Erstes Capitel.
Auf dem Schiffe.

[183] Von dem Tage an, wo Lesseps den Isthmus von Suez durchbrach, konnte Afrika mit Recht eine Insel genannt werden; ebenso wird man nach Durchstechung[183] des Panamacanals von einer südamerikanischen und einer nordamerikanischen Insel sprechen, denn diese zwei ungeheuren Länder werden dann von allen Seiten von Wasser umgeben sein. Aber da sie wegen ihrer Ausdehnung immer Continente genannt werden, so ist es ganz logisch, diesen Namen auch Australien oder Neuholland beizulegen. Dieser Continent mißt in seiner größten Länge von Osten nach Westen dreitausendneunhundert Kilometer und in seiner größten Breite von Norden nach Süden dreitausendzweihundert Kilometer. Das ergiebt einen Flächeninhalt von vier Millionen achthundertdreißigtausend Quadratkilometern, also sieben Neuntel von Europa. Australien wird nach den neuesten Karten in sieben Provinzen getheilt: Im Osten, dem bevölkertsten Theile, Queensland mit der Hauptstadt Brisbane, Neu-Südwales mit der Hauptstadt Sydney, Victoria mit der Hauptstadt Melbourne.

In der Mitte Nordaustralien und Alexandraland ohne Hauptstadt, Südaustralien mit der Hauptstadt Adelaïde.

Im Westen Westaustralien mit der Hauptstadt Perth. Wir müssen noch hinzufügen, daß die Australier einen Bundesstaat zu gründen suchen, »die Republik«, welche die englische Regierung zu verhindern sacht; aber es dürfte einst der Tag kommen, wo die Trennung doch eintreten wird.

Wir werden bald sehen, in welch' gefährliche und wenig bekannte Provinzen Mrs. Branican die Expedition unternahm, um Capitän John wiederzufinden und ihn dem Stamme zu entreißen, der ihn seit neun Jahren gefangen hielt. Konnten die Indas ihn nicht nach der Entweichung Harry Felton's erschlagen haben? Mrs. Branican hatte die Absicht, von Sydney sobald wie möglich aufzubrechen und sie konnte dabei auf die Ergebenheit, die Einsicht und die reichen Erfahrungen Zach Fren's rechnen. Auf einer Karte von Australien wurde nun mit großer Genauigkeit der Weg festgesetzt, den die neue Unternehmung einschlagen sollte, und es wurden folgende Punkte bestimmt:

1. Eine Karawane wird auf Kosten der Mrs. Branican mit den besten Erforschungs- und Vertheidigungsmitteln und überhaupt nach allen Richtungen hin derart ausgerüstet, um einer Reise durch Mittelaustralien gewachsen zu sein.

2. Diese Karawane bricht in kurzer Zeit auf und begiebt sich auf den schnellsten Wegen zu Wasser oder zu Land bis zu dem Punkte, der den Verkehr zwischen Mittelaustralien und der Küste vermittelt.

Zuerst wurde beschlossen, die nordwestliche Küste zu besuchen, d. h. die Stelle des Dampierlandes, wo die Schiffbrüchigen des »Franklin« gelandet waren.[184]

Doch dieser Umweg hätte einen zu großen Zeitverlust herbeigeführt. Im Ganzen genommen würde man damit kaum sicherer jenen Nomadenstamm finden, der Alexandraland ebenso durchzog wie Westaustralien.

Man zog nun die Richtung in Erwägung, welche Harry Felton bei seiner Wanderung durch Centralaustralien einschlug. Wenn man auch diesen Weg nicht genau kannte so wurde er wenigstens durch die Stelle angedeutet, wo der Unglückliche gefunden wurde, nämlich das Ufer des Parrn an der Grenze von Queensland und Neu-Südwales, im Nordwesten dieser Provinz.


... blieb Dolly auf dem Verdeck des Hinterschiffes. (S. 187.)
... blieb Dolly auf dem Verdeck des Hinterschiffes. (S. 187.)

[185] Seit dem Jahre 1770, wo der Capitän Cook Neu-Südwales entdeckte und im Namen des Königs von England in Besitz nahm, entwickelte sich der östliche Theil desselben ungemein. Jetzt fehlte nichts, was zur Größe und zum Reichthume eines Landes gehört: Straßen, Canäle, Eisenbahnen, Postverbindungen zu Wasser und zu Lande zwischen den einzelnen Städten und Provinzen.

Da nun Mrs. Branican in Sydney, dieser reichen Stadt, Alles fand, was zur Ausrüstung einer Karawane nothwendig war, so ließ sie sich durch die Vermittlung des Mr. William Andrew einen Credit bei der australischen Bank eröffnen. So konnte sie denn jetzt leicht Leute anwerben, Karren, Wagen, Reit-, Zug- und Saumthiere, kurz Alles kaufen, was für eine Expedition in Australien zu einer Reise von ungefähr zweitausend Meilen nothwendig war. Aber sollte Sydney als Ausgangspunkt der Expedition genommen werden?

Nach der Meinung des amerikanischen Consuls, der mit der Geographie von Australien sehr vertraut war, paßte Adelaïde, die Hauptstadt von Südaustralien, als Basis der Operation besser.

Da die telegraphischen Verbindungen von dieser Stadt bis in den Golf von Van-Diemen reichten, also vom Norden bis zum Süden, und auch ein Schienenstrang in dieser Richtung verlief, würden die Reisenden die entlegensten Gegenden viel rascher erreichen können. Welchen Weg sollte nun Mrs. Branican von Sydney nach Adelaïde einschlagen? Wenn eine ununterbrochene Bahn vorhanden gewesen wäre, so hätte kein Zweifel obgewaltet. Aber die Eisenbahn, welche den Murray an der Grenze der Provinz Victoria übersetzt, geht über Benalla nach Melbourne und zweigt von hier nach Adelaïde ab, aber sie geht nicht über die Station Horscham hinaus und von dort aus giebt es nur sehr schlechte Communicationsmittel.

So beschloß denn Mrs. Branican, nach Adelaïde auf dem Meere zu fahren. Das beanspruchte nur vier Tage, und wenn man die achtundvierzig Stunden dazurechnet, welche die Postschiffe in Melbourne verbringen, so war sie in sechs Tagen in der Hauptstadt von Südaustralien. Das Postschiff »Brisbane« sollte am Morgen des 27. August in Adelaïde anlangen.

Sie ließ zwei Cabinen reserviren und that die nöthigen Schritte, damit der Credit, welcher ihr von der Bank in Sydney eröffnet wurde, auf die von Adelaïde übertragen werde.

Mrs. Branican dachte in dem Hôtel, wo sie eine Wohnung genommen hatte, nur an John, von dem sie wußte, daß er lebte, und den sie retten sollte. Zach Fren, welcher einsah, daß es besser sei, die Frau jetzt allein zu lassen,[186] wollte einen Gang durch die Straßen von Sydney machen, um sich die Stadt anzusehen. Zuerst aber – und das konnte bei einem Seemann nicht in Verwunderung setzen – wollte er den »Brisbane« besuchen, um sich zu versichern, daß Mrs. Branican gut aufgehoben sei. Das Schiff war ganz danach gebaut, um den Anforderungen als Küstendampfer zu genügen. Als er die bestellte Cabine zu sehen wünschte, führte ihn ein junger Matrose hinein, dem er noch einige Anordnungen gab, um sie noch bequemer zu machen. In dem Augenblicke, als er das Schiff verlassen wollte, trat der Knabe auf ihn zu und fragte ihn mit bewegter Stimme:

»Ist es ganz sicher, daß Mrs. Branican sich morgen nach Adelaïde einschiffen wird?

– Ja, morgen, erwiderte Zach Fren.

– Auf dem »Brisbane«?

– Ja!

– Möchte sie doch den Capitän John finden!

– Wir werden unser Bestes thun.

– Davon bin ich überzeugt.

– Du bist auf dem »Brisbane«?

– Ja!

– Also auf Wiedersehen, mein Junge!«

Die letzten Stunden, welche Zach Fren in Sydney zubrachte, verwendete er zur Besichtigung der Sehenswürdigkeiten, denn diese älteste Hauptstadt Australiens verdient wegen ihres Reichthums an Schönheiten und ihrer prächtigen Lage den Ruf, welchen sie genießt.

Am Abend des folgenden Tages begaben sich Mrs. Branican und Zach Fren an Bord des Schiffes. In der ersten Stunde blieb Dolly auf dem Verdeck des Hintertheiles und sah träumerisch nach der Küste hinüber. In diesen Continent mußte sie also eindringen, dem John nicht hatte entrinnen können.

Seit vierzehn Jahren waren sie getrennt!

»Vierzehn Jahre,« murmelte sie.

Dann stieg sie in ihre Cajüte hinab und legte sich nieder. Am folgenden Tage war sie schon frühzeitig auf Deck, und auch Zach Fren befand sich schon oben. In diesem Augenblicke näherte sich ein Schiffsjunge schüchtern der Mrs. Branican und fragte sie im Namen des Capitäns, ob sie nicht etwas bedürfe.

»Nein, liebes Kind, erwiderte Dolly.[187]

– Ei, das ist ja der Bursche, der mir gestern die Cajüte gezeigt hat, sagte Zach Fren.

– Ja, Herr, ich bin es.

– Wie heißt Du?

– Ich heiße Godfrey.

– Nun, Godfrey, jetzt weißt Du es wohl bestimmt, daß Mrs. Branican auf Deinem Schiffe ist... und ich glaube, es wird Dich auch freuen.

– Ja, Herr, wie uns Alle an Bord. Ja, wir beten Alle, daß das Unternehmen der Mrs. Branican gelinge, daß sie den Capitän John auffinden möge.«

Indem Godfrey so sprach, sah er sie mit so viel Achtung und Begeisterung an, daß Dolly ganz gerührt war. Die Stimme dieses Schiffsjungen kam ihr bekannt vor.

»Mein Kind, hast Du mich nicht vor der Thür des Spitals in Sydney angesprochen?

– Das war ich.

– Du hast mich gefragt, ob der Capitän John noch lebe?

– Ja.

– Du gehörst also zu diesem Schiffe?

– Ja... seit einem Jahre. Aber so Gott will, werde ich es bald verlassen.«

Ohne Zweifel wollte er oder wagte er nichts mehr zu sagen und zog sich zurück, um dem Capitän zu melden, daß Mrs. Branican keinen Wunsch habe.

»Dieser Junge scheint Seemannsblut in seinen Adern zu haben, bemerkte Zach Fren. Das zeigt schon sein ganzes Aussehen... Dieser freie, klare, entschlossene Blick... Seine Stimme ist zu gleicher Zeit sanft und entschlossen.

– Seine Stimme!« murmelte Dolly.

Es schien ihr, als wenn sie John sprechen hörte, nur war das Organ ein wenig weicher. Aber noch mehr: Diese Züge erinnerten sie an John... an John, als er noch nicht dreißig Jahre alt war, und der »Franklin« ihn für so lange Zeit von ihr entführte.

»Sie sehen, Mrs. Branican, sagte Zach Fren, indem er sich seine großen Hände rieb, Engländer und Amerikaner, die ganze Welt bringt Ihnen Sympathie entge gen... Sie werden in Australien dieselbe Verehrung finden, wie in Amerika... Jeder hat denselben Wunsch, wie dieser junge Engländer.

– Ist es ein Engländer?« fragte sich Mrs. Branican tief gerührt.[188]

Da das Meer sehr ruhig war, hatten sie an diesem Tage eine herrliche Fahrt, so daß Dolly das Verdeck fast gar nicht verließ. Die übrigen Passagiere brachten ihr ein außerordentliches Interesse entgegen und wetteiferten, ihr Gesellschaft zu leisten. Sie wünschten diese Frau zu sehen, deren Unglück so viel Theilnahme erweckte, und die nicht aufhörte, so vielen Gefahren zu trotzen, so vielen Strapazen die Stirn zu bieten, nur um ihren Gatten zu retten, wenn die Vorsehung ihn am Leben gelassen hatte. Uebrigens hätte dies Niemand bezweifelt. Wie hätte man auch nicht ihre Zuversicht theilen sollen, wenn sie von ihren Plänen sprach, wenn ihr Auge aufleuchtete und sie mit voller Zuversicht hoffte, ihren Gatten zu retten.

Je länger die Ueberfahrt dauerte, desto weniger konnte sie ihre Blicke von Godfrey abwenden. Sein Gesicht, sein Gang, seine Haltung, Alles zog sie zu ihm. Dolly konnte Zach Fren nicht verbergen, daß sie zwischen John und Godfrey eine auffallende Aehnlichkeit finde. Auch Zach Fren sah mit großer Unruhe, welch tiefen Eindruck diese zufällige Aehnlichkeit auf sie machte, und er fürchtete nicht ohne Grund, daß sie sich dabei zu sehr an ihr verlorenes Kind erinnerte.

Doch Godfrey war nicht mehr in ihre Nähe gekommen, weil sein Dienst ihn stets auf dem Vordertheile des Schiffes beschäftigte und das Hinterdeck ausschließlich den Reisenden der ersten Classe zur Verfügung stand. Aber aus der Ferne hatten sich ihre Blicke schon oft begegnet und Dolly wollte ihn rufen... Ja! Godfrey wäre auf das geringste Zeichen sofort herbeigeeilt... Dolly gab dieses Zeichen nicht und Godfrey kam nicht. Als Zach Fren an jenem Abend Mrs. Branican in die Cajüte hinabführte, sagte sie zu ihm:

»Zach, ich muß wissen, wer dieser junge Matrose ist... aus welcher Familie er stammt... seinen Geburtsort... Vielleicht ist er kein Engländer...

– Das ist möglich, Mistreß, antwortete Zach Fren. Er kann auch ein Amerikaner sein. Wenn Sie es wünschen, werde ich bei dem Capitän Erkundigungen einziehen...

– Nein, nein, Zach, ich werde Godfrey selbst fragen.«

Dann hörte er, wie sie leise sagte:

»Mein Kind, mein armer kleiner Wat, wäre jetzt gerade so alt!

– Das fürchtete ich eben,« sagte Zach Fren zu sich, indem er seine Cajüte aufsuchte.

Am folgenden Tage, den 22. August, fuhr man an der Küste von Gippland entlang, eine der hauptsächlichsten Provinzen der Colonie Victoria. Dann[189] schlug das Schiff eine südwestliche Richtung ein und fuhr um das Cap Wilson herum, dem äußersten Vorsprung des Continentes gegen Süden. Hier war die Küste weniger reich an Baien, Häfen und Caps.

Mrs. Branican verließ frühzeitig ihre Cabine und nahm ihren gewohnten Platz auf dem Hinterdeck ein; Zach Fren setzte sich neben sie und bemerkte, daß sie verändert war. Sie starrte in die Ferne, war nachdenklich und antwortete kaum auf die Fragen Zach Fren's. Die Hauptsache war, daß Dolly die eigenthümliche Aehnlichkeit Godfreys mit John vergessen habe, daß sie nicht mehr daran denke, ihn wieder zu sehen, ihn zu fragen. Es war möglich, daß sie darauf verzichtet hatte, daß ihre Gedanken eine andere Richtung eingeschlagen hatten, denn sie ersuchte Zach Fren nicht, ihr den jungen Mann herbeizurufen, der auf dem Verdeck zu thun hatte.

Nach dem Frühstück ging sie in ihre Cajüte hinab und kam erst in der vierten Stunde des Nachmittags wieder auf das Verdeck. Jetzt fuhr das Schiff eben mit vollem Dampfe gegen die Meerenge von Basse, welche Australien von Tasmanien oder Van-Diemensland trennt, und passirte dieselbe während der Nacht.

Quelle:
Jules Verne: Mistreß Branican. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LIX–LX, Wien, Pest, Leipzig 1893, S. 183-190.
Lizenz:

Buchempfehlung

Musset, Alfred de

Gamiani oder zwei tolle Nächte / Rolla

Gamiani oder zwei tolle Nächte / Rolla

»Fanni war noch jung und unschuldigen Herzens. Ich glaubte daher, sie würde an Gamiani nur mit Entsetzen und Abscheu zurückdenken. Ich überhäufte sie mit Liebe und Zärtlichkeit und erwies ihr verschwenderisch die süßesten und berauschendsten Liebkosungen. Zuweilen tötete ich sie fast in wollüstigen Entzückungen, in der Hoffnung, sie würde fortan von keiner anderen Leidenschaft mehr wissen wollen, als von jener natürlichen, die die beiden Geschlechter in den Wonnen der Sinne und der Seele vereint. Aber ach! ich täuschte mich. Fannis Phantasie war geweckt worden – und zur Höhe dieser Phantasie vermochten alle unsere Liebesfreuden sich nicht zu erheben. Nichts kam in Fannis Augen den Verzückungen ihrer Freundin gleich. Unsere glorreichsten Liebestaten schienen ihr kalte Liebkosungen im Vergleich mit den wilden Rasereien, die sie in jener verhängnisvollen Nacht kennen gelernt hatte.«

72 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon