Elftes Capitel.
Was sich in J. T. Maston's Notizbuch findet, und was sich nicht darin findet.

[116] Das durch die Polizei von Baltimore beschlagnahmte Notizbuch enthielt einige dreißig, mit Formeln, Gleichungen und zuletzt mit Zahlenangaben bedeckte Seiten, welche das Gesammtergebniß der Berechnungen J. T. Maston's darstellten. Es war eine ins Gebiet der höheren Mechanik fallende Arbeit, welche nur Mathematiker richtig zu würdigen verstanden. Da fand sich unter anderen jene Gleichung der lebendigen Kraft welche schon in dem Probleme der beabsichtigten Reise nach dem Monde vorkam, wo sie übrigens den relativen Ausdruck der Anziehung des Mondes darstellte.


11. Capitel

[116] Kurz, die Laienwelt hätte von dieser Arbeit nicht das Geringste verstanden. Dennoch erschien es angezeigt, die Angaben und Endergebnisse, um derenwillen sich die ganze Welt schon seit einigen Wochen so ausnehmend beunruhigte, öffentlich bekanntzugeben.

Das überließ man denn auch den Tagesblättern zur Einsicht, gleich nachdem die Gelehrten der Sachverständigen-Commission die Formeln des berühmten Rechners geprüft, und das brachten alle öffentlichen Blätter ohne Unterschied des Parteistandpunktes pflichtschuldigst zur Kenntniß der Allgemeinheit.

Ueber die Arbeit J. T. Maston's kam es zu keinem weiteren Meinungsaustausche. Ein richtig aufgestelltes ist schon ein zur Hälfte gelöstes Problem, sagte man, und das traf bezüglich des vorliegenden in hervorragendem Maße zu. Uebrigens waren die Berechnungen mit so viel Genauigkeit und Verläßlichkeit ausgeführt, daß die Sachverständigen-Commission gar nicht daran dachte, deren Ergebnisse und die dadurch bedingten Folgen in Zweifel zu ziehen. Wurde das Vorhaben mit Berücksichtigung dieser Unterlagen durchgeführt, so mußte die Erdachse unfehlbar eine Lagenveränderung erleiden und mußten die vorausgesehenen Umwälzungen in vollem Umfange eintreten.


Nota, redigirt durch die Sachverständigen-Commission in Baltimore, bestimmt zur Mittheilung an die Journale, Revuen und Magazine der Alten und der Neuen Welt.


»Die von dem Verwaltungsrathe der ›North Polar Practical Association‹ beabsichtigte Wirkung, dahin gehend, die alte Rotationsachse durch eine neue zu ersetzen, soll erzielt werden mittelst des Rückstoßes eines explodirenden, an einem bestimmten Punkte der Erde anzubringenden Apparates, oder einer riesenhaften Kanone. Ist die Seele des Rohres derselben unverrückbar mit dem Boden verbunden, so unterliegt es keinem Zweifel, daß ihr Rückstoß sich auf die ganze Masse unseres Planeten fortpflanzen muß.

Der von den Ingenieuren der Gesellschaft hierzu ausersehene Apparat entspricht nun wirklich einer Kanone von ungeheuerlichen Größenverhältnissen, deren Effect immer gleich Null sein würde, wenn man sie in senkrechter Lage abfeuerte. Um eine Maximalwirkung zu erzielen, muß dieselbe horizontal nach Norden oder Süden gerichtet werden, und eben diese Richtung ist von Barbicane & Cie.[117] auch ins Auge gefaßt worden. Unter diesen Verhältnissen übt der Rückprall einen Stoß auf die Erde nach Norden zu aus – einen Stoß, der etwa dem eines ›sein genommenen‹ Billardballes zu vergleichen wäre.«

Das hatte der scharfsinnige Alcide Pierdeux also richtig vorausgefühlt.

»Wird die Ladung abgefeuert, so verschiebt sich der Mittelpunkt der Erde parallel jenem Stoße, was die Ebene der Erdbahn und folglich die Dauer des Jahres verändern müßte, doch ist das nur in so geringem Maße zu erwarten, daß es füglich außer Acht ge lassen werden kann. Gleichzeitig nimmt die Erde eine Umdrehung um eine in der Ebene des Aequators gelegene Achse an, und ihre Rotation würde in alle Ewigkeit um diese neue Achse erfolgen, wenn die tägliche Bewegung nicht schon vor dem Stoße vorhanden gewesen wäre.

Diese Bewegung besteht aber um die, die Pole verbindende Linie, und, indem sie sich nun mit der accessorischen, durch den Rückstoß erzeugten Bewegung verbindet, führt sie zur Entstehung einer neuen Achse, deren Pol sich von dem alten um die Größe x entfernt. Wird die Ladung nun in dem Augenblicke abgefeuert, wo der Frühlingspunkt – einer der beiden Durchschneidungspunkte des Aequators und der Ekliptik – gerade mit dem Zielpunkte zusammenfällt, und ist der Rückstoß kräftig genug, um den alten Pol um 23°28' zu verlegen, so wird die neue Erdachse sich senkrecht zur Bahnebene einstellen, wie das nahezu für den Planeten Jupiter zutrifft.

Man weiß aus dem Munde des Präsidenten Barbicane selbst, welche Veränderungen diese Perpendicularität mit sich bringen würde, denn der Genannte hat sie schon in einer Sitzung am 20. December a. p. dargelegt.

Bedenkt man aber die Masse der Erde und die Quantität der Bewegung, welche ihr innewohnt, so entsteht die Frage, ob man überhaupt einen Feuerschlund herzustellen im Stande ist, dessen Rückstoß eine Veränderung in der derzeitigen Lage des Pols, und vorzüglich eine solche im Werthe von 23°28', zu bewirken vermöchte.

Gewiß, wenn eine Kanone oder eine Reihe von Kanonen mit den durch die Gesetze der Mechanik bedingten Ausmaßen construirt würde, oder, bei gezwungenem Verzicht auf diese Größenverhältnisse, wenn die Erfinder im Besitze eines Explosivstoffes von solcher Kraft wären, daß es dem fortgeschleuderten Projectile die für ein solches Deplacement nothwendige Geschwindigkeit ertheilte.

Nimmt man als Muster hierfür die 27 Cm.-Kanone der französischen Marine (Modell 1875) an, welche einem Geschosse von hundertachtzig Kilogramm[118] eine Fluggeschwindigkeit von fünfhundert Metern in der Secunde ertheilt, und gibt man jenem Feuerrohre hundertmal, im Volumen also eine Millionmal größere Dimensionen, so würde dasselbe ein Geschoß von hundertachtzigtausend Tonnen fortschleudern. Hätte überdies das verwendete Pulver hinreichende Treibkraft, um dem Projectil eine fünftausendsechshundertmal größere Geschwindigkeit als das alte Geschützpulver zu ertheilen, so wäre damit das gewünschte Resultat erzielt. Bei einer Geschwindigkeit von zweitausendachthundert Kilometern in der Secunde1 ist auch nicht zu befürchten, daß der Anprall des Geschosses durch eine Wiederbegegnung mit der Erde die alten Verhältnisse aufs neue herstellen könnte.

Zum Unglück für die irdische Sicherheit, so unglaublich das auch erscheinen mag, sind nun J. T. Maston und seine Collegen im Besitze dieses Explosivstoffes von nahezu unbegrenzter Gewalt, von der das Pulver, welches früher zur Forttreibung ihres Columbiaden-Geschosses nach dem Monde Verwendung fand, gar keine zureichende Vorstellung zu geben vermag. Der Capitän Nicholl ist es, der dasselbe erfunden hat. Welcher Art die Substanzen sind, die seine Mischung bilden, dafür finden sich in J. T. Maston's Notizbuche nur unzulängliche Angaben, denn er begnügt sich, den betreffenden Explosivstoff als ›Meli-Melonit‹ zu bezeichnen.

Alles, was man in Erfahrung gebracht, beschränkt sich darauf, daß derselbe durch die Aufeinanderwirkung von organischen Substanzen und Salpetersäure entstehen soll. Eine gewisse Anzahl einatomiger Radicale


11. Capitel

tritt dabei an die Stelle gleich vieler Wasserstoffatome, und man erhält dadurch ein Pulver, welches – wie die Schießbaumwolle – aus einer wirklichen chemischen Verbindung, nicht aber aus einfacher Mischung der verbrennungunterhaltenden und der verbrennlichen Grundstoffe hervorgeht.


In einem Augenblicke war J. T. Maston entwaffnet. (S. 116).
In einem Augenblicke war J. T. Maston entwaffnet. (S. 116).

Doch was dieser Explosivstoff auch sein mag, bei der ihm überreichlich innewohnenden Kraft, ein Geschoß von hundertachtzigtausend Tonnen bis über die Grenze der Anziehungskraft der Erde hinauszuschleudern, liegt es auf der Hand, daß die Wirkung, welche sein Rückstoß auf das Rohr ausübt, die unmittelbare[119] Folge haben wird: die Erdachse zu verlegen und den Pol um 23°28' zu verschieben, so daß die neue Achse lothrecht zur Bahnebene, d.h. zur Ebene der Ekliptik, stehen wird. Hieraus entstehen dann alle mit Recht von den Bewohnern des Erdballs gefürchteten Katastrophen.

Ist es nun möglich, eine Kanone herzustellen, welche im Volumen eine Million mal das jetzige 27 Cm.-Geschütz übertrifft? Wie groß auch die Fortschritte der metallurgischen Industrie sein mögen, welche die Tay- und die Forthbrücke, den Viaduct von Garabit und einen Eiffelthurm zu Stande brachten, ist es deshalb[120] annehmbar, daß Ingenieure auch jenes überriesenmäßige Geschütz, ohne von dem in den Weltraum hinauszuschleudernden Geschoß von hundertachtzigtausend Tonnen Gewicht zu reden, herzustellen vermöchten?

Das darf man wohl bezweifeln, und hierin liegt offenbar ein Grund dafür daß das Unternehmen von Barbicane & Cie. wenig Aussicht hat, wirklich zur Durchführung zu gelangen. Noch läßt dasselbe freilich ein offenes Feld für höchst beunruhigende Möglichkeiten, da es scheint, daß die Gesellschaft ihr Werk schon thatsächlich in Angriff genommen hat.[121]

Es sei nämlich hiermit kundgegeben, daß Barbicane und Nichol Baltimore und Amerika bereits verlassen haben. Seit zwei Monaten sind sie abgereist.... Ueber ihr Ziel weiß man nichts Anderes, als daß sie sich wahrscheinlich nach demjenigen unbekannten Punkte der Erde begeben haben, wo alles zu ihrem Unternehmen Nöthige vorbereitet werden muß.


Es war dies eine Arbeit der höheren Mechanik. (S. 116.)
Es war dies eine Arbeit der höheren Mechanik. (S. 116.)

Welcher dieser Punkt sei, weiß man eben nicht, und deshalb ist es unmöglich, die tollkühnen »Verbrecher« (sic!) zu verfolgen, welche sich unterfangen, die Welt umstürzen zu wollen in der Absicht, zum eigenen Vortheil neue Kohlenlager auszubeuten.

Daß dieser Punkt auf der letzten Seite von J. T. Maston's Notizbuche, welche Seite eine Uebersicht seiner Rechnungsresultate enthalten mochte, aufgezeichnet gewesen sei, ist nur zu wahrscheinlich. Das letzte Blatt jenes Buches ist aber von den Zähnen des Complicen Impey Barbicane's zerrissen und vernichtet worden, und dieser jetzt im Gefängnisse von Baltimore detinirte Complice verweigert unbedingt jede Auskunft.

So ist die augenblickliche Sachlage. Wenn dem Präsidenten Barbicane die Herstellung einer Monstre-Kanone und des zugehörigen ungeheuren Geschosses gelingt, kurz, wenn sein Werk in den oben angeführten Verhältnissen vollbracht wird, so wird er die alte Erdachse verändern, und binnen sechs Monaten dürfte die Erde die Folgen dieses ›unverzeihlichen Versuchs‹ empfinden.

Es ist nämlich hierfür ein Datum gewählt worden, an dem der Schuß seine volle und umfassendste Wirkung zu äußern vermag, ein Datum, an welcher der dem Erdsphäroïd ertheilte Stoß das Maximum der Intensität erreichen muß.

Es ist das der 22. September, zwölf Stunden nach dem Durchgang der Sonne durch den Meridian des Ortes x.

Wenn nun einerseits die einschlägigen Verhältnisse bekannt sind, nämlich 1. daß der Schuß aus einer das 27 Cm.-Geschütz eine Million mal übertreffenden Kanone abgegeben werden soll; 2. daß diese Kanone mit einem Projectil im Gewichte von hundertachtzigtausend Tonnen geladen sein wird; 3. daß für dieses Projectil eine Geschwindigkeit von zweitausendachthundert Kilometern in der Secunde ins Auge gefaßt ist, und 4. daß der Schuß am 22. September zwölf Stunden nach dem Durchgange der Sonne durch die Mittagslinie des betreffenden Ortes abgefeuert werden soll – kann man dann andererseits aus diesen Verhältnissen den Ort x ableiten, an dem jenes Unternehmen ausgeführt werden dürfte?[122]

Offenbar nein!... haben darauf die sachverständigen Mitglieder der Commission geantwortet.

In der That liefert nichts die Unterlagen zur Berechnung, wo der Punkt x zu suchen sei, weil in der Arbeit J. T. Maston's nichts darauf hinweist, welche Stellen des Erdballs die neue Achse durchschneiden soll, mit anderen Worten an welchen Orten die neuen Pole der Erde gelegen sein würden. Freilich, 23°28' entfernt von den alten; doch unter welchem Längengrade, das läßt sich in keiner Weise feststellen.

Ebensowenig ist also vorauszusehen, welche die in Folge der Niveauveränderungen der Oceane tiefer gesenkten oder höher gehobenen Landstrecken sein, welche Continente sich in Meere und welche Meere sich in Continente verwandeln werden.

Und doch muß, nach den Berechnungen J. T. Maston's, diese Niveauveränderung eine sehr beträchtliche sein. Nach dem furchtbaren Stoße wird die Oberfläche der Meere die Gestalt eines um die neue Polarachse sich drehenden Ellipsoïds annehmen, und das Niveau der flüssigen Massen muß sich fast an jedem Punkte des Erdballs verändern.

In der That wird die Schnittlinie des Niveaus des altes Meeres und »die des neuen Meeres – zwei gleiche Umdrehungsflächen, deren Achsen sich schneiden – aus zwei gebogenen Ebenen entstehen, deren Flächen eine zur Ebene der beiden Polachsen Lothrechte, respective die beiden Nebensectoren des Winkels der beiden Polarachsen durchschneiden. (Wörtlich nach dem Notizbuche des Berechners.)

Hieraus folgt, daß die Maxima der Niveauveränderung eine Hebung oder Senkung von 8415 Metern gegenüber dem alten Niveau erreichen und daß gewisse Punkte der Erdkugel um diesen Betrag gehoben oder gesenkt werden können. Dieser Betrag wird sich allmählich verkleinern bis zu den Grenzlinien, welche den Erdball in vier Kugelabschnitte theilen, an deren Grenzen selbst die Niveauveränderung gleich Null sein wird.

Es ist darauf hinzuweisen, daß der alte Pol selbst um 3000 Meter unter das Wasser versenkt werden dürfte, da er sich in Folge der Abplattung der Erde dem Mittelpunkte derselben um ebenso viel näher befindet. Das von der ›North Polar Practical Association‹ erworbene Gebiet dürfte also gänzlich überfluthet und deshalb nicht ausnutzbar werden. Dieser Umstand ist aber von Barbicane & Cie. ebenfalls erwogen worden, da aus den neuesten Entdeckungen[123] herzuleitende geographische Erwägungen die Annahme gestatten, daß sich am Nordpole noch ein Plateau befindet, dessen Höhe die von 3000 Metern übersteigt.

Was die Punkte des Erdballs angeht, an denen die Niveauveränderung bis 8415 Meter betragen wird, also diejenigen Gebiete, welche die schwerstwiegende Umgestaltung zu erleiden haben werden, so darf man sich gar nicht vermessen, diese bestimmen zu wollen. Das würde auch den erfahrensten Rechnern nicht gelingen. In dieser Gleichung gibt es eben eine unbekannte Größe, welche keine Formel aus derselben zu beseitigen gestattet. Es ist das die genaue Lage des Punktes x, wo der Schuß in den Weltraum hinausdonnern soll und von wo aus der Stoß erfolgen wird.... Dieses x ist aber das Geheimnis der Veranstalter jenes beklagenswerthen Unternehmens.

Fassen wir Alles zusammen, so sind die Bewohner der Erde, unter welcher Breite sie auch leben mögen, gleichmäßig und direct interessirt, dieses Geheimniß zu enthüllen, da sie ebenso direct durch das Unternehmen von Barbicane & Cie. bedroht erscheinen.

Deshalb werden alle Bewohner Europas, Afrikas, Asiens, Amerikas, Australiens und Oceaniens darauf hingewiesen, alle ballistischen Arbeiten – wie das Gießen von Kanonen, die Herstellung von Pulver oder von Geschossen – strengstens zu überwachen, wann und wo solche auf ihrem Gebiete vorgenommen würden, ebenso auf die Anwesenheit jedes Fremden, dessen Erscheinen ihnen verdächtig vorkommt, ein Auge zu haben und die Mitglieder der Sachverständigen-Commission in Baltimore, Maryland, U.-S.-A., davon zu benachrichtigen.

Gebe der Himmel, daß die nöthige Auskunft uns vor dem 22. September laufenden Jahres zu Theil wird, vor jenem Tage, der die im Erdensystem bis jetzt bestehende Ordnung zu erschüttern droht.«[124]

Fußnoten

1 Eine hinreichende Geschwindigkeit, um in der Luftlinie genau von Madrid nach Konstantinopel zu gelangen.


Quelle:
Jules Verne: Kein Durcheinander. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LVI, Wien, Pest, Leipzig 1893, S. 125.
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