|
[46] Eine Binde über den Augen zu tragen, einen Knebel im Munde, einen Strick um die Handgelenke und einen solchen um die Knöchel zu haben, d. h. also jeder Möglichkeit, zu sehen, zu sprechen und sich zu bewegen, beraubt zu sein, das war für den Onkel Prudent keine Lage, in der er sich hätte wohl fühlen können, und ebenso wenig für Phil Evans und den Diener Frycollin Obendrein nicht einmal zu wissen, wer die Urheber dieser Entführung waren, nicht zu wissen, wo man sich befand und welches Loos man zu erwarten habe – das mußte gewiß auch das allergeduldigste Lamm in Wuth bringen, und bekanntlich gehörten die Mitglieder des Weldon-Instituts, was ihre Geduld betraf, nicht im Geringsten zur Familie der Lämmer. Berücksichtigt man die[46] natürliche Heftigkeit seines Charakters, so kann man sich leicht vorstellen, in welcher Gemüthsverfassung Onkel Prudent sich jetzt befinden mochte.
Jedenfalls mußten Phil Evans und er langsam einsehen, daß es für sie Schwierigkeiten haben werde, am nächsten Abend ihre Plätze im Bureau des Clubs einzunehmen.
Frycollin war es mit verbundenen Augen und dem geschlossenen Munde überhaupt unmöglich, irgend etwas zu denken; er war schon mehr todt, als lebendig.
Während einer Stunde trat in der Lage der Gefangenen keine Aenderung ein Kein Mensch ließ sich erblicken, sie zu besuchen oder ihnen wenigstens die Freiheit der Bewegung und der Sprache wieder zu geben, nach der sie doch so sehr verlangten. Jetzt sahen sie sich auf erstickte Seufzer, auf ein dumpfes »Ach!« angewiesen, das sich kaum durch ihre Knebel preßte, und beschränkt auf schwache Bewegungen, wie sie etwa ein seinem natürlichen Element entrissener absterbender Karpfen ausführt, und man begreift leicht, welchen stummen Zorn, welch' verhaltene oder vielmehr eingeschnürte Wuth das in ihnen erzeugen mußte. Nach wiederholten vergeblichen Befreiungsversuchen verhielten sie sich eine Zeit lang ganz still. Da ihnen der Gesichtssinn augenblicklich abging, bemühten sie sich, vielleicht durch den Gehörsinn einige Aufklärung über diesen beunruhigenden Zustand der Dinge zu erlangen. Vergeblich aber strengten sie sich an, ein anderes Geräusch zu hören, als das ununterbrochene und unerklärliche »frrr«, das hier den ganzen Umkreis zu beherrschen schien.
Inzwischen gelang es Phil Evans, der hier mit mehr Ruhe ans Werk ging, den Strick locker zu machen, der um sein Handgelenk lag. Dann löste sich allmählich der fesselnde Knoten, er schmiegte die Finger dicht aneinander, und endlich erlangten seine Hände wieder die gewohnte Bewegungsfreiheit.
Durch kräftiges Reiben stellte er den in ihnen halb unterbrochenen Blutumlauf wieder her, und in der nächsten Minute schon hatte Phil Evans die Binde abgerissen, die ihm die Augen bedeckte, den Knebel aus seinem Munde gelöst und alle Stricke mit der seinen Klinge seines »Bowie-Messers« zerschnitten. Ein Amerikaner, der nicht stets sein Bowie-Messer in der Tasche hätte, wäre eben kein Amerikaner mehr.
Wenn Phil Evans aber hieraus die Möglichkeit sich zu bewegen und zu sprechen wieder erlangte, so war das doch eben Alles. Seine Augen fanden keine Gelegenheit zu nützlicher Thätigkeit – wenigstens jetzt nicht, denn in der[47] Zelle, die sie einschloß, herrschte vollständige Finsterniß. Ein ganz schwacher Lichtschein drang durch eine Schießscharte herein, die in sechs bis sieben Fuß Höhe in der Wand angebracht war.
Es versteht sich von selbst, daß Phil Evans keinen Augenblick zögerte, auch seinen Rivalen zu befreien. Einige Züge mit dem Bowie-Messer genügten zur Durchschneidung der Stricke, welche dessen Füße und Hände fesselten. In heller Wuth riß sich Onkel Prudent, als er sich kaum auf den Füßen aufrichten konnte, die Binde herunter und den Knebel heraus und stammelte mit erstickter Stimme:
»Ich danke Ihnen!
– Nein!... Hier ist nichts zu danken, antwortete der Andere.
– Phil Evans?
– Onkel Prudent?
– Hier gibt es keinen Vorsitzenden und keinen Schriftführer des Weldon-Instituts, ich denke, auch keine Gegner mehr.
– Sie haben Recht, bestätigte Phil Evans. Hier sind wir nur zwei Männer, die sich zu rächen haben an einen Dritten, dessen Gewaltstreich die strengste Wiedervergeltung herausfordert.
– Und dieser Dritte...
– Ist jener Robur!...
– Ja, jener Robur!«
Hier fand sich also einmal ein Punkt, bezüglich dessen die beiden Ex-Concurrenten völlig übereinstimmten, ein Streit über diesen Gegenstand schien demnach ganz ausgeschlossen.
»Und Ihr Diener? bemerkte da Phil Evans mit einem Fingerzeig auf Frycollin, der wie ein Seehund schnaufte, wir müssen auch ihn befreien.
– Noch nicht, erwiderte Onkel Prudent, er würde uns mit seinen Klageliedern den Kopf warm machen, und wir haben jetzt Anderes zu thun, als auf sein Jammern zu achten.
– Und was denn, Onkel Prudent?
– Uns zu retten, wenn es möglich ist!
– Und selbst wenn es unmöglich ist!«
Ein Zweifel daran, daß diese Entführung jenem Fremdling, dem Robur, zuzuschreiben sei, konnte dem Präsidenten und seinem Collegen gar nicht in den Sinn kommen. In der That hätten ja einfache, ehrsame Räuber sie unzweifelhaft[48] ihrer Uhren, Edelsteine, Brieftaschen und Portemonnaies entledigt und sie dann mit einem Schnitt durch den Hals in den Schuylkill-Strom geworfen, statt sie einzuschließen in... Ja, in was? – Das war eine ernste Frage, welche die schleunigste Lösung verdiente, ehe sie mit einiger Aussicht auf Erfolg an irgend welche Vorbereitungen zu ihrer Flucht denken konnten.
»Phil Evans, nahm Onkel Prudent wieder das Wort, wir hätten wahrlich besser daran gethan, wenn wir beim Weggehen aus der Sitzung, statt Liebenswürdigkeiten, auf welche wir hier nicht zurückkommen wollen, auszutauschen,[49] lieber etwas weniger zerstreut gewesen wären. Verließen wir die Straßen von Philadelphia nicht, so wäre das Alles nicht geschehen. Offenbar hatte jener Robur schon eine Ahnung davon, was sein Auftreten im Club bewirken würde, er muthmaßte die Wuthausbrüche, welche seine Herausforderungen entfesseln mußten und hatte vor der Thüre sicherlich einige seiner Banditen, ihm im schlimmsten Falle beizuspringen.
Als wir dann die Walnut-Straße verließen, spürten uns seine Schergen auf, folgten unseren Spuren und als sie sahen, daß wir uns unkluger Weise in den Alleen des Fairmont-Parkes verirrten, da hatten sie ja leichtes Spiel.
– Einverstanden, antwortete Phil Evans. Ja, wir haben sehr Unrecht gethan, nicht unmittelbar unsere Wohnungen aufzusuchen.
– Man hat immer Unrecht, nicht Recht zu haben,« versetzte Onkel Prudent.
Da ertönte ein langgezogener Seufzer aus dem finsteren Winkel der Zelle.
»Was war das? fragte Phil Evans.
– O nichts... Frycollin träumt nur.«
Und Onkel Prudent fuhr ungestört fort:
»Zwischen dem Zeitpunkte, wo wir wenige Schritte vom Anfang der Lichtung ergriffen wurden, und dem, wo man uns in diesen Winkel warf, sind kaum zwei Minuten verflossen. Es liegt also auf der Hand, daß jene Leute uns nicht über den Fairmont-Park hinaus verschleppt haben.
– Denn wenn das geschehen wäre, hätten wir doch von der Fortschaffung etwas verspüren müssen.
– Einverstanden, erklärte Onkel Prudent. Es unterliegt also keinem Zweifel, daß wir in einer Abtheilung irgend eines Wagens eingesperrt sind, vielleicht in einem jener langen Prairie-Reisewagen oder in dem Gefährte von Seiltänzern.
– Ohne Zweifel. Befänden wir uns auf einem auf dem Schuylkill-Strom vertäuten Schiffe, so müßte sich das durch ein leichtes Schwanken von Bord zu Bord, veranlaßt durch die Strömung, zu erkennen geben.
– Einverstanden, stets, stets, wiederholte Onkel Prudent, und ich meine, es ist, wo wir uns noch in der Parklichtung befinden, jetzt oder nie der geeignete Moment zur Flucht, um später jenen Robur wieder aufzuspüren...
– Und ihn diesen Angriff auf die Freiheit zweier Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika theuer bezahlen zu lassen!
– Theuer... sehr theuer![50]
– Doch, wer ist dieser Mann?... Woher kommt er?... Ist er ein Engländer, ein Deutscher, ein Franzose...
– Jedenfalls ein elender Wicht, das genügt, antwortete Onkel Prudent. Und nun an's Werk!«
Mit ausgestreckten Händen und gespreizten Fingern tasteten Beide an der Wand des kleinen Raumes umher, um einen Riß oder eine Spalte zu entdecken. Vergeblich. Es fand sich hier ebenso wenig davon, wie an der Thür. Diese erwies sich fast hermetisch geschlossen, und es wäre unmöglich gewesen, das Schloß derselben zu sprengen. Man mußte also ein Loch herzustellen suchen, um durch dasselbe zu entkommen. Dabei trat nun die Frage hervor, ob die Bowie-Messer die Wand anzugreifen im Stande seien, ob ihre Klingen sich nicht verbiegen oder bei dem Vorhaben gar zerbrechen würden.
»Doch woher stammt jenes Zittern, das gar nicht aufhört? fragte Phil Evans, der sich über das immer fortdauernde frrr nicht beruhigen konnte.
– Es ist ohne Zweifel der Wind, meinte Onkel Prudent.
– Der Wind?... Bis Mitternacht schien mir, als ob die Luft ganz ruhig gewesen wäre...
– Gewiß, Phil Evans, doch, wenn es der Wind nicht sein soll, was halten Sie dann für die Ursache?«
Phil Evans versuchte, nachdem er die beste Klinge seines Messers aufgeklappt, in die Wand nahe der Thür einzuschneiden. Vielleicht genügte es, hier eine Oeffnung zu machen, um diese von außen zu öffnen, wenn sie nur durch einen Riegel versperrt oder der Schlüssel im Schlosse stecken geblieben war. Wenige Minuten Arbeit reichten hin, die Klinge des Bowie-Messers zu verderben, die Spitze desselben abzubrechen und es in eine tausendzähnige Säge zu verwandeln.
»Es greift wohl nicht, Phil Evans?
– Nein.
– Sollten wir uns in einer Zelle aus Stahl befinden?
– Das nicht, Onkel Prudent; diese Wände geben angeschlagen keinen metallischen Ton.
– Also vielleicht aus Eisenholz?
– Nein, weder aus Eisen, noch aus Holz.
– Aus was bestände sie denn dann?
– Das ist unmöglich zu entscheiden; unbedingt aber ist es eine Substanz, welche der Stahl nicht angreift.«[51]
Onkel Prudent loderte in hellem Zorn auf, er fluchte, stampfte den widerhallenden Boden mit den Füßen und seine Hände suchten einen eingebildeten Robur zu erwürgen.
»Ruhig, Onkel Prudent, ermahnte ihn Phil Evans, ruhig. Versuchen Sie einmal Ihr Glück.«
Onkel Prudent versuchte es, das Bowie-Messer konnte aber nicht in eine Wand einschneiden, die selbst dessen beste Klingen nicht zu ritzen vermochten, als ob diese aus Krystall wäre.
Eine Flucht erschien also ganz unausführbar, denn ohne Oeffnung der Thür war an eine solche doch gar nicht zu denken.
Es galt demnach, für jetzt darauf zu verzichten, was dem Yankee-Temperament nicht eben leicht zu werden pflegt, und Alles vom Zufall zu erwarten, was hervorragenden praktischen Geistern allemal zuwider ist. Natürlich geschah das nicht ohne Verwünschungen, furchtbare Drohungen und an die Adresse Robur's gerichtete schwere persönliche Beleidigungen, während er doch gar nicht der Mann dazu schien, sich deshalb ein graues Haar wachsen zu lassen, wenn anders er sich im Privatleben ebenso zeigte, wie bei seinem Auftreten im Weldon-Institute.
Inzwischen gab Frycollin einige unzweifelhafte Zeichen seiner unbehaglichen Lage von sich. Ob er nun krampfhaftes Krümmen im Magen empfand oder die Einschnürung ihm einen Krampf der Glieder zugezogen hatte, jedenfalls begann er jämmerlich zu lamentiren.
Onkel Prudent glaubte seinen Qualen ein Ende machen zu müssen, indem er die Stricke, welche den Neger fesselten, durchschnitt.
Fast hätte er Ursache gehabt, diese Regung von Mitleid zu bedauern. Sofort begann Jener nämlich eine endlose Litanei, in der Ausbrüche des Entsetzens und – Klagen über Hunger die Hauptrolle spielten. Frycollin litt ebenso sehr im Kopfe, wie im Magen, ja, es wäre schwierig gewesen, zu entscheiden, welchem dieser beiden Organe am meisten Schuld an dem Jammern des Negers beizumessen war.
»Frycollin! rief Onkel Prudent.
– Master Onkel! Master Onkel! antwortete der Neger mit kläglichem Geschrei.
– Es ist möglich, daß wir verdammt sind, in diesem Gefängnisse Hungers zu sterben. Wir sind aber entschlossen, Alles, was irgend verzehrbar erscheint, zu versuchen, um unser Leben zu verlängern.[52]
– Und mich aufzuzehren? jammerte Frycollin.
– Wie man es unter solchen Umständen mit einem Neger stets macht! Sorge also, Frycollin, daß Du Dich uns nicht zu sehr bemerkbar machst...
– Oder Du wirst fri – cas – sirt!« setzte Phil Evans hinzu.
Frycollin bekam wirklich Angst, daß sein Leichnam in Anspruch genommen werden könnte, das Leben zweier Männer zu verlängern, das jedenfalls werthvoller war, als das seinige. Er begnügte sich also, nur noch im Stillen zu seufzen.
Inzwischen verstrich die Zeit und alle Versuche, die Thür oder die Wand gewaltsam zu öffnen, waren erfolglos geblieben. Woraus die Wand bestand, ließ sich unmöglich feststellen. Metall war das nicht, Holz war es nicht und Stein war es auch nicht. Der Fußboden der Zelle schien übrigens aus demselben Material hergestellt zu sein. Stieß man mit dem Fuße auf denselben, so gab das einen ganz seltsamen Ton, den unter die bekannten Geräusche zu classificiren, Onkel Prudent gewiß viele Mühe gemacht hatte.
Dabei bemerkte man noch, daß der Fußboden entschieden hohl klang, so, als ob er nicht direct auf dem Boden der Lichtung ruhte; ja er schien bei dem unerklärlichen frrr selbst leise zu erzittern. Al les das war nicht gerade beruhigender Natur.
»Onkel Prudent, begann Phil Evans.
– Phil Evans? antwortete der Gefragte.
– Meinen Sie, daß unsere Zelle ihre Lage verändert hat?
– Keineswegs.
– Und doch, als wir kaum eingesperrt waren, konnte ich deutlich den frischen Geruch des Grases und den harzigen Duft der Bäume wahrnehmen. Jetzt kann ich Luft einsaugen, so viel ich will, es erscheint mir, als ob davon nichts zu riechen wäre.
– Das ist freilich wahr.
– Doch, wie soll man das erklären?
– Erklären wir es auf ganz beliebige Weise, Phil Evans, nur nicht durch die Hypothese, daß unser Gefängniß eine Ortsveränderung erlitten habe. Ich wiederhole, daß wir es unbedingt hätten fühlen müssen, wenn wir uns auf einem in Gang befindlichen Wagen oder auf einem dahingleitenden Schiffe befänden.«
Frycollin ließ einen langgedehnten Seufzer hören, den man hätte für seinen letzten halten können, wenn ihm nicht mehrere andere nachgefolgt wären.[53]
»Ich gab mich der Hoffnung hin, daß Robur uns bald veranlassen werde, vor ihn zu treten, fuhr Phil Evans fort.
– Ich nicht minder, rief Onkel Prudent, aber ich werde ihm ins Gesicht sagen...
– Was?
– Daß er erst wie ein Unverschämter in unsere Verhandlungen eingegriffen hat, um schließlich gleich einem Schurken zu handeln!«
Eben jetzt bemerkte Phil Evans, daß der Tag zu grauen begann. Ein noch schwacher Lichtschein drang durch die enge, am oberen Theile der der Thür gegenüberliegenden Wand angebrachte Schießscharte herein. Es mochte also gegen vier Uhr Morgens sein, denn im Juni und unter dieser Breite färbt sich der Horizont von Philadelphia zu dieser Stunde mit den ersten Morgenstrahlen.
Und doch, als Onkel Prudent seine Repetiruhr schlagen ließ, ein Meisterwerk, das aus der Anstalt seines Collegen hervorgegangen war – meldete diese, daß es erst dreivierteldrei Uhr war, obwohl die Uhr inzwischen bestimmt nicht gestanden hatte.
»Seltsam! sagte Phil Evans. Um dreivierteldrei Uhr sollte es noch Nacht sein.
– Meine Uhr müßte dann bedeutend nachgeblieben sein, bemerkte Onkel Prudent.
– Eine Uhr der Waldon Watch Company!« rief Phil Evans beleidigt.
Auf jeden Fall begann es jetzt Tag zu werden. Nach und nach hob sich die Schießscharte weiß von der tiefen Dunkelheit der Zelle ab. Und doch, wenn das Morgengrauen frühzeitiger auftrat, als es entsprechend dem 40. Breitengrade, unter dem Philadelphia liegt, zu erwarten war, so erschien es doch nicht mit der bekannten Schnelligkeit, wie in den niedrigen Breiten.
Onkel Prudent machte diese neue Beobachtung und erwähnte der fast unerklärlichen Erscheinung.
»Wir könnten vielleicht bis nach der Schießscharte hinaufklimmen,« bemerkte Phil Evans, um von da aus Rundschau zu halten, wo wir überhaupt sind
– Das können wir,« stimmte Onkel Prudent zu.
Dann wandte er sich an Frycollin:
»Nun munter, Fry, auf die Füße!«
Der Neger erhob sich.[54]
»Lehne Dich mit dem Rücken gegen diese Wand, fuhr Onkel Prudent fort, und Sie, Phil Evans, steigen gefälligst auf die Schultern dieses Burschen, während ich Sie von rückwärts halte.
– Recht gern,« antwortete Phil Evans.
Einen Augenblick später kletterte er schon auf Frycollin's Schultern, so daß er zu der Schießscharte hinaussehen konnte.
Dieselbe war verschlossen, aber nicht durch ein Linsenglas, wie die Lichtpforte eines Schiffes, sondern durch eine gewöhnliche Planscheibe. Obwohl sie nicht sehr stark war, verhinderte sie doch den freien Ausblick Phil Evans', dessen Gesichtskreis dadurch ziemlich beschränkt wurde.
»So zerbrechen Sie doch die Scheibe, sagte Onkel Prudent, vielleicht können Sie dann besser sehen.«
Phil Evans führte einen heftigen Schlag mit dem Heft seines Bowie-Messers gegen die Scheibe, welche einen fast silbernen Ton gab, aber nicht zerbrach.
Ein zweiter, noch kräftigerer Schlag hatte nur dasselbe Resultat.
»Schön, rief Phil Evans, unzerbrechliches Glas!«
Wirklich mußte diese Scheibe aus dem nach der Methode des Erfinders Siemens gehärteten Glase bestehen, da sie trotz der wiederholten Schläge ganz blieb.
Uebrigens war es jetzt draußen hell genug, um ziemlich weit sehen zu können, wenigstens innerhalb des Gesichtsfeldes, das die Einfassung der Schießscharte frei ließ.
»Was sehen Sie? fragte Onkel Prudent.
– Nichts.
– Wie? Keinen Wald?
– Nein.
– Nicht einmal die Gipfel der Bäume?
– Auch diese nicht.
– Wir befinden uns also nicht mehr inmitten der Lichtung?
– Weder in der Lichtung, noch überhaupt im Park.
– Erkennen Sie denn auch nicht die Dächer der Häuser, die Spitzen der Denkmäler? sagte Onkel Prudent, dessen Enttäuschung schon in einem Grade zunahm, daß sie nahe an Wuth grenzte.
– Weder Dächer, noch Spitzen.
– Was? Auch nicht einen Mast mit Flagge, nicht einen einzigen Kirchthurm, nicht einmal einen Fabriksschornstein?
– Nichts – als die leere Luft.–
Eben jetzt öffnete sich die Thür der Zelle, in der ein[55] Mann sichtbar wurde.
Das war Robur.
»Ehrenwerthe Ballonisten, sagte eine ernste Stimme, Sie sind nun frei, nach Belieben zu gehen, wohin Sie wollen....
– Frei! rief Onkel Prudent.
– Ja... das heißt innerhalb der Grenzen des »Alba[56] tros«!
Onkel Prudent und Phil Evans stürzten aus der Zelle.
Und was sahen sie da?
Zwölf- bis dreizehnhundert Meter unter ihnen die Oberfläche eines Landes, das sie vergeblich zu erkennen sich bemühten.[57]
Buchempfehlung
Der Held Gustav wird einer Reihe ungewöhnlicher Erziehungsmethoden ausgesetzt. Die ersten acht Jahre seines Lebens verbringt er unter der Erde in der Obhut eines herrnhutischen Erziehers. Danach verläuft er sich im Wald, wird aufgegriffen und musisch erzogen bis er schließlich im Kadettenhaus eine militärische Ausbildung erhält und an einem Fürstenhof landet.
358 Seiten, 14.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro