge, denn wir kehren schneller zur Horizontalen zurück, als in unseren Wünschen steht.«
Der Doctor, der sich augenscheinlich seiner Erwiderung freute, war unterdessen wieder aufgestanden, und da wir uns nun gegenseitig unterstützten, gelang es uns, eine Bank auf der Hütte zu erreichen. Dean Pitferge war bei seinem Fall mit einigen kleinen Schrammen davongekommen, und ich wünschte ihm Glück dazu, denn er hätte sich ebenso leicht das Genick brechen können.
»O, antwortete er, es ist noch nicht aller Tage Abend; allernächstens wird uns ein Unglück zustoßen.
– Wie, uns?
– Dem Dampfschiff, und folglich auch uns, den Passagieren.
– Wenn das Ihr Ernst ist, warum haben Sie sich denn eingeschifft? fragte ich.
– Um zu sehen, wie und in welcher Weise es sich ereignen wird, antwortete der kleine Kerl, indem er mich verständnißinnig anblickte; würde es nicht ganz interessant für uns sein, einen Schiffbruch mit zu erleben?
– Ist dies Ihre erste Fahrt auf dem Great-Eastern?
– Nein, ich habe schon mehrere mitgemacht ... nur aus Neugierde.
– Dann dürfen Sie sich auch nicht beklagen.
– Das thue ich auch nicht; ich constatire nur die Thatsache, und erwarte in Geduld und Ergebung die Stunde der Katastrophe.«
Machte sich der Doctor über mich lustig? ich wußte wirklich nicht, was ich von diesen Reden denken sollte. Seine kleinen Augen schienen mir ironischer wie je zu blicken, ich mußte noch mehr aus ihm herauszulocken suchen.
»Ich weiß nicht, Doctor, auf welche Thatsachen sich Ihre tragischen Prophezeiungen stützen, gestatten Sie mir aber, Ihnen in Erinnerung zu bringen, daß der Great-Eastern schon etwa zwanzig Mal über den Atlantischen[39] Ocean gefahren ist und auch seine Reisen im Ganzen und Großen glücklich gewesen sind.
– Ganz einerlei! entgegnete Pitferge; das Schiff ist behext, wenn ich mich eines Volksausdrucks bedienen soll, und es wird seinem Geschick nicht entgehen. Man weiß das sehr wohl, und darum fehlt das Vertrauen zu ihm. Denken Sie gefälligst daran, was für immense Schwierigkeiten die Ingenieure gehabt haben, bis sie es von Stapel lassen konnten. Es wollte[40] ebenso ungern in's Wasser, wie das Hospital in Greenwich. Ich kann mich sogar dem Glauben nicht verschließen, daß sein Baumeister Brunnel ›an den Folgen der Operation‹, wie wir Aerzte sagen, verschieden ist.
– Oho! Doctor, fiel ich ein, Sie scheinen mir Materialist zu sein.
– Warum das?
– Weil ich bemerkt habe, daß viele Leute, die nicht an Gott glauben, an alles Uebrige glauben, sogar an das böse Auge.
[41] – Scherzen Sie immerhin, antwortete er, aber lassen Sie mich meine Beweisführung fortsetzen. Der Great-Eastern hat bereits mehrere Gesellschaften ruinirt; trotzdem er für den Auswanderertransport und Waarenverkehr nach Australien erbaut wurde, ist er noch nie in Australien gewesen; er sollte die transoceanischen Packetboote an Schnelligkeit überflügeln und ist hinter ihnen zurückgeblieben.
– Woraus zu schließen ist, daß ....
– Erlauben Sie noch einige Augenblicke, fuhr der Doctor fort. Ein Kapitän des Great-Eastern, und zwar mit der geschickteste, ist schon ertrunken; er wußte dies unerträgliche Rollen zu vermeiden, indem er das Schiff direct gegen den Wellenschlag hielt.
– Dann haben wir den Tod dieses tüchtigen Mannes zu beklagen, das ist aber auch Alles.
– Ferner, argumentirte Pitferge weiter, ohne sich auch nur im Geringsten durch meine Ungläubigkeit irre machen zu lassen, ferner erzählt man sich noch allerlei andere Geschichten über dies Dampfschiff. Man sagt, daß ein Pionnier, der sich einst in seinen Tiefen, wie in einem amerikanischen Urwalde verirrt habe, nie wieder aufgefunden ist.
– Ah! bemerkte ich ironisch, jedenfalls Thatsache!
– Man erzählt sich auch, fuhr der Doctor fort, daß beim Bau der Kessel aus Versehen ein Maschinenbauer mit der Schraube zusammengeschweißt ist.
– Bravo! rief ich; ein zusammengeschweißter Maschinenbauer; ben trovato! Sie glauben das natürlich, lieber Doctor?
– Ich glaube, antwortete Pitferge, daß unsere Reise unheilvoll begonnen hat und schlimm enden wird.
– Der Great-Eastern ist ein solides Fahrzeug, hielt ich ihm entgegen, und von solcher Festigkeit, daß er Widerstand zu leisten vermag wie ein einziger Block, und der wüthendsten See Trotz bietet.
– Er ist solide, das gebe ich zu, versetzte der Doctor; lassen Sie ihn aber erst einmal in die Höhlung der Wogen gerathen, dann werden wir sehen, ob und wie er wieder herauskommt. Er ist allerdings ein Riese unter den Schiffen; aber ein Riese, dessen Kraft nicht mit seiner Größe im Verhältniß steht; die Maschinen sind bei Weitem zu schwach für ihn. – Haben Sie von seiner neunzehnten Reise zwischen Liverpool und New-York gehört?[42]
– Ich kann mich nicht erinnern.
– Nun, ich war auch damals an Bord. Wir hatten Liverpool am 10. December, einem Dienstag, verlassen. Die Passagiere waren zahlreich, hatten das beste Vertrauen, und Alles ging gut, so lange wir durch die irländische Küste vor den Wogen der hohen See gedeckt waren; wir merkten weder Rollen, noch hatten wir Kranke. Am anderen Tage die gleiche Indifferenz des Great-Eastern gegen das Meer, und das gleiche Entzücken der Passagiere. Am 12. gegen Morgen wurde der Wind frisch; die Schlagwellen des hohen Meeres faßten uns in der Quere und der Dampfer begann zu rollen. Passagiere, Männer wie Frauen, verschwanden sofort in die Cajüten. Um vier Uhr hatte sich der Wind in förmlichen Sturm verwandelt, die Möbel singen an hin und her zu tanzen; einer der großen Spiegel im Salon zertrümmerte durch eine gewaltsame Carambolage mit meinem höchsteigenen Haupt; das ganze Geschirr lag stoßweise zerschellt auf dem Boden – kurz ein Heidenlärm! Eine Sturzwelle riß acht Boote von den Taljen los. Jetzt wurde unsere Lage kritisch; die Radmaschine mußte angehalten werden, denn ein ungeheures Stück Blei, das sich durch das Rollen verschoben hatte, drohte, sich in ihren Theilen zu verfangen. Die Schraube trieb uns indessen noch immer vorwärts. Bald nahmen auch die Räder, wenn auch mit halber Geschwindigkeit, ihre Thätigkeit wieder auf, aber das eine hatte sich während des Anhaltens verdreht, und seine Speichen und Schaufeln kratzten am Rumpf des Schiffes her. Man mußte die Maschine von Neuem anhalten und sich, um beizulegen, mit der Schraube begnügen. Die folgende Nacht war schauerlich; der Sturm hatte sich noch verdoppelt, und der Great-Eastern war in die Hohle der Wogen gerathen, aus der er sich nicht wieder herausarbeiten konnte. Bei Tagesanbruch sahen wir, daß nicht ein einziger Beschlag an den Rädern geblieben war und man versuchte, einige Segel aufzuhissen, um zu schwenken und das Schiff wieder seegerecht zu machen. Keine Hilfe! der Sturm riß sie augenblicklich wieder fort. Ueberall herrschte die unbeschreiblichste Verwirrung. Die Kabelketten hatten sich aus ihren Klüsen herausgerissen und rollten von einem Bord zum andern. Ein Viehgitter war durchbrochen worden, und eine Kuh fiel durch die Treppenluke in den Damensalon hinunter; das Hauptstück des Steuers ging entzwei, und an ein Lenken des Schiffes war nun nicht mehr zu denken. Entsetzliche Stöße machten sich bemerkbar; ein Oelbehälter, der mindestens 3000 Kilos wog, und dessen[43] Seisinge zerbrochen waren, fegte das Zwischendeck und schlug abwechselnd so heftig gegen die inneren Seiten, daß man ein Bersten fürchten mußte. Der Sonnabend verging unter allgemeinem Entsetzen, ohne daß das Schiff sich aus der Hohle herausarbeiten konnte. Am Sonntag erst begann der Wind sich zu mäßigen, und es gelang einem amerikanischen Ingenieur, der sich als Passagier an Bord befand, über das Hauptstück des Steuers Ketten zu schlagen. Man machte allmälig die erforderlichen Evolutionen, der Great-Eastern fuhr nun wieder quer durch die Wellen, und acht Tage, nachdem wir Liverpool verlassen hatten, hielten wir unseren Einzug in Queen'stown. – Wer aber kann wissen, Herr, wo wir heute in acht Tagen sind?«
Ausgewählte Ausgaben von
Eine schwimmende Stadt
|
Buchempfehlung
Nachdem im Reich die Aufklärung eingeführt wurde ist die Poesie verboten und die Feen sind des Landes verwiesen. Darum versteckt sich die Fee Rosabelverde in einem Damenstift. Als sie dem häßlichen, mißgestalteten Bauernkind Zaches über das Haar streicht verleiht sie ihm damit die Eigenschaft, stets für einen hübschen und klugen Menschen gehalten zu werden, dem die Taten, die seine Zeitgenossen in seiner Gegenwart vollbringen, als seine eigenen angerechnet werden.
88 Seiten, 4.20 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro