[238] Es war kein Zweifel, Godfrey war das zweite Kind des Ehepaares Branican. Diese Liebe, welche Dolly gleich vom ersten Anblicke zu dem Knaben hatte, quoll nur aus dem mütterlichen Instinct. Aber es blieb ihr ganz unbekannt, daß dieser Knabe ihr Sohn war, und wie hätte sie es jemals erfahren können, da Jane, durch die Drohungen Len Burker's eingeschüchtert, gezwungen wurde, zu schweigen, um Godfrey in keine Gefahr zu bringen. Alles einzugestehen war so viel, als den Knaben der Gnade Len Burker's zu überliefern, dessen sich der Elende, der ihn schon einmal dem Tode ausgesetzt hatte, auf diesem gefährlichen Zuge zu entledigen gewußt hätte... Mutter und Sohn durften nie wissen, welche Bande sie verknüpften.
Als Len Burker Godfrey zum erstenmale sah, da zweifelte er wegen der frappirenden Aehnlichkeit mit John nicht im geringsten, daß er das ausgesetzte Kind sei. Jetzt, wo er den Untergang John Branican's als sicher ansah, erscheint auf einmal dieses Kind! Nun, Tod und Teufel diesem Knaben, wenn Jane das Geheimniß ausplaudern würde! Aber Len Burker konnte beruhigt sein; Jane würde schweigen.
Am 11. October brach die Karawane nach vierundzwanzigstündiger Rast wieder auf. Jane nahm in dem Buggy neben Mrs. Branican Platz; Len Burker, der ein ziemlich gutes Pferd hatte, ritt hin und her und sprach besonders gern[238] mit Tom Marix von den Ländern, welche sie längs der telegraphischen Linie zu durchziehen hatten. Er mied Zach Fren, der aus seiner Antipathie gegen ihn kein Hehl machte; ebenso ging er Godfrey aus dem Wege, dessen Blick er nicht ertragen konnte. So oft der Knabe zu dem Buggy der Mrs. Branican ritt, um mit Dolly und Jane zu sprechen, zog sich Len Burker zurück, um nicht bei ihm sein zu müssen.
Je tiefer die Expedition in das Innere vordrang, desto öder wurde das Land. Hier und da standen einige Farmen, wo sich die Arbeit auf die Schafzucht beschränkte, endlose Prairien breiteten sich aus, und die Gummibäume und Eukalypten bildeten nur noch einzelne Gruppen, die in nichts den Wäldern von Südaustralien glichen.
Am 12. October, Abends sechs Uhr, lagerte die Karawane an den Ufern des Finke-River, in der Nähe des Danielberges, der im Westen emporsteigt. Die Geographen sehen diesen Fluß, den die Eingebornen Larra-Larra nennen, für den größten von Centralaustralien an.
Tom Marix machte Mrs. Branican im Laufe des Abends darauf aufmerksam, während Zach Fren, Len und Jane Burker ihr unter einem der Zelte Gesellschaft leisteten.
»Man wollte wissen, sagte Tom Marix, ob der Finke-River seine Wasser in den ungeheuren Eyresee ergieße, den wir jenseits von Farina-Town umgangen haben. Nun, diese Frage ist von dem berühmten Forscher David Lindsay im Jahre 1885 gelöst worden, der von der Station The-Peak, die wir auch berührt haben, dem Flusse bis zu der Stelle folgte, wo er im Sande verschwindet, nämlich nordöstlich von Dalhousie. Aber man glaubt, daß er in der Regenzeit seine Fluthen bis in den Eyresee wälzt.
– Wie lang mag der Finke-River sein? fragte Mrs. Branican.
– Man giebt ihm eine Länge von ungefähr neunhundert Meilen, erwiderte Tom Marix.
– Müssen wir ihm lange folgen?
– Nur einige Tage, denn er macht sehr viele Biegungen und wendet sich schließlich gegen Westen.
– Diesen David Lindsay, von dem Sie sprachen, habe ich gekannt, sagte da Len Burker.
– Sie haben ihm gekannt? fragte Zach Fren in einem Tone, der deutlich den Zweifel zum Ausdruck brachte.[239]
– Ist denn da etwas gar so Erstaunliches dabei? versetzte Len Burker. Ich bin ihm bei Dalhousie begegnet, von wo er an die Westgrenze von Queensland zog, das ich damals für ein Haus in Brisbane bereiste.
– Ja, den Weg schlug Lindsay damals ein, hub Tom Marix wieder an. Dann zog er nach Alice-Spring zurück und von da gegen den Golf vom Carpentaria, wo er seine zweite Reise von Süden nach Norden durch den Continent vollendete.
– Ich füge hinzu, sagte Len Burker, daß David Lindsay von einem deutschen Botaniker, namens Dietrich, begleitet war. Ihre Karawane bediente
sich nur der Kameele als Lastthiere. Ich glaube, daß Sie, Dolly, auch die Absicht haben, die Ihrige jenseits von Alice-Spring so zusammenzustellen, und ich bin sicher, daß Sie Erfolg haben werden wie David Lindsay...
– Ja, wir werden Erfolg haben, sagte Mrs. Branican.
– Niemand zweifelt daran«, fügte Zach Fren hinzu.
Es schien nicht unwahrscheinlich, daß Len Burker David Lindsay begegnet habe, was auch Jane Burker bestätigte, doch wenn Dolly ihn gefragt hätte, für welches Haus in Brisbane er damals reiste, so wäre er durch diese Frage vielleicht in Verlegenheit gekommen.
In den Stunden, die Mrs. Branican und ihre Gefährten am Ufer des Finke-River zubrachten, erhielt man indirecte Nachrichten über den Engländer Jos Meritt und Gîn-Ghi, seinen chinesischen Bedienten. Beide waren der Karawane ungefähr um zwölf Meilen voraus. Man erfuhr nämlich von den Eingebornen, daß sich dieser famose Hutsammler vor fünf Tagen mit seinem Bedienten in dem Dorfe Kilna, ungefähr eine Meile von der Station entfernt, aufgehalten habe.
Kilna zählt einige hundert Schwarze – Männer, Frauen und Kinder – welche in unförmlichen Hütten aus Rinde wohnen. Diese Hütten heißen in australischer Sprache »Villums«, und wir können nicht umhin, auf die Aehnlichkeit dieses Wortes mit dem französischen »ville« und dem englischen »village« aufmerksam zu machen.
Diese Eingeborenen, von denen einige einen bemerkenswerthen Typus haben und die meist kräftig und von unermüdlichem Temperamente sind, verdienen näher ins Auge gefaßt zu werden. Meistentheils haben sie vorspringende Augenbrauen, dichtes, gekräuseltes Haar, eine kleine Stirn, große Nasenlöcher und großen Mund mit starkem Gebiß.
Woher stammen diese Eingebornen des fünften Welttheiles? Existirte wirklich einmal – wie es mehrere Gelehrte behaupten – ein Continent im Stillen Ocean, von dem nur noch die Bergesspitzen als Inseln über dem großen Wasser übriggeblieben sind? Sind diese Australier Nachkommen jener zahlreichen Rassen, die diesen Continent in uralten Zeiten bewohnten? Solche Theorien dürften wahrscheinlich nur Hypothesen bleiben. Doch wenn diese Erklärung zugelassen wird, müßte man daraus den Schluß ziehen, daß dieses autochthone Geschlecht sowohl in physischer, als auch in moralischer Beziehung entartet ist. Die Australier sind wild geblieben und stehen durch ihre Menschenfresserei – wenigstens[243] einige Stämme – auf der niedrigsten Culturstufe. In einem Lande, wo es keine Löwen, Tiger und Panther giebt, vertreten sie wegen ihres Cannibalismus diese wilden Thiere. Sie bebauen nicht den undankbaren Boden, entbehren der nothwendigsten Hausgeräthe und haben nur rohe Waffen, wie die Lanze, die Axt »Nolla-nolla«, eine Art Keule aus sehr hartem Holze, und den berühmten »Boomerang«, jenes Wurfgeschoß, das, von kräftiger Hand geschleudert, wieder zurückfliegt, kurz, die Australier sind Wilde im vollsten Sinne des Wortes.
Solchen Menschen hat die Natur auch die passende Frau gegeben, die »Lubra«, die wegen ihres kräftigen Körperbaues die Strapazen des Nomadenlebens ertragen und die härtesten Arbeiten verrichten kann. Diese unglücklichen Geschöpfe sind schon mit fünfundzwanzig Jahren alt und häßlich.
Nun – würde man es glauben? – diejenigen, welche mit den europäischen Colonien in Berührung stehen, beginnen den europäischen Moden zu folgen. Ja, sie wollen Kleider mit Schleppen! Sie wollen Hüte mit Federn darauf! Die Männer sind in der Wahl ihrer Kopfbedeckung nicht weniger eigen und geben Alles hin, um dieser Neigung zu huldigen.
Ohne allen Zweifel kannte Jos Meritt die interessante Forschungsreise Carl Lumholtz' in Australien. Wie sollte er sich auch den Marsch dieses kühnen Norwegers nicht gemerkt haben, der sich ein halbes Jahr bei den wilden Cannibalen des Nordwestens aufgehalten hat? Der Reisende berichtet:
»Ich begegnete unterwegs meinen zwei Eingebornen... Sie waren sehr schön: Der eine kam im Hemde daher, der andere hatte einen Frauenhut auf. Diese Kleidungsstücke, die von Australnegern sehr geschätzt sind, gehen von Stamm zu Stamm, von denen, die den europäischen Colonien am nächsten wohnen, bis zu denen, die mit den Weißen nie in Berührung kommen. Mehrere meiner Leute (Eingeborne) borgten sich einen Hut und setzten ihn stolz einer nach dem anderen auf. Einer derselben, der vor mir im Adamscostüm ging und unter der Last meines Gewehres schwitzte, sah von rückwärts in diesem Frauenhute komisch genug aus. Welche Stürme mochte dieser Hut auf dem langen Wege von den Europäern bis zu den Wilden durchgemacht haben!«
Das wußte Jos Meritt und vielleicht fand er auf dem Kopfe eines Häuptlings der westlichen oder nordwestlichen Stämme diesen unschätzbaren Hut, dessen Erwerbung ihn schon einmal bei den Menschenfressern des Continentes von Australien in Lebensgefahr gebracht hatte. Da er bei den Stämmen von Queensland keinen Erfolg hatte, so konnte er einen solchen vielleicht bei den Eingebornen[244] von Kilna erzielen; das war der Grund, weshalb er jetzt seine abenteuerlichen Wanderungen durch die Wüste von Centralaustralien fortsetzte.
Am 13. October gab Tom Marix bei Sonnenaufgang das Zeichen zum Aufbruch, und die Karawane nahm ihre gewöhnliche Ordnung ein. Dolly fühlte sich glücklich, Jane bei sich zu wissen, und Jane war es ein großer Trost, Mrs. Branican wieder gefunden zu haben. Sie saßen in dem Buggy allein und konnten so recht nach Herzenslust ihre Gefühle austauschen. Warum wagte Jane nicht, ihr Versprechen gegenüber Len Burker zu brechen? Wenn sie Zeuge war der mütterlichen und kindlichen Liebe, die jeden Augenblick durch eine Handbewegung oder durch einen Blick zwischen Dolly und Godfrey zum Ausdrucke kam, da schien es, als wolle ihr das Geheimniß entschlüpfen... Aber sie erinnerte sich an die Drohungen Len Burker's, und aus Furcht, den jungen Matrosen ins Verderben zu stürzen, trug sie bei dem Austausch dieser Liebesbezeugungen eine Gleichgiltigkeit zur Schau, die Dolly mit Kummer bemerkte.
Wir können uns leicht vorstellen, was sie litt, als Dolly eines Tages zu ihr sagte:
»Du wirst es begreiflich finden, Jane, daß ich bei dieser Aehnlichkeit und den eigenthümlichen Gefühlen, die mich zu diesem Kinde hinzogen, schließlich glaubte, daß mein Kind nicht ertrunken sei, und daß es weder Mr. Andrew, noch ein anderer meiner Freunde gewußt habe... Deshalb dachte ich, daß Godfrey unser Sohn sei... Aber nein!... Der arme kleine Wat schläft auf dem Friedhofe von San-Diego!
– Ja... Dort haben wir ihn begraben, liebe Dolly, erwiderte Jane. Dort ist sein Grab inmitten von Blumen!
– Jane!... Jane!... rief Dolly, da Gott mir mein Kind nicht zurückgegeben hat, so möge er mir seinen Vater... möge er mir John zurückgeben!«
Am 15. October um sechs Uhr Abends ließ die Karawane den Berg Humphries hinter sich und hielt am Ufer des Palmes-Creek, eines Nebenflusses des Finke-River. Da er wegen der heißen Jahreszeit fast ganz ausgetrocknet war, so konnte man leicht übersetzen, wie man dies bei dem Hughes-Creek nach drei Tagen ebenfalls that.
In dieser Richtung zogen sich die Drähte der Overland-Telegraf-Line wie die Fäden der Ariadne von Station zu Station dahin. Man stieß hie und da auf einige Häusergruppen, seltener auf Farmen, wo Tom Marix für schweres[245] Geld frisches Fleisch kaufte. Godfrey und Zach Fren gingen stets auf Recognoscirung aus, und die Farmer gaben ihnen bereitwilligst Auskunft über die Nomadenstämme, die diese Gegenden durchzogen. Hatten sie nichts von einem Weißen gehört, der von den Indas des Nordens oder Westens gefangen gehalten wurde? Stets ein trostloses Nein! Sie fanden nicht die geringste Spur, welche sie auf die Fährte des Capitän John gebracht hätte, und mußten sich daher beeilen, nach Alice-Spring zu kommen, von dem sie kaum noch achtzig Meilen entfernt waren.
Vom Hughes-Creek an wurde der Weg beschwerlicher, so daß man nur langsam vorwärts kam. Enge Schluchten mit kleinen Gewässern hielten sie oft auf; Tom Marix und Godfrey suchten immer die besten Durchgänge, welche die Reiter und auch die Buggys oft bequem passiren konnten. Etwas anderes war es mit den Lastwagen, die nur mit den größten Anstrengungen hindurchgebracht werden konnten. Da man auch einen Achsen- oder Räderbruch vermeiden mußte, um nicht mit der Reparatur aufgehalten oder gar zur Zurücklassung des Wagens gezwungen zu werden, so wurden solche Hindernisse womöglich umgangen.
Am 19. October kam die Karawane in jenes Gebiet, wo die telegraphische Linie nicht mehr gerade fortging, was übrigens die Beschaffenheit des Bodens schon allein bedingte.
An einigen Stellen dieser Gegenden gab es zahlreiche Känguruhs, welche die Weißen nur aus Vergnügen jagen, denn man müßte ein Neger sein, um ihr Fleisch genießbar zu finden. Tom Marix und Godfrey gelang es nur, zwei oder drei Paare dieser schnellen Thiere zu erreichen, die wie ein Pferd im Galopp dahinlaufen. Wir müssen nach hinzufügen, daß der Schweif dieser Känguruhs eine ausgezeichnete Suppe gibt, die Jedem beim Nachtmahle recht gut schmeckte.
Diese Nacht war unruhig, da das Lager durch einen Angriff jener Ratten in Unruhe versetzt wurde, wie man sie nur in Australien sieht. Niemand hätte schlafen können, ohne nicht von ihnen gebissen zu werden, und man schlief auch nicht.
Am folgenden Tage zog die Karawane weiter, indem sie diese lästigen Thiere verwünschte. Bei Sonnenuntergang erreichte sie Mac-Donnell-Ranges, von wo aus sie ein günstiges Terrain fand. Noch ungefähr vierzig Meilen, und der erste Theil des Weges war zurückgelegt.[246]
Am 23. October durchzogen sie unabsehbare Ebenen; die Wagen folgten ohne Schwierigkeit dem Wege, den die Telegraphenstangen vorzeichneten. Es war fast unglaublich, wie die Linie, die in diesen öden Gegenden so wenig bewacht war, von den Eingebornen so sehr unberührt gelassen wurde. Tom Marix erwiderte auf eine bezügliche Bemerkung hin Folgendes:
»Die Nomaden, welche von unserem Ingenieur elektrisch gezüchtigt wurden, glauben, daß der Donner an diesen Drähten entlang laufe, und sie hüten sich wohl, daran zu rühren. Sie bilden sich sogar ein, daß ihre beiden Enden bis auf die Sonne und den Mond zurückgehen und daß diese Kugeln auf sie fallen würden, wenn sie nur die Pfähle berührten.«
Um elf Uhr wurde der Gewohnheit gemäß ein dreistündiger Halt gemacht, weil man nicht in der größten Hitze weiterziehen wollte. Es war aber nur ein Halt und kein Lagern, denn Tom Marix ließ weder die Ochsen, noch die Pferde ausspannen. Man schlug keine Zelte auf und zündete auch kein Feuer an, da bei dieser Mahlzeit (die erste fand bei Sonnenaufgang statt) nur Conserven und kaltes Wildpret verzehrt wurden.
Jeder setzte oder streckte sich im Grase aus; nach einer halben Stunde schliefen gewöhnlich die Ochsentreiber und die Leute der Escorte ein und erwachten erst, wenn das Zeichen zum Aufbruche gegeben wurde.
Mrs. Branican, Jane und Godfrey bildeten eine Gruppe für sich; während sie ihr Frühstück einnahmen, sprachen sie von ihrer nahen Ankunft in Alice-Spring. Die Hoffnung, welche Dolly nie verlassen hatte, theilte Godfrey, und selbst wenn ein Grund zum Verzweifeln dagewesen wäre, so würde er in seiner Ueberzeugung nicht erschüttert worden sein. Ueberhaupt waren Alle voll Vertrauen auf den Erfolg der Expedition, und ihr Entschluß stand fest, Australien nicht eher zu verlassen, bis sie nicht genau das Schicksal des Capitän John kannten.
Es versteht sich von selbst, daß Len Burker bei jeder Gelegenheit zur Ermuthigung nur noch beitrug. Es paßte ihm gerade in sein Spiel, denn er hatte ein Interesse daran, daß Mrs. Branican nicht nach Amerika zurückkehrte, wohin er nicht mehr gehen konnte. Dolly, die nichts von seinen schändlichen Plänen ahnte, dankte ihm noch für seine stete Unterstützung.
Während dieses Aufenthaltes sprachen Tom Marix und Zach Fren von der nothwendigen Reorganisation der Karawane in Alice-Spring. Sollten nicht erst dort die eigentlichen Schwierigkeiten einer Expedition durch Centralaustralien beginnen?
[247] Es mochte ungefähr halb zwei Uhr sein, als ein dumpfes Geräusch gegen Norden vernommen wurde. Es war ein fortwährendes Donnern, wir möchten sagen ein Aufruhr, der sich heulend hinwälzte.
Mrs. Branican, Jane und Godfrey standen auf und horchten. Tom Marix und Zach Fren traten auf sie zu und lauschten ebenfalls.
»Was mag das nur sein? fragte Dolly.
– Ein Gewitter ohne Zweifel, versetzte Zach Fren.
– Ich möchte eher sagen, eine Brandung,« bemerkte Godfrey.[248]
Aber da die Luft elektrisch leer zu sein schien und auch sonst kein Symptom eines Gewitters da war, so konnte man sich die Erscheinung nicht erklären. Als Zach Fren meinte, es könnten vielleicht wüthende Gewässer sein, die auf einmal durch eine Naturgewalt entfesselt wurden, da erwiderte Tom Marix:
»Eine Ueberschwemmung in diesem Theile des Continentes, um diese Zeit, nach einer solchen Trockenheit? Nein, seien Sie ganz beruhigt, das ist unmöglich.«
Er hatte Recht.[249]
In Folge großer Gewitter kommt es oft vor, daß die Flüsse steigen und eine furchtbare Ueberschwemmung anrichten; aber gegen Ende des Monats October war eine solche Erklärung unzulässig.
Len Burker, der ein gutes Pferd hatte, ritt hin und her. (S. 238)
Tom Marix, Zach Fren und Godfrey bestiegen eine kleine Anhöhe und blickten unruhig gegen Norden und Osten, aber sie sahen nichts auf diesen ungeheuren trockenen Ebenen. Und doch! Dort am Horizont entwickelte sich eine eigenthümliche Wolke, die man nicht mit jenen Dämpfen vergleichen konnte, welche von der Erde zum Himmel emporsteigen. Es war eher ein dicker Qualm, wie er sich über abgeschossenen Kanonen erhebt. Was den Lärm anbelangt, der dieser Staubwolke entstieg – wie hätte man daran zweifeln können, daß es eine Staubwolke war? – so wuchs er deutlich und hörte sich an, als ob mehrere Regimenter Cavallerie dahergeritten kämen. Woher kam das?
»Ich weiß es... Ich habe es schon einmal gesehen!... Das sind Schafe! rief Tom Marix.
– Schafe? rief Godfrey lächelnd. Wenn das nur Schafe wären!
– Lachen Sie nicht, Godfrey erwiderte der Führer der Escorte. Es sind vielleicht Tausende und Abertausende von Schafen, die vor Entsetzen fliehen... Sie stürzen wie eine Lawine dahin und vernichten Alles auf ihrer Flucht.«
Tom Marix übertrieb nicht. Wenn diese Thiere aus einem oder dem anderen Grunde – was oft im Innern der »Runs« vorkommt – scheu werden, so kann sie nichts aufhalten, sie stürzen die Barrièren um und entfliehen. Ein altes Sprichwort sagt: »Vor den Schafen hält der Wagen des Königs«, und es ist wahr, eine Heerde solcher Thiere läßt sich eher todtschlagen, als daß sie Platz machte. Da sich diese Wolke zwei bis drei Meilen ausdehnte, so konnte man annehmen, daß irgend ein panischer Schrecken Hunderttausende dieser Thiere gegen die Karawane treibe. Sie rannten wie wahnsinnig von Norden nach Süden und würden erst in dem Augenblicke Halt machen, wo sie erschöpft zusammenbrachen.
»Was ist da zu thun? fragte Zach Fren.
– Sich so gut als möglich zu schützen,« erwiderte Tom Marix.
Da nichts anderes zu machen war, so trafen sie gleich alle Maßregeln, denn die Lawine der Schafe war nur noch zwei Meilen entfernt; die Wolke stieg mächtig zum Himmel empor und aus dieser erscholl ein furchtbares Blöken. Die Wagen wurden rasch gegen eine Hügellehne geschoben und die Treiber und Reiter zwangen die Pferde und Ochsen, sich auf der Erde auszustrecken,[250] um so dem Ansturme besser widerstehen zu können, der über ihrem Kopfe dahingehen mußte. Die Menschen drängten sich an die Berglehne hin und Godfrey stellte sich dicht neben Dolly, um sie, wenn nothwendig, zu beschützen.
Unterdessen hatte Tom Marix die kleine Anhöhe noch einmal bestiegen und sah über die Ebene hin, welche »blökte«, wie das Meer unter einem Sturme brüllt. Die Heerde kam mit furchtbarem Getöse daher und füllte ein Drittel des ganzen Horizontes aus. In weniger als zwei Minuten mußte sie bei dem Berge sein.
»Achtung! Da sind sie!« rief Tom Marix.
Schnell eilte er zu der Stelle, wo Mrs. Branican, Jane, Godfrey und Zach Fren dicht nebeneinander standen.
Fast zu gleicher Zeit kam die erste Heerde dahergestürmt; sie hielt nicht ein und würde auch nicht eingehalten haben. Die vordersten Thiere stürzten den Abhang hinab und einige Hundert fielen hin, da ihnen der Boden unter den Füßen fehlte. In das Blöken mischte sich das Wiehern der Pferde, das Brüllen der Ochsen, die von Entsetzen ergriffen waren. Man sah nichts in dieser furchtbaren Staubwolke, während die Lawine den Abhang in unwiderstehlichem Laufe hinunterstürzte: es war ein daherbrausender Sturzbach von Schafen.
Das dauerte ungefähr fünf Minuten, und Tom Marix, Godfrey und Zach Fren, die sich zuerst erhoben, sahen die letzten Reihen gegen Süden weiter eilen.
»Auf!... Auf!« rief der Führer der Escorte.
Alle erhoben sich. Einige Quetschungen und ein wenig Schaden an den Wagen war Alles, was, Dank dem Schutze dieses Abhanges, die Schafe an Menschen und Material der Karawane zufügten.
Tom Marix, Godfrey und Zach Fren stiegen sofort den Hügel hinauf.
Gegen Süden verschwand die fliehende Truppe wie ein Vorhang sandigen Staubes; gegen Norden dehnte sich endlos die weite Ebene aus.
Aber plötzlich rief Godfrey:
»Dort!... Sehen Sie dort!«
In einer Entfernung von ungefähr zweihundert Schritten lagen zwei Menschen – gewiß Eingeborne, die von den Schafen umgeworfen und zertreten worden waren.
Tom Marix und Godfrey eilten hin.
Welche Ueberraschung! Jos Meritt und sein Bedienter Gîn-Ghi lagen leblos da...[251]
Sie athmeten aber noch, und durch schleunige Hilfe erholten sie sich bald von dem furchtbaren Zusammenstoße. Kaum schlugen sie die Augen auf, so erhoben sie sich, so viel Quetschungen sie auch erhalten hatten.
»O!... Gut!... Sehr gut!« sagte Jos Meritt.
Dann drehte er sich um.
»Und Gîn-Ghi? fragte er.
– Gîn-Ghi ist da... oder wenigstens, was von ihm übrig geblieben ist! erwiderte der Chinese, indem er sich die Rippen rieb. Das waren wohl ein bischen zu viel Schafe, Master Jos, mehr als zehntausend!
– Nie zu viel Hammelkeulen, nie zu viel Coteletten, erwiderte der Gentleman, daher auch nicht zu viel Schafe, Gîn-Ghi! Es ist nur ärgerlich, daß wir kein einziges erwischt haben.
– Trösten Sie sich, Herr Meritt, erwiderte Zach Fren, am Fuße des Abhanges liegen Hunderte derselben zu Ihren Diensten.
– Sehr gut!... O!... Sehr gut!« versetzte phlegmatisch der Engländer.
Dann wandte er sich zu seinem Diener, der sich jetzt nicht mehr die Rippen, sondern die Schultern rieb.
»Gîn-Ghi?
– Herr Jos?
– Zwei Coteletten für heute Abend... Zwei Coteletten... blutige!«
Jos Meritt und Gîn-Ghi erzählten dann, was vorgefallen war. Sie waren der Karawane ungefähr drei Meilen voraus, als sie von den Schafen überrascht wurden. Ihre Pferde flohen, trotz ihrer Anstrengung, sie zurückzuhalten. Sie wurden umgerissen, getreten, und ein Glück, daß sie nicht zu Brei zerstampft wurden, und ebenso ein Glück, daß Mrs. Branican und ihre Gefährten zur rechten Zeit gekommen waren, um ihnen zu helfen.
So war denn Jeder dieser ernsten Gefahr entgangen, und man setzte den Weg wieder fort. Gegen sechs Uhr Abends kam die Karawane in Alice-Spring an.[252]
Buchempfehlung
Albert Brachvogel zeichnet in seinem Trauerspiel den Weg des schönen Sohnes des Flussgottes nach, der von beiden Geschlechtern umworben und begehrt wird, doch in seiner Selbstliebe allein seinem Spiegelbild verfällt.
68 Seiten, 8.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.
390 Seiten, 19.80 Euro