|
Nach Veröffentlichung dieser dringlichen Mittheilung, welche die Gefahren der Lage klarlegte, galt es nun diese zu vereiteln oder ihnen wenigstens durch schleunige Flucht nach den neutralen Linien, wo die Veränderungen gleich Null sein sollten, zu entgehen.
Die bedrohten Kinder der Erde zerfielen in zwei Kategorien: in die, welche erstickt, und die, welche ertränkt zu werden Aussicht hatten.
Die Wirkung jener Mittheilung gestaltete sich bei den Leuten zwar sehr verschieden, jedenfalls zeigte sie sich aber in allseitigen heftigen Protesten.
Auf Seiten der zu Erstickenden standen die Amerikaner der Vereinigten Staaten, Europäer aus Frankreich, England, Spanien u. A. m. Die Aussicht, sich von dem bisherigen Meeresgrunde neue Gebietstheile angliedern zu können, war noch lange nicht verlockend genug, um die begleitenden Veränderungen ruhig hinzunehmen. Paris z.B., welches durch dieselben etwa in die nämliche Entfernung von dem neuen Pole zu liegen kam, die es von dem jetzigen trennt, erlangte dadurch keinerlei Vortheile. Wohl sollte es sich später eines ewigen[156] Frühlings erfreuen, büßte aber gleichzeitig an verfügbarer Luftschicht ziemlich bedeutend ein. Das paßte natürlich den Parisern nicht, welche gewöhnt sind, Sauerstoff – aus Mangel an Ozon – ohne Beschränkung zu verzehren... und dann?...
Auf Seiten der zu Ueberschwemmenden befanden sich die Bewohner von Südamerika, die Australier, Canadier, Hindus, die Neu-Seeländer u. A. Großbritannien konnte doch unmöglich zugeben, daß Barbicane es seiner reichsten überseeischen Besitzungen beraubte, wo das sächsische Element schon mehr und mehr an die Stelle des eingeborenen trat. Offenbar mußte sich der Golf von Mexiko entleeren, um etwa ein großes Reich zu bilden, dessen Besitz die Mexikaner und die Yankees auf Grund der Monroë-Doctrin beanspruchen konnten. Offenbar würde auch das Becken der Sunda-Inseln, der Philippinen und der Celebesgruppe durch seine Trockenlegung ungeheure Territorien frei werden lassen, welche den Engländern und den Spaniern zufallen mußten.
Nutzlose Compensation! – Alles das konnte den durch die schreckliche Ueberfluthung herbeigeführten Verlust nicht aufwiegen.
Ja, wenn durch die Senkungsvorgänge nur etwa die Samojeden oder die sibirischen Lappen, die Feuerländer und Patagonier, oder selbst die Tataren, die Chinesen und so ein paar Argentiner unter den neuen Meeren verschwinden sollten, hätten die civilisirten Staaten zu solchem Opfer Ja und Amen gesagt; es waren aber zu viele Mächte in Mitleidenschaft gezogen, als daß es nicht Proteste gegen diesen Umschwung der Dinge hätte regnen sollen.
Was im Besonderen Europa betrifft, so sollte dieses, trotz der ausbleibenden Veränderung der Verhältnisse in seinen mittleren Theilen, im Westen stark gehoben, im Osten um ebensoviel gesenkt, d. h. zur Hälfte auf der einen Seite erstickt und zur Hälfte auf der anderen ertränkt werden. Das war doch wahrlich nicht annehmbar! Außerdem sollte sich das mittelländische Meer fast vollständig entleeren, was weder die Franzosen noch die Italiener, weder die Spanier noch die Griechen, und weder die Türken noch die Egypter, deren Lage an den Küsten ihnen unbestreitbare Rechte auf dieses Meer verlieh, gutwillig zugeben konnten. Wozu hätte denn der durch seine Lage in der neutralen Linie verschont bleibende Suezcanal fernerhin dienen sollen? Wie hätte man die herrlichen Arbeiten eines Lesseps ausnutzen können, wenn es auf der einen Seite kein Mittelmeer und auf der anderen kein Rothes Meer – oder doch nur sehr wenig davon – gab, außer wenn man sich entschloß, jene vielleicht um tausend Kilometer weiter fortzusetzen?...[157]
Endlich würde England ganz sicherlich niemals zustimmen, Gibraltar, Malta und Cypern sich in wolkenverlorene Bergspitzen verwandeln zu sehen, die dann keine Kriegsschiffe mehr anlaufen könnten. Nein, es würde sich unbedingt nicht für befriedigt erklären durch den Zuwachs an Landgebiet, der ihm aus den früheren Atlantischen Becken anheimfallen konnte. Dennoch war der Major Donellan bereits im Begriffe, nach Europa zurückzudampfen, um die Rechte seines Landes auf die neuen Gebiete noch brühwarm geltend zu machen, im Falle das Unternehmen von Barbicane & Cie. wirklich gelänge.
Schon hieraus ergibt sich, daß Proteste von allen Ecken der Welt einlaufen mußten, selbst von denjenigen Staaten, welche auf den Linien lagen, wo die Niveauveränderung gleich Null sein sollte, denn auch diese wurden an anderen Punkten mehr oder weniger in Mitleidenschaft gezogen. Diese Proteste gestalteten sich vielleicht noch stürmischer seit dem Eingange jener Kabelnachricht von Zanzibar, welche, unter Bekanntgabe des Ortes für den Riesenschuß, die eben wiedergegebene, wenig beruhigende »Dringlichste Mittheilung« veranlaßt hatte.
Kurz, der Präsident Barbicane, der Kapitän Nicholl und J. T. Maston wurden von der gesammten Menschheit in den Bann gethan.
Und doch, welche Ernte für die Journale ganz beliebiger Richtung! Welche Nachfrage um Einzelexemplare! Wie viele Wiederdrucke und Ergänzungsabzüge! Es war vielleicht zum allerersten Male, daß man Zeitungen, welche sonst in jeder anderen Frage auseinandergehende Ansichten vertraten, bezüglich desselben Protestes in herzinniger Uebereinstimmung sah, wie z.B. die »Novosti«, die »Novoje-Wremja«, den »Kronstädter Boten«, die »Moskauer Zeitung«, den »Ruskoje-Dielo«, den »Grashdanin«, das »Journal von Karlskrona«, das »Handelsblad«, »Vaderland«, »Fremdenblatt«, die »Neue Badische Landeszeitung«, die »Magdeburger Zeitung«, »Neue freie Presse«, das »Berliner Tageblatt«, das »Extrablatt«, die »Post«, das »Volksblatt«, den »Börsencourier«, die »Sibirische Zeitung«, die »Kreuzzeitung«, die »Vossische Zeitung«, den »Reichsanzeiger », die »Germania«, die »Epoca«, den »Correo«, »Imparcial«, die »Correspondencia«, »Iberia«, die »Temps«, den »Figaro«, »Intransigeant« und »Gaulois«, das »Univers« die »Justice«, »Republique Française«, »Autorité«, »Presse«, den »Matin«, das »XIX »Siècle«, die »Liberté«, »Illustration«, »Monde Illustré«, die »Revue des deux Mondes«, den »Cosmos«, die »Revue Bleue«, »Nature«, »Tribuna«, den Osservatore romano«, »Esercito romano«, die »Fanfulla«, den »Capitan Fracassa«, die »Riforma«,[158] den »Pester Lloyd«, die »Ephymeris«, »Akropolis«, »Palingenesia«, den »Courrier de Cuba«, »Pionnier d'Allahabad«, »Srpska Nezavisnost«, die »Indépendance roumaine«, den »Nord«, die »Indépendance belge«, den »Sydney-Morning-Herald«, die »Edinburgh-Review«, den »Manchester-Guardian«, »Scotsman«, »Standard«, die »Times«, den »Truth«, »Sun«, die »Central-News«, die »Pressa Argentina«, den »Romanul de Bucharest«, »Courrier of San Francisco«, die »Commercial-Gazette«, den »San Diego of California«, »Manitoba«, das »Echo du Pacifique«, den »Scientific Americain«, den »Courrier der Vereinigten Staaten«, »New-York Herald«, die »World« von New-York, das »Daily-Chronicle«, den »Buenos Ayres Herald«, die »Reveil du Maroc«, den »Hu-Pao«, »Tsching-Pao«, »Courrier von Hat-phong«, den »Moniteur« der Republick Cunani u. a. m. – selbst das englische Journal »Mac Lane Expreß«, das sich nur mit Fragen der politischen Oekonomie befaßt und schon die schlimmste Hungersnoth über die verwüsteten Länder hereinbrechen sah. Nicht das europäische Gleichgewicht drohte zerstört zu werden – obwohl das im buchstäblichen Sinne auch der Fall war – sondern das Gleichgewicht der ganzen Welt! Bedenke man nur die Wirkung auf die hocherregte Menschheit, welche ein Uebermaß von Nervosität, diesem Hauptmerkzeichen des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts, zu jedem Wahnwitz und zu jeder epileptischen Zuckung prädisponirte! Das war eine Bombe ins Pulverfaß!
Was J. T. Maston angeht, so konnte man glauben, dessen letztes Stündlein habe schon geschlagen.
Wirklich drang am Abend des 17. September eine wuthschnaubende Volksmenge in seinen Kerker mit der Absicht, den Armen zu lynchen, und man muß eingestehen, daß die Polizeimacht jene kaum zu hindern versuchte....
J. T. Maston's Zelle war leer. Mittelst eines dem Werthe dieses würdigen Artilleristen entsprechenden Gewichtes an Gold war es Mrs. Evangelina Scorbitt gelungen, seine Flucht zu ermöglichen. Der Schließer hatte sich dafür umso leichter gewinnen lassen, als es ihm ein kleines Vermögen eintrug, dessen er sich bis in die spätesten Tage zu erfreuen hoffte. Baltimore, Washington, New-York und andere wichtige Städte an der Küste Amerikas sollten zwar eine merkbare Erhöhung ihrer Lage erfahren, aber doch noch für den täglichen Verbrauch ihrer Einwohner hinreichende Luft behalten.
J. T. Maston hatte also ein sicheres Versteck finden und sich damit den Wuthausbrüchen der Menge entziehen können. So wurde die Existenz des großen Weltenstörers durch die Ergebenheit eines liebenden Weibes gerettet. Uebrigens hatte man noch vier Tage zu warten – vier lange Tage – ehe die Pläne von Barbicane & Cie. sich verwirklichen sollten.
[159]
Aus Obigem ergibt sich, daß die »Dringlichste Mittheilung« die größtmögliche Verbreitung gefunden hatte. Hatte es anfänglich auch einzelne Zweifler an den vorausgesagten Katastrophen gegeben, so waren diese jetzt anderen Sinnes geworden. Die Regierungen hatten sich beeilt, diejenigen ihrer Unterthanen – übrigens betraf das nur verhältnißmäßig wenige – welche in stark verdünnte Luftschichten emporgehoben werden sollten, ausführlich zu benachrichtigen;
nach und nach auch die weit zahlreicheren, deren Gebiet eine Ueberfluthung durch die Meere drohte.
In Folge dieser durch Telegramme nach allen fünf Erdtheilen vermittelten Aufklärung entstand eine Auswanderung ohne Gleichen, welche selbst die in der[160] arischen Periode stattgehabte Völkerwanderung von Osten nach Westen beiweitem übertraf. Es war ein »Exodus«, der theilweise die hottentottischen, melanesischen, die Negerstämme, aber auch die rothen, gelben, braunen und weißen Völkerschaften einschloß.[161]
Leider war ihnen die Frist dazu recht knapp bemessen, die Stunden sozusagen zugezählt. Bei einem mehrmonatigen Aufschub des Termins hätten die Chinesen wohl China, die Australier Australien, die Patagonier Patagonien, die Sibirer die sibirischen Provinzen u.s.w. u.s.w. verlassen können.
Da die Gefahr thatsächlich aber eine örtlich beschränkte war, seit man jetzt die verschont bleibenden Punkte der Erdkugel kannte, verminderte sich auch der früher ganz allgemeine Schrecken. Einzelne Provinzen, sogar ganze Staaten, singen an, sich zu beruhigen. Kurz, außer den direct bedrohten Gegen den blieb nur jene so natürliche Spannung zurück, welche jedes menschliche Wesen in Erwartung eines an sich furchtbaren Ereignisses empfindet.
Währenddem wiederholte sich Alcide Pierdeux, mit den Armen wie ein Telegraph vergangener Zeiten umherfuchtelnd:
»Doch wie zum Teufel wird es dem Präsidenten Barbicane gelingen, ein Kanonenrohr herzustellen, welches das siebenundzwanzig Centimetergeschütz um das Millionenfache übertrifft? Verwünschter Maston! Wie gerne träf ich den Kerl, um ihm deswegen auf den Kragen zu steigen! Nein, das paart sich nicht mit Sinn und Verstand, das ist gar zu katapultenmäßig!«
Wie dem auch sein mochte – ein etwaiger Mißerfolg der Operation blieb der einzige Hoffnungsanker, an den sich angesichts des allgemeinen Durcheinander gewisse Theile des Erdballs klammerten.
Buchempfehlung
Erst 1987 belegte eine in Amsterdam gefundene Handschrift Klingemann als Autor dieses vielbeachteten und hochgeschätzten Textes. In sechzehn Nachtwachen erlebt »Kreuzgang«, der als Findelkind in einem solchen gefunden und seither so genannt wird, die »absolute Verworrenheit« der Menschen und erkennt: »Eins ist nur möglich: entweder stehen die Menschen verkehrt, oder ich. Wenn die Stimmenmehrheit hier entscheiden soll, so bin ich rein verloren.«
94 Seiten, 5.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.
468 Seiten, 19.80 Euro