Siebzehntes Kapitel.
Gleich Gott.

[176] Welchen Ausgang würde wohl das Abenteuer haben, worin ich verwickelt war?... Konnte ich, mochte er näher oder ferner liegen, selbst darauf einwirken? Lag das nicht vielmehr ganz in Roburs Hand?... Wahrscheinlich würde sich mir niemals Gelegenheit bieten zu entfliehen, wie das Uncle Prudent und Phil Evans auf der Insel Chatam gelungen war. Nein, für mich hieß es warten, warten, doch wie lange?

Wenn sich meine Neugierde jetzt einigermaßen befriedigt fühlte, so war das doch nur bezüglich der Geheimnisse des Great-Eyry der Fall. Nachdem ichendlich über den Felsenwall hinübergekommen war, kannte ich auch die Ursache der in diesem Teile der Blauen Berge beobachteten Erscheinungen. Mir war's jetzt zur Gewißheit geworden, daß weder die Landbevölkerung dieses Bezirkes von Nordkarolina, noch die Einwohnerschaft von Pleasant-Garden oder von Morganton einen Vulkanausbruch oder ein Erdbeben zu fürchten hatte. Hier arbeiteten keine vulkanischen Kräfte in den Eingeweiden der Erde, kein Krater öffnete sich in diesem Winkel der Alleghanies; der Great-Eyry diente nur Robur dem Sieger als trefflich geschützte Zufluchtsstätte. Bei einer seiner Luftreifen mochte er diesen unersteiglichen Horst entdeckt haben, wo er sein Material, seinen Proviant usw. niederlegte, eine Örtlichkeit, die ihm dafür offenbar noch geeigneter erschienen war, als die Insel X. im Großen Ozean.


Alles stand in kürzester Zeit in hellen Flammen. (S. 182.)
Alles stand in kürzester Zeit in hellen Flammen. (S. 182.)

Doch wenn mir dieses Geheimnis jetzt bekannt war, so wußte ich doch eigentlich noch nichts von dem wunderbaren Flugapparate und von der verschiedenen Art seiner Verwendung. Angenommen, daß sein mehrfacher Mechanismus durch Elektrizität in Tätigkeit gesetzt wurde, und daß er diese Elektrizität, wie der »Albatros«, auf bisher unbekanntem Weg aus der Luft der Umgebung entnahm... die Anordnung des Mechanismus blieb für mich doch nach wie vor ein Rätsel. Man hatte mich diesen und man würde mich ihn ja niemals sehen lassen.

Bezüglich der Frage wegen meiner Freiheit, und ob ich diese noch einmal wieder erhalten würde, hatte ich mir wiederholt Gedanken gemacht.

»Ganz sicherlich, sagte ich mir, kommt es Robur darauf an, unerkannt zu bleiben. Was er mit Hilfe seines Apparates noch auszuführen gedenkt, davon wird man, fürchte ich, wenn ich an seine Drohungen denke, mehr Schlimmes als Gutes zu erwarten haben. Jedenfalls wird er das in der Vergangenheit beobachtete Inkognito auch in der Zukunft zu bewahren suchen. Nur ein einziger Mensch ist imstande, die Identität des ›Herrn der Welt‹ und Robur des Siegers zu beweisen, und dieser Mensch bin ich, sein Gefangener, ich, der den Auftrag hat, ihn zu verhaften, ich, dem die Pflicht oblag, ihm im Namen des Gesetzes die Hand auf die Schulter zu legen!«

Doch konnte ich anderseits von draußen Hilfe erwarten?... Offenbar nein. Die Behörden konnten ja nichts davon wissen, was bei Black-Rock vorgegangen war. Die Polizisten John Hart und Nab Walker waren mit Wells jedenfalls nach Washington zurückgekehrt, und Herr Ward konnte sich nach Anhörung ihres Berichtes wegen meines Todes keinem Zweifel mehr hingeben. Die Sachlage war ja kurz folgende:[178]

Entweder war ich, als die »Epouvante« die Bucht verließ und mich am Taue ihres Ankers nachschleppte, im Eriesee ertrunken, oder ich befand mich, wenn man mich an Bord der »Epouvante« aufgenommen hatte, in den Händen ihres Kapitäns.

Im ersten Falle blieb nichts anderes übrig, als um John Strock, den Oberinspektor der Polizei in Washington, zu trauern. Und im zweiten... Konnte man denn die Hoffnung nähren, diesen jemals wiederzusehen?

Wie berichtet, fuhr die »Epouvante den Rest der Nacht und den folgenden Tag über den Eriesee hin. Gegen vier Uhr begannen in der Nähe von Buffalo zwei Torpedojäger das Fahrzeug zu verfolgen, und diesem gelang es, teils durch seine größere Fahrgeschwindigkeit, teils durch zeitweiliges Untertauchen, ihnen zu entkommen.

Eilten sie ihm auch noch zwischen den Ufern des Niagarastromes nach so mußten sie hier doch bald Halt machen, da die Strömung sie die Fälle hinunter zu reißen drohte. Gegen Abend konnte man an Bord der Torpedojäger nichts anderes glauben, als daß die »Epouvante« in dem Abgrunde vor dem Katarakte untergegangen wäre. Jedenfalls konnte man, da es inzwischen Nacht geworden war, voraussetzen, daß kein Mensch das Luftschiff bemerkt hätte, als es sich über den Hufeisenfall emporschwang, und ebensowenig auf dem weiteren Wege bis zum Great-Eyry.

Sollte ich nun bezüglich meiner selbst an Robur eine Frage richten?... Würde er überhaupt belieben, nur so zu scheinen, als ob er mich verstünde? Ihm genügte es ja offenbar, seinen Namen – nicht genannt, nein – hervorgestoßen zu haben in der Meinung, das sei auf alles eine hinreichende Antwort.

Der Tag verstrich, ohne irgendwelche Änderung in der Lage der Dinge herbeizuführen. Robur und seine Leute beschäftigten sich eifrig mit dem Apparate, dessen Maschinen wohl verschiedene Reparaturen nötig haben mochten. Ich schloß daraus, daß er nicht säumen werde, wieder abzufahren, und daß ich an der Fahrt würde teilnehmen müssen. Man hätte mich zwar auch in diesem Kesseltale zurücklassen können, aus dem zu entweichen mir ganz unmöglich war und wo mein Leben für lange Zeit reichlich gesichert zu sein schien.

Besonders fiel mir jetzt die Gemütsverfassung Roburs auf, denn ihn schien eine dauernde Gereiztheit, eine seelische Spannung mehr als je zu beherrschen. Was mochte da wohl in seinem stets siedenden Gehirn vorgehen?... Welche Pläne schmiedete er für die Zukunft?... Nach welcher Gegend würde er sich wenden?... Wollte er die in seinem Briefe ausgesprochenen Drohungen, offenbar die Drohungen eines Geistesgestörten, wahrzumachen versuchen?[179]

In der dem ersten Tage folgenden Nacht schlief ich auf einem Lager von trockenen Gräsern in einer der Höhlen des Great-Eyry, wohin man mir auch Nahrungsmittel gebracht hatte. Am 2. und am 3. August wurden die Arbeiten fortgesetzt, und dabei wechselten Robur und seine Gefährten kaum einige Worte Sie bemühten sich auch, vielleicht im Hinblick auf eine längere Abwesenheit, um die Herbeischaffung des nötigen Proviants. Wer weiß auch, ob die »Epouvante« nicht ungeheure Strecken durchmessen sollte, wenn ihr Kapitän nicht etwa die Absicht hatte, die weit draußen im Großen Ozean verlorene Insel X. wieder aufzusuchen. Zuweilen sah ich ihn nachdenklich zwischen den Felswänden umherirren, dann wieder stehen bleiben, die Arme zum Himmel emporstrecken, so als erhöbe er sich gegen Gott, mit dem er die Herrschaft über die Welt zu teilen beanspruchte. Würde sein maßloser Stolz nicht noch zur reinen Tollheit ausarten, einer Tollheit, die auch seine kaum weniger überspannten Gefährten nicht mehr zu meistern vermöchten?... Zu welch unglaublichen Abenteuern würde er sich noch verleiten lassen?... Hielt er sich doch schon damals, wo er nur ein Luftschiff besaß, für stärker als die Elemente, denen er höhnisch trotzte. Jetzt boten ihm das Land, die Meere und die Lüfte ein unbegrenztes Feld, wo niemand ihn verfolgen konnte.

Ich mußte von der Zukunft also alles, selbst die schlimmsten Katastrophen befürchten. Aus dem Great-Eyry zu entweichen, ehe ich zu einer neuen Fahrt gezwungen wurde, das war ja ganz unmöglich. Befand sich die »Epouvante« aber einmal in der Luft oder glitt sie über Wasser, so war an dergleichen auch nicht zu denken, sondern höchstens, wenn sie vielleicht langsamer auf einer Landstraße dahinrollte. Wahrlich, das wird jeder zugeben, eine recht schwache Hoffnung!

Ich hatte, wie der Leser weiß, seit meinem Eintreffen im Great-Eyry vergebens den Versuch gemacht, von Robur eine Antwort bezüglich dessen zu erhalten, was er über mich bestimmt hätte. Heute wiederholte ich das. Am Nachmittage ging ich vor der Hauptgrotte des Kessels hin und her. Robur, der an ihrem Eingange stand, folgte mir mit einer gewissen Zähigkeit mit den Blicken. Es sah aus, als beabsichtigte er, mit mir zu sprechen.

Da näherte ich mich ihm.

»Kapitän Robur, begann ich, ich habe schon einmal eine Frage an Sie gerichtet, auf die Sie mir die Antwort schuldig geblieben sind. Diese Frage wiederhole ich hier nochmals: Was wollen Sie mit mir beginnen?«

Da standen wir einander, kaum zwei Schritt weit, Auge in Auge gegenüber. Die Arme gekreuzt, starrte er mich an, und ich erschrak vor seinem Blicke.[180]

Ich entsetzte mich wirklich! Das war nicht der eines Mannes, der noch im Besitze seiner Vernunft war, nein, ein Blick, der nichts Menschliches mehr an sich hatte.

Ich wiederholte meine Frage mit mehr Nachdruck. Einen Augenblick schien es, als wollte Robur sein hartnäckiges Stillschweigen brechen.

»Was wollen Sie mit mir beginnen?... Werden Sie mir die Freiheit zurückgeben?«

Ich sah es wohl, Robur war von gewissen Gedanken besessen, die ihn nicht mehr verließen. Die Bewegung, die mir schon aufgefallen war, als er vorhin vor sich hinbrütend auf und ab lief, diese Bewegung machte er auch jetzt wieder. Den Arm nach dem Zenit hinausgestreckt, schien es, als ob eine unwiderstehliche Macht ihn nach höheren Sphären hinauszöge, als gehörte er der Erde gar nicht mehr an, als sei es seine Bestimmung, ein dauernder Bewohner der Atmosphäre, hoch oben im freien Weltraume zu leben.

Ohne mich einer Antwort zu würdigen – er schien meine Frage überhaupt nicht gehört oder nicht verstanden zu haben – wandte sich Robur in die Höhle zurück, wo Turner sehr bald zu ihm kam.

Wie lange würde der Aufenthalt, oder vielmehr diese Rast der »Epouvante« im Hafen des Great-Eyry dauern?... Ich wußte das nicht, glaubte jedoch zu bemerken, daß die Reparaturarbeiten und die Verproviantierung am Nachmittage des 3. August beendigt wären. Die Frachtkammern im Innern des Apparates waren mit Nahrungsmitteln reichlich gefüllt. Dann schleppten Turner und sein Gefährte in der Mitte des Kesseltales alles zusammen, was von verschiedenem Material noch vorhanden war, leere Kisten, Überreste von Zimmerwerk und einzelne Holzstücke, wahrscheinlich lauter Überbleibsel von dem alten »Albatros«, der beim Bau des neuen Luftschiffes geopfert worden war. Unter dem Gerümpelhaufen lag eine dicke Schicht von dürrem Grase. Alles deutete mir darauf hin, daß Robur diese Zufluchtsstätte ohne den Gedanken an eine Rückkehr dahin zu verlassen gedächte.

Er wußte ja auch, daß die öffentliche Aufmerksamkeit dem Great-Eyry zugewendet und daß ein Versuch unternommen worden war, in diesen einzudringen Da mußte er wohl fürchten, daß ein solcher früher oder später mit mehr Erfolg erneuert werden könnte, daß es schließlich gelänge, ins Innere der Felsmauer einzudringen, und ihm lag ja gewiß daran, hier keine Spuren von seinem Aufenthalte und von seinen Arbeiten zurückzulassen.[181]

Die Sonne war hinter dem hohen Kamme der Blauen Berge verschwunden Ihre Strahlen vergoldeten nur noch den Gipfel des nordöstlichen, letzten Ausläufers des Black-Dome. Ohne Zweifel würde die »Epouvante« die Nacht abwarten, ehe sie ihren Flug wieder aufnahm. Kein Mensch ahnte ja, daß sie sich aus einem Automobil und aus einem Wasserfahrzeuge auch in ein Luftschiff verwandeln konnte. In der Höhe schwebend ward sie noch von niemand gesehen, wenigstens war darüber noch nichts gemeldet worden. Und würde sie nicht in dieser vierten Transformation an dem Tage aufsteigen, wo der »Herr der Welt« seine wahnsinnigen Drohungen wahr machen wollte?

Gegen neun Uhr lagerte eine tiefe Finsternis auf dem Grunde des Kessels Kein Stern glitzerte am Himmel, der mit dicken, vom Ostwinde dahingetriebenen Wolken bedeckt war. Das Vorüberfliegen der »Epouvante« konnte daher weder über dem amerikanischen Gebiete, noch über den angrenzenden Meeren bemerkt werden.

Jetzt trat Turner an den in der Mitte des Horstes errichteten Scheiterhaufen heran und setzte das trockene Gras in Brand.

Alles stand in kürzester Zeit in hellen Flammen. Ein dicker Rauch wälzte sich hinauf, und dazwischen erhoben sich Feuergarben, die über die Randfelsen des Great-Eyry hinauszüngelten. Noch einmal mußten die Bewohner von Pleasant-Garden und von Morganton glauben, daß der – vermutliche – Krater sich wieder geöffnet habe, und daß diese Flammen einen bevorstehenden Vulkanausbruch ankündigten.

Ich betrachtete die Feuersbrunst und vernahm das Knistern und Krachen, das die Luft erfüllte. Robur, der auf dem Verdeck der »Epouvante« stand, beobachtete ebenfalls das grausige Schauspiel. Turner und sein Gefährte warfen auf die Brandstätte die Trümmer zurück, die vom Feuer neben diese auf die Erde geschleudert worden waren.

Allmählich verblaßte der Feuerschein. Zuletzt glimmte es nur da und dort noch unter einer dicken Aschenschicht und es wurde unheimlich still in der pechschwarzen Nacht.

Plötzlich fühlte ich mich an den Armen ergriffen. Turner zerrte mich nach der Flugmaschine hin. Jeder Widerstand wäre vergeblich gewesen, und am Ende war ja alles besser, als ohne Hilfsmittel und ohne Nahrung in diesem Felsenkrater zurückgelassen zu werden, aus dem ich mich auf keine Weise retten konnte.

Ich hatte kaum das Verdeck betreten, als auch Turner heraufsprang, während sein Gefährte wieder auf dem Vorderteile Platz nahm. Turner begab[182] sich sogleich in den Maschinenraum, der von elektrischen Lampen, doch in der Weise erhellt war, daß kein Lichtschimmer nach außen dringen konnte.

Robur stand auf dem Hinterteile, wo er den Regulator bequem bei der Hand hatte und die Geschwindigkeit und die Richtung der Bewegung zu regeln pflegte.

Ich selbst hatte mich unverzüglich in meine Kabine begeben müssen, deren Lukendeckel sich über mir schloß. Auch diese Nacht – wie in der der Abfahrt vom Niagarafalle – sollte es mir nicht erlaubt sein, die Manöver der »Epouvante« zu beobachten.

Konnte ich aber auch nichts von dem sehen, was an Bord vorging, so konnte ich doch das Geräusch von der Maschine hören. Ich hatte eine deutliche Empfindung davon, daß der sich langsam erhebende Apparat jede Verbindung mit dem Erdboden verlor. Zuerst schwankte er ein wenig auf und ab, dann nahmen die unteren Turbinen eine ungeheure Geschwindigkeit an, und die mächtigen Flügel peitschten die Luft in regelmäßigen Schlägen.

Die »Epouvante« hatte also – wahrscheinlich auf Nimmerwiederkehr – den Great-Eyry verlassen und war ins Luftmeer »ausgelaufen«, wie man von einem Schiffe sagt, wenn es in See gegangen ist. Der Aviator (das Luftschiff mit Vogelflug) schwebte über der Doppelkette der Alleghanies und hielt sich voraussichtlich in großer Höhe, bis er das orographische Netz dieses Gebietsteiles hinter sich hatte.

Doch welcher Richtung folgte unser Luftfahrzeug? Sollte es über die Ebenen Nordkarolinas hinfliegen und sich dem Atlantischen Ozean zuwenden?... Oder steuerte es im Gegenteil nach Westen, um über den Großen Ozean hinzuschweben?... Schlug es etwa einen Kurs nach Süden, nach dem Meerbusen von Mexiko ein?... Woran würde ich, wenn es wieder Tag wurde, zu erkennen vermögen, über welches Meer es sich hinbewegte, wenn sich dann Himmel und Wasser nur noch an einer Grenzlinie berührten?

So schwanden mehrere Stunden, doch wie lang, wie lang erschienen mir diese!... Ich versuchte gar nicht, sie im Schlummer zu vergessen. Eine Menge, meist unzusammenhängender Gedanken wirbelten mir durch den Kopf. Mir war's, als würde ich davon hingeschleppt durch alles Unmögliche, so wie ich jetzt tatsächlich auf einem fliegenden Ungeheuer durch die Luft getragen wurde. Bis wohin würde dieses bei seiner erstaunlichen Geschwindigkeit wohl noch im Laufe der Nacht gelangen?... Ich erinnerte mich dabei der fast unglaublichen Luftreise des »Albatros«, über die das Weldon-Institut nach den Mitteilungen[183] Uncle Prudents und Phil Evans' einen Bericht veröffentlicht hatte. Was Robur der Sieger mit seinem früheren Luftschiffe hatte ausführen können, das mußte ihm doch mit dem neuen, den Flug des Vogels nachahmenden Apparat erst recht, ja unter noch günstigeren Verhältnissen gelingen, da er jetzt sozusagen Herr der Erde, der Meere und der Lüfte war.

Endlich drang der erste Tagesschein in meine Kabine. Noch wußte ich nicht, ob es mir vergönnt sein werde, diese zu verlassen und meinen Platz auf dem Verdeck wieder einzunehmen, wie mir das bei der Fahrt über den Eriesee vergönnt gewesen war.

Auf einen Druck gab der Lukendeckel nach und ich richtete mich vollends auf.

Rings um die »Epouvante« dehnte sich ein Meereshorizont aus. In der Höhe von tausend bis zwölfhundert Fuß flogen wir über einen Ozean hin.

Robur sah ich zunächst nicht, er mochte sich wohl im Maschinenraume aufhalten.

Turner stand am Steuer und sein Genosse am Vorderteile des Decks.

Sobald ich mich auf diesem befand, sah ich, was ich während der Nachtfahrt zwischen dem Niagarafalle und dem Great-Eyry nicht hatte sehen können, wie die mächtigen Flügel arbeiteten, die sich an Back- und an Steuerbord auf und ab bewegten, während sich die Turbinen unter den Seitenwänden des Fahrzeuges gleichsam in die Luft hineinbohrten oder -schraubten.

Aus dem Stande der Sonne, wenige Grade über dem Horizonte, erkannte ich, daß wir nach Süden steuerten. War der Kurs seit der Abfahrt aus dem Kesseltale kein anderer gewesen, so mußte das Meer, das sich unter unseren Füßen ausbreitete, der Golf von Mexiko sein. Der Tag versprach warm zu werden; im Westen stiegen langsam dicke, bleifarbene Wolken auf. Diese Vorzeichen entgingen auch Robur nicht, als er gegen acht Uhr aufs Verdeck herauskam, um Turner abzulösen. Vielleicht erinnerte er sich dabei an jene Wasserhose, die den »Albatros« zu zerstören gedroht hatte, und an den furchtbaren Wirbelsturm im antarktischen Gebiete, aus dem er nur wie durch ein Wunder heil und gesund hervorgegangen war.

Was freilich in einem ähnlichen Falle das frühere Luftschiff nicht hätte tun können, das mußte dem jetzigen Aviator ein Leichtes sein. Er brauchte sich ja nur aus den oberen Luftschichten, wo der Kampf der Elemente wüten würde, hinabzusenken, also nur auf die Oberfläche des Meeres hinunterzugehen, und wenn hier ein gar zu heftiger Wogengang herrschte, so wußte er ja in der stillenTiefe dagegen Schutz zu finden. Irgendwelchen Anzeichen nach setzte Robur – der gewiß die Eigenschaften eines »Weather-wise« (Wetterkundigen) besaß? – aber jedenfalls voraus, daß das Unwetter, wenn der Himmel auch gewitterdrohend aussah, am heutigen Tage nicht zum Ausbruch kommen würde. Er hielt also seine bisherige Richtung ein, und auch als wir am Nachmittage aufs Wasser hinuntergingen, geschah das gewiß nicht aus Besorgnis vor schlechtem Wetter.


Die »Epouvante« wurde Schlag auf Schlag von Blitzen getroffen. (S. 189.)
Die »Epouvante« wurde Schlag auf Schlag von Blitzen getroffen. (S. 189.)

Die »Epouvante« ist ein Seevogel, ein Fregattvogel oder ein Alcyon (Taucherkönig), der auf den Wellen ausruhen kann, nur mit dem Unterschiede, daß bezüglich ihrer metallischen, von unerschöpflicher Elektrizität bewegten Organe von Ermüdung keine Rede sein kann.

Die grenzenlose Wasserfläche war übrigens völlig öde und leer. Selbst am äußersten Horizonte zeigte sich weder ein Segel noch eine Rauchsäule. Der Aviator konnte also bei seinem Fluge durch die Luft von niemand beobachtet worden sein.

Am Nachmittage ereignete sich nichts Ungewöhnliches. Die »Epouvante« lief nur mit mittlerer Geschwindigkeit. Welche Pläne der Kapitän haben mochte, das konnte ich unmöglich erraten. Bei der weiteren Verfolgung der jetzigen Richtung mußte er auf eine oder die andere der Großen Antillen treffen und auf der entgegengesetzten Seite des Meerbusens nach der Küste von Venezuela oder Kolumbien kommen. In der nächsten Nacht stieg das Luftschiff vielleicht aber wieder auf, um über die große Landenge von Guatemala und Nicaragua hinwegzuschweben und endlich im Großen Ozean die Insel X. zu erreichen.

Als der Abend herankam, verbarg sich die Sonne hinter einem blutroten Horizonte. Das Meer leuchtete rings um die »Epouvante« auf, die bei ihrer Fahrt eine Wolke von Funken aufzuwirbeln schien. Da mußte man wohl – wie die Matrosen sagen – ein »Hundewetter« erwarten.

Das war sicherlich auch Roburs Ansicht. Statt auf dem Verdeck bleiben zu dürfen, mußte ich hinunter in meine Kabine, deren Lukendeckel sich über mir schloß.

Einige Augenblicke darauf erkannte ich aus dem Geräusch, das an Bord entstand, daß der Apparat jetzt untertauchen sollte. Wirklich schwamm er fünf Minuten später in dem schon in mäßiger Tiefe ganz ruhigen Wasser.

Ebenso durch die Ermüdung des Körpers wie durch meine stete Besorgnis erschöpft, versank ich bald in tiefen Schlaf... diesmal in einen natürlichen Schlaf, der nicht durch eine starkbetäubende Arznei herbeigeführt war.

Bei meinem Erwachen – nach wieviel Stunden konnte ich nicht sagen – war die »Epouvante« noch nicht nach der Oberfläche des Meeres zurückgekehrt.[186]

Das sollte jedoch sehr bald geschehen. Das Licht drang durch die kleinen Pforten wieder unbehindert ein, und gleichzeitig machten sich, infolge des sehr starken Wellenganges, Stampf- und Schlingerbewegungen bemerkbar.

Ich konnte bald wieder neben der Luke Platz nehmen, und mein erster Blick richtete sich natürlich auf den Horizont.

Von Nordwesten stieg jetzt ein Gewitter auf; schwere Wolken, zwischen denen blendende Blitze hin und her zuckten, wälzten sich wie kämpfend empor. Schon hörte man aus der Ferne das Rollen des Donners, der durch das Echo im Luftmeer einen lang anhaltenden Widerhall fand.

Ich war verwundert – nein, mehr als verwundert – erschreckt von der Schnelligkeit, womit das Gewitter zum Zenit hinaufzog. Ein Schiff hätte kaum Zeit gehabt, seine Segel zu bergen, um den drohenden Sturm aushalten zu können, so schnell und heftig erfolgte dieser Überfall.

Plötzlich entfesselte sich der Wind mit geradezu unerhörter Gewalt, als hätte er eine Wand von Dünsten durchbrochen. Augenblicklich erhob sich ein furchtbarer Wogengang. Die empörten Wellen, deren Kämme sich weißschäumend überschlugen, fegten wütend über die »Epouvante« hinweg, und wenn ich mich nicht krampfhaft festgehalten hätte, wäre ich dabei über Bord gespült worden.

Hier gab es nur eine Rettung: den Apparat sofort wieder zum Taucherboot zu verwandeln und ihn zehn Fuß unter der Oberfläche ruhiges Wasser aufsuchen zu lassen. Dem Wüten des entfesselten Meeres noch länger zu trotzen, das erschien doch unmöglich. Robur blieb auf dem Verdeck, und ich erwartete die Aufforderung, mich in meine Kabine zurückzuziehen; diese Aufforderung erfolgte jedoch nicht, ebensowenig wurde auch irgendwelche Vorbereitung zum Untertauchen getroffen.

Das Auge noch wilder aufflammend, starrte der Kapitän, den dieses Unwetter völlig kalt ließ, gerade hinein, wie um der Elemente zu spotten, da er wußte, daß er von diesen nichts zu fürchten hätte. Noch erschien es dringend, geboten, daß die »Epouvante« untertauchte, ohne nur eine Minute zu zögern, Robur schien sich dazu aber nicht entschließen zu wollen.

Nein, er bewahrte seine hochmütige Haltung gleich einem Manne, der sich in seinem unbezähmbaren Stolze erhaben über der Menschheit fühlt. Als ich ihn in dieser Haltung beobachtete, fragte ich mich, nicht ohne ein gewisses Schaudern, ob dieser Mann nicht etwa ein phantastisches, aus einer übernatürlichen Welt stammendes Wesen wäre.[187]

Da tönten aus seinem Munde die folgenden gotteslästerlichen Worte, die ich inmitten des Brausens des Sturmes und des Krachens der Donnerschläge verstand:

»Ich... ich... der Herr der Welt!... Gleich Gott!... Gleich Gott!«

Danach machte er ein Zeichen, das Turner und dessen Genosse zu deuten wußten. Es war ein Befehl, und die Unglücklichen, die ebenso wahnwitzig waren wie er, führten ihn ohne Zögern aus.

Die großen Flügel weit entfaltet, erhob sich das Luftschiff, ganz wie über den Fällen des Niagara. War es damit aber zu jener Zeit den Wirbeln des Kataraktes entgangen, so trug es sein wahnsinniger Flug heute mitten in die Wirbel des Gewittersturmes hinein.

Der Aviator zog mitten durch die sich kreuzenden Blitze, mitten durch das Krachen des Donners an dem in Feuer stehenden Himmel hin. Er bewegte sich in gottlosem Trotz, könnte man sagen, durch die blendenden Strahlen, jeden Augenblick bedroht, getroffen und zerschmettert zu werden.

Robur hatte seine Haltung nicht im geringsten verändert. Das Steuer hielt er in der einen, den Regulator in der andern Hand, und die Turbinen bohrten sich in die Luft ein, die Flügel schlugen auf und nieder, als ob sie brechen sollten, der Wahnsinnige aber trieb den Apparat in das schlimmste Unwetter und da hinein, wo die elektrischen Entladungen von einer Wolke zur anderen schlugen. Dazu wiederholte er mit schrecklicher Stimme:

»Gleich Gott!... Gleich Gott!«

Man hätte sich auf diesen Verrückten stürzen und ihn mit Gewalt hindern sollen, das Luftschiff mitten in den Hochofen der Luft zu treiben. Man hätte ihn zwingen sollen, hinunterzusteigen und unter dem Wasser die Rettung zu suchen, die weder hier, noch auf der Meeresfläche oder in den höchsten Schichten der Atmosphäre mehr zu finden war. Dort, unter der Wasserfläche hätte er es in aller Sicherheit abwarten können, bis der wütende Kampf der Elemente ausgefochten war.

Da wallten alle meine Instinkte, all meine Leidenschaft für Pflichterfüllung in mir auf.... Ja, es war der reine Wahnsinn, diesen Verbrecher, den mein Vaterland in Acht und Bann getan hatte, der die ganze Welt mit seiner teuflischen Erfindung bedrohte, nicht dingfest zu machen, nicht die Hand auf ihn zu legen, um ihn der strafenden Gerechtigkeit zu überantworten!... War ich denn Strock, der Oberinspektor der Bundespolizei, oder war ich es nicht mehr? Und ohne zu bedenken, wo ich mich befand und daß ich einer gegen drei war,[188] hier über einem tief aufgewühlten Meere, eilte ich nach dem Hinterteile des Aviators und rief, mich auf Robur stürzend, mit einer Stimme, die den Aufruhr der Elemente übertönte:

»Im Namen des Gesetzes, ich...«

Plötzlich erzitterte die »Epouvante«, wie von einem heftigen, elektrischen Schlage getroffen. Ihr gesamtes Gerüst bebte, wie der menschliche Körper unter einer stärkeren Entladung dieses Fluidums. Der Apparat, der in der Mitte seiner mechanischen Ausrüstung getroffen war, wich in allen Teilen auseinander.

Die »Epouvante« wurde Schlag auf Schlag von Blitzen getroffen, ihre Flügel zerbrachen, ihre Turbinen wurden zerstört, und die Trümmer stürzten aus der Höhe von tausend Fuß hinunter in die Tiefen des Golfes.

Und während dieses entsetzlichen Sturzes ertönten aus dem Munde des jetzt aller Vernunft beraubten »Herrn der Welt« noch die lästerlichen Worte: »Gleich Gott!... Robur!... Gleich Gott!

Quelle:
Jules Verne: Herr der Welt. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXVI, Wien, Pest, Leipzig 1905, S. 176-189.
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