[50] So sehr mich dieser unerwartete Fall überraschte, behielt ich doch eine klare Vorstellung dessen, was ich empfand.
Ich wurde anfangs etwa zwanzig Fuß tief hinabgeschleudert. Ein guter Schwimmer, verlor ich über dem Untertauchen nicht den Kopf. Zwei kräftige Stöße mit den Fersen brachten mich wieder zur Oberfläche empor.
Vor Allem suchten meine Augen die Fregatte? Hatte die Mannschaft mein Verschwinden gemerkt? Hatte der Abraham Lincoln sich umgedreht? Hatte der Commandant Farragut ein Boot in's Meer gelassen? Durste ich auf Rettung hoffen?
Tiefes Dunkel ringsum. Ich sah im Osten eine schwarze Masse verschwinden, deren leuchtende Feuer in der Ferne verloschen. Es war die Fregatte. Jetzt hielt ich mich für verloren.
»Zu Hilfe! Hilfe!« rief ich, indem ich mit verzweifelndem Arm auf den Abraham Lincoln zuschwamm.
Meine Kleider hinderten mich. Sie klebten im Wasser an meinem Leibe, hemmten meine Bewegungen. Ich sank unter! Die Luft ging mir aus ...!
»Zu Hilfe!«
Diesen letzten Ruf stieß ich aus. Mein Mund schluckte Wasser ... In den Abgrund versinkend zappelte ich ... Plötzlich wurden meine Kleider von kräftiger Hand gefaßt, ich fühlte mich ungestüm an die Oberfläche des Meeres emporgezogen, und ich hörte, ja, ich hörte diese Worte mir in's Ohr gesprochen:[50]
»Wenn mein Herr die große Güte haben will, sich auf meine Schultern zu stützen, wird er viel bequemer schwimmen.«
Ich ergriff mit einer Hand den Arm meines treuen Conseil.
»Du! sagte ich, Du!
– Ich selbst, erwiderte Conseil, und zu meines Herrn Befehl.
– Und der Stoß hat Dich zugleich mit mir in's Meer geschleudert?
– Keineswegs. Da ich in meines Herrn Dienst stehe, bin ich ihm nachgesprungen.«
Der wackere Bursche hielt dies für natürlich!
»Und die Fregatte? fragte ich.
– Die Fregatte! erwiderte Conseil, indem er sich wieder auf den Rücken legte; ich glaube, mein Herr wird wohl thun, nicht allzuviel auf sie zu rechnen!
– Du meinst?
– Ich meine, im Augenblick, da ich mich in's Meer stürzte, hörte ich die Leute am Steuer rufen: Die Schraube und das Steuer sind zerbrochen ...
– Zerbrochen?
– Ja! durch den Zahn des Ungeheuers. Dies ist der erste Schaden, den der Abraham Lincoln je erlitten. Aber, ein schlimmer Umstand für uns, er ist nicht mehr im Stand, zu steuern.
– Dann sind wir verloren!
– Vielleicht, erwiderte ruhig Conseil. Doch, wir haben noch einige Stunden vor uns, und in einigen Stunden kann man viel zu Stande bringen!«
Die unverwüstliche Kaltblütigkeit Conseil's richtete meinen Muth auf. Ich konnte wieder rüstig schwimmen; aber da meine Kleider mir anklebten wie ein bleierner Mantel, so konnte ich nur mit äußerster Mühe aushalten. Conseil bemerkte es.
»Erlaube mir, mein Herr, einen Schnitt zu machen«, sagte er.
Und er steckte eine Messerklinge unter meine Kleider und zerschnitt sie in einem Zug von oben bis unten. Darauf entledigte er mich rasch derselben, während ich für uns beide schwamm.
Ich leistete dagegen Conseil denselben Dienst, und wir schwammen dann nebeneinander weiter.
Jedoch war die Lage darum nicht minder schrecklich. Vielleicht hatte man auf der Fregatte unser Verschwinden gar nicht gemerkt, und hätten sie's auch[51] wahrgenommen, so konnten sie, weil ihr Steuer zerbrochen war, nicht unter'm Wind zu uns zurückkommen. Man konnte also nur auf die Boote rechnen.
Conseil urtheilte kalt, dieser Annahme gemäß, und machte darnach seinen Plan. Ein Charakter zum Erstaunen! Dieser phlegmatische Bursche war hier wie zu Hause.
Es wurde daher beschlossen, da unsere einzige Aussicht auf Rettung darauf beruhte, daß die Boote des Abraham Lincoln uns aufnahmen, so müßten wir uns darauf einrichten, um so lange wie möglich sie erwarten zu können. Ich dachte daher unsere Kräfte getheilt zu verwenden, um sie nicht mit einander zu erschöpfen, und wir machten's so: Während der eine mit gekreuzten Händen und gestreckten Beinen unbeweglich auf dem Rücken lag, schwamm der Andere und bugsirte ihn vorwärts. In dieser Rolle durfte er nur zehn Minuten bleiben, damit wir durch Ablösen unsere Kräfte sparten, um es einige Stunden, vielleicht bis zu Tagesanbruch, auszuhalten.
Schwache Aussicht auf Rettung! aber die Hoffnung wurzelt tief im Herzen des Menschen. Und dann, es waren unser zwei. Ja, wenn ich alle Täuschung in mir vernichten, wenn ich »verzweifeln« wollte, ich konnte es nicht!
Der Zusammenstoß der Fregatte mit dem Thier hatte sich etwa um elf Uhr Abends begeben. Ich rechnete also, daß wir bis zu Sonnenaufgang acht Stunden zu schwimmen hätten, was mit äußerster Anstrengung durch gegenseitige Ablösung ausführbar war. Das Meer war ziemlich ruhig, machte uns wenig müde.
Gegen ein Uhr Vormittags fühlte ich mich äußerst erschöpft. Meine Glieder wurden steif unter heftigen Krämpfen. Conseil mußte mich stützen, und unsere Rettung beruhte nun auf ihm allein. Bald hörte ich den armen Burschen keuchen; er athmete kurz und beklommen. Ich sah ein, daß er nicht lange mehr aushalten konnte.
»Lasse mich! Lass' mich! sagte ich zu ihm.
– Meinen Herrn im Stich lassen! Niemals!« erwiderte er. In diesem Moment leuchtete der Mond ein wenig zwischen dem Gewölk hervor, und die Meeresfläche schimmerte in seinen Strahlen. Dieser Eindruck belebte wieder unsere Kräfte. Ich konnte den Kopf aufrichten und am ganzen Horizont umherblicken. Ich sah die Fregatte, etwa fünf Meilen von uns, kaum bemerkbar. Aber von Booten nichts! Ich wollte rufen. Wozu das, in solcher Ferne? Meine geschwollenen Lippen vermochten's nicht. Ich hörte Conseil[52] wiederholt um Hilfe rufen. Wir hielten ein wenig an und horchten. Es dünkte mir, ein Ruf antworte dem Rufen Conseil's.
»Hast Du gehört? stammelte ich.
– Ja! ja!«
Und Conseil stieß nochmals verzweifelten Hilferuf aus. Diesmal war nicht zu zweifeln, eine Menschenstimme antwortete uns! War's die Stimme eines andern beim Zusammenstoßen verunglückten Opfers? Oder gar ließ ein Boot der Fregatte uns durch's Sprachrohr den Ruf zugehen?
Conseil nahm seine äußersten Kräfte zusammen, um auf meine Schulter gestützt, sich halb aufzurichten und umherzuschauen; dann sank er erschöpft zurück.
»Was hast Du gesehen?
– Ich habe gesehen ... stammelte er, ich habe gesehen ... Doch reden wir nicht ... nehmen wir alle Kraft zusammen! ...« Was hatte er gesehen? ... Was für eine Stimme mochte es sein?
Conseil jedoch bugsirte mich fortwährend. Manchmal hob er den Kopf empor, blickte vor sich, rief wieder, um sich kund zu geben, und eine andere Stimme ließ sich immer näher vernehmen. Kaum vermochte ich noch es zu hören, meine Kräfte gingen mir aus; meine Finger spreizten sich; meine Hand versagte mir die Stütze; mein krampfhaft geöffneter Mund füllte sich mit Wasser; ich erstarrte vor Kälte. Zum letzten Mal hob ich den Kopf empor, dann versank ich ...
In dem Augenblick stieß ein Körper wider mich; ich klammerte mich an. Ich fühlte, daß man mich auf die Oberfläche zog, daß meine Brust wieder aufathmete, dann ward ich ohnmächtig ...
Gewiß bin ich durch das kräftige Reiben, womit man mich bearbeitete, bald wieder zu mir gekommen. Ich schlug ein wenig die Augen auf ...
»Conseil! stammelte ich.
– Mein Herr hat mir gerufen?« erwiderte Conseil.
In dem Augenblick, beim letzten Mondesstrahl, gewahrte ich eine Gestalt, nicht die Conseil's, und erkannte sie sogleich.
»Ned! rief ich.
– In eigener Person, mein Herr, um mir meine Prämie zu holen! erwiderte der Canadier.
– Sie sind auch von dem Stoß in's Meer geschleudert worden?[53]
– Ja, Herr Professor, aber ich war besser d'ran, als Sie, daß ich sogleich auf einem schwimmenden Inselchen festen Fuß fassen konnte.
– Ein Inselchen?
– Ja, oder vielmehr, auf unserm Riesennarwal.
– Erklären Sie mir, Ned.
– Ich begriff bald, warum meine Harpune nicht eindringen konnte, und stumpf ward.
– Warum Ned, warum?
– Weil dies Thier, Herr Professor, von Eisenblech gemacht ist!«
Ich muß hier meinen Geist sammeln, meine Erinnerungen wieder beleben, meine Aussagen selbst controliren.
Die letzten Worte des Canadiers bewirkten in meinem Kopf eine plötzliche Wandlung. Ich klimmte rasch nach oben auf das Geschöpf oder den Gegenstand, der halb unter'm Wasser uns als Zuflucht diente. Ich probirte mit dem Fuß. Offenbar war's ein harter, undurchdringlicher Körper, nicht der weiche Stoff, woraus die großen Seesäugethiere bestehen. Aber der harte Körper konnte auch eine knochenartige Schilddecke sein, wie bei den urweltlichen Thieren, und ich hätte jetzt das Ungeheuer unter die Reptilamphibien zu zählen, wie die Schildkröten und Alligatoren.
Nein! Der schwärzliche Rücken, auf dem ich mich befand, war glatt, polirt, nicht schuppig. Er ließ, wenn man ihn anklopfte, einen Metallton hören, und so unglaublich es auch war, er schien von eingebolzten Platten gemacht.
Ein Zweifel war nicht mehr möglich. Das Thier, das Ungeheuer, das Naturphänomen, welches die ganze gelehrte Welt, die Einbildungskraft der Seeleute verrückt und irre geleitet hatte, – man mußte es wohl anerkennen, war ein noch erstaunlicheres Wunder, ein Phänomen von Menschenhand.
Die Entdeckung des Daseins eines noch so märchenhaften, mythischen Geschöpfes hätte meine Vernunft nicht in dem Grade überrascht. Daß das Wunderbare von Gott herkommt, ist eine einfache Sache. Aber auf einmal, unter seinen Augen, das Unmögliche geheimnißvoll von Menschenhand verwirklicht zu sehen, das konnte den Geist irre machen!
Doch war es zweifellos, daß wir uns auf dem Rücken einer Art unterseeischen Fahrzeugs befanden, das, soviel ich urtheilen konnte, die Form eines[54] ungeheuern Fisches von Stahl hatte. Ned-Land's Ansicht darüber war entschieden; und ich konnte nebst Conseil mich nur anschließen.
»Aber dann, sagte ich, hatte dieses Fahrzeug eine Maschine für die Bewegung, und eine Mannschaft, welche sie in Anwendung bringt?
– Offenbar, erwiderte der Harpunier, und demungeachtet hat, seit den drei Stunden, daß ich diese schwimmende Insel bewohne, dieselbe noch kein Lebenszeichen von sich gegeben.
– Das Fahrzeug ist nicht gefahren?
– Nein, Herr Arronax. Es läßt sich von den Wellen schaukeln, ohne selbst sich zu bewegen.
– Wir wissen jedoch, und ohne Zweifel, daß dasselbe eine große Geschwindigkeit hat. Da es nun, um eine solche hervorzubringen, eine Maschine haben muß, und einen Maschinisten, der sie leitet, so schließe ich daraus, ... daß wir gerettet sind.
– Hm!« sagte Ned-Land mit einigem Rückhalt.
In diesem Augenblick, als wie zum Beweis meiner Folgerung, entstand am hintern Theil dieses seltsamen Fahrapparats ein Brausen, das offenbar von einer Schraube herrührte, und setzte es in Bewegung. Wir hatten nur noch Zeit, uns fest an seinen obern Theil, der etwa achtzig Centimeter über das Wasser emporragte, anzuklammern. Zum Glück war seine Geschwindigkeit nicht übermäßig.
»So lange als es sich horizontal bewegt, brummte Ned-Land, hab' ich nichts dagegen zu sagen. Aber wenn es ihm einfällt unterzutauchen, so gäb' ich keine zwei Dollars für mein Leben!«
Es wurde daher dringend nothwendig, sich mit den im Schoße dieser Maschine befindlichen Geschöpfen, welcher Art sie auch sein mochten, in Verbindung zu setzen. Ich suchte an seiner Oberfläche nach einer Oeffnung, einer Lucke; aber die aneinanderstoßenden Platten waren festgefugt und wie aus einem Stück.
Zudem ging der Mond eben unter, und ließ uns in tiefem Dunkel. Wir mußten den Tag abwarten, um Mittel in's Innere des Fahrzeugs zu dringen, ausfindig zu machen.
Also hing unsere Rettung einzig vom Belieben der geheimnißvollen Leiter dieses Apparats ab, und wenn sie untertauchten, waren wir verloren! Diesen Fall ausgenommen, zweifelte ich nicht an der Möglichkeit, mit ihnen in Verbindung[55] zu treten. Und in der That, wenn sie nicht ihre Luft selbst bereiteten, so mußten sie nothwendig von Zeit zu Zeit an die Oberfläche des Meeres herauskommen, um ihren Vorrath von athmungsfähigem Gas zu erneuern. Darum mußte noth wendig eine Oeffnung vorhanden sein, um das Innere des Fahrzeuges mit der Atmosphäre in Verbindung zu setzen.
Die Hoffnung auf Rettung durch den Commandanten Farragut mußte man völlig aufgeben. Wir waren westwärts getrieben, und ich schätzte, daß[56] unsere verhältnißmäßig geringe Geschwindigkeit zwölf Meilen die Stunde betrug. Die Schraube schlug die Wellen mit mathematischer Regelmäßigkeit, und tauchte von Zeit zu Zeit auf, um ihr phosphorescirendes Wasser hoch emporzuspritzen.
Gegen vier Uhr Morgens nahm die Schnelligkeit des Fahrzeugs zu. Wir konnten, wenn der volle Wellenschlag uns traf, kaum dem schwindelhaften Fortreißen widerstehen. Zum Glück fand Ned mit der Hand einen[57] auf dem Rücken der Platte eingelassenen Ring, woran wir uns fest anklammern konnten.
Endlich war die lange Nacht vorüber. Ich kann mich nur unvollständig der einzelnen Eindrücke entsinnen. Nur ein Ereigniß tritt mir klar hervor. Während mitunter Meer und Wind ruhig waren, glaubte ich einigemal unbestimmte Töne, eine flüchtige Harmonie ferner Accorde, zu hören. Was für Geschöpfe lebten in diesem seltsamen Fahrzeug? Welche mechanische Kraft bewirkte seine wunderbare Schnelligkeit?
Der Tag erschien, und der Morgennebel umhüllte uns, aber er zertheilte sich bald. Ich schritt zu einer sorgfältigen Untersuchung des Körpers, der oben eine Art Plateform bildete, – als ich fühlte, wie diese allmälig sich senkte:
»He! Tausend Teufel! schrie Ned-Land, und trat mit dem Fuß wider die hallende Platte, so öffnet doch, ungastliche Leute!«
Aber es war schwer, bei den betäubenden Schlägen der Schraube sich vernehmbar zu machen. Zum Glück hielt die Bewegung, welche unterzutauchen drohte, inne.
Plötzlich vernahm man im Innern des Fahrzeugs ein Rasseln heftig gerüttelten Eisenwerks.
Ein Platte öffnete sich, ein Mann kam zum Vorschein, stieß einen sonderbaren Schrei aus, und verschwand sogleich wieder.
Einige Augenblicke darauf erschienen abermals, und zwar schweigend acht starke Bursche mit verkapptem Angesicht, und zogen uns in ihre fürchterliche Maschine hinein.
Buchempfehlung
Nachdem im Reich die Aufklärung eingeführt wurde ist die Poesie verboten und die Feen sind des Landes verwiesen. Darum versteckt sich die Fee Rosabelverde in einem Damenstift. Als sie dem häßlichen, mißgestalteten Bauernkind Zaches über das Haar streicht verleiht sie ihm damit die Eigenschaft, stets für einen hübschen und klugen Menschen gehalten zu werden, dem die Taten, die seine Zeitgenossen in seiner Gegenwart vollbringen, als seine eigenen angerechnet werden.
88 Seiten, 4.20 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.
428 Seiten, 16.80 Euro