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[237] Kennt ihr das Märchen von der Entstehung Norwegens?
Laßt es euch erzählen!
Als Gott der Herr die Welt erschaffen und alles ringsumher geordnet hatte, da blickte er zufrieden auf das vollendete Werk. Plötzlich aber wurde sein Nachsinnen gewaltsam gestört durch den Fall eines ungeheuren Felsbrockens, der in das Meer stürzte. Als der Schöpfer aufsah, erblickte er den Teufel, der hohnlachend dem gewaltigen, von seiner Hand geschleuderten Block nachschaute. »Die Achse des neu entstandenen Erdballs soll brechen!« rief Luzifer, »der ganze Bau soll in Trümmer fallen, weil ich ihn hasse!«
Aber Gottes Liebe war stärker als der Haß des Bösen. Zwar[237] schwankte der Erdball und drehte sich, in seinen Grundfesten erschüttert, um die eigene Achse, aber des Herrn Hand gab dem Felsblock einen Halt im Meer, und sein Herz erbarmte sich des toten, starren Gesteins. Er segnete die wildzerrissenen schwarzen, überall wie unheimliche Riesen aus dem Ozean auftauchenden Berge und streute in die tiefen Täler den letzten Rest übriggebliebener Erde. Aber ach! Er begann mit diesem Werk der Barmherzigkeit im Süden, wo bald darauf hohe Bäume, grüne Wiesen und goldene Ährenfelder wuchsen, – für den Norden behielt er kein Körnchen Erde zurück.
Dennoch belebte der Segen des Weltschöpfers auch die kahlen, toten Felsen. Keine Blume blüht dort, keine Frucht reift und kein Vogel singt, aber in die ewigstarren Eisfelder setzte Gott ein Geschöpf, halb Kuh, halb Hirsch, das mit Milch und Butter, Blut, Fleisch, Fell und Sehnen die Menschen vor dem Hungertode bewahrt: das Rentier. Und alle Ströme, alle Seen und Flüsse, das Meer und die Fjorde füllte er mit Fischen.
Das ist Norwegen, das ist das Land hoch oben unter dem siebzigsten Breitengrad, wo auch Walfisch und Eisbär leben.
Abwechselnd schwarz und mit Eis überzogen ragen die Felsspitzen vom Meer bis zu den Wolken in hundertfachen Abstufungen hoch und immer höher empor. Hier schlägt die Brandung, grünlich schillernd, weißschäumend und gewaltig wie ein wildes Urweltgeschöpf, donnernd im sprungartigen Anprall gegen einen Felsen, der seit dem ersten Schöpfungstage die steinerne Brust flach und unbewehrt dem Toben des Meeres darbietet, der wie ein Kaiser im wallenden Mantel von Schnee und Eis stolz über seine Vasallen hinwegsieht und dessen Haupt die Sonnenstrahlen krönen.
Dort stürzen die Wellen, sich gegenseitig überholend und zurückdrängend, wie von Feinden getrieben, in regelloser Flucht durch die schwarzen, steinernen Säulen, unter deren Bogen ein verborgenes Echo wohnt, das spottend seit Jahrtausenden jeden Laut zurückwirft.
Wie die Ruinen und halb verkohlten Überreste einer zerstörten Riesenstadt, so ragen die zerrissenen, gespaltenen und vielgeformten Felsgipfel aus dem Meer hervor, wie ein starrer, steinerner Gürtel umgeben sie terrassenförmig das Land. Und über die höchsten Spitzen erheben sich schneebedeckt, unnahbar und ehrfurchtgebietend die fernen Gipfel der Riesenberge, blauverhüllt von. Dunst und Wolkenschleiern, vom Zauber der Sage geheiligt. – –[238]
Die Sonne schien hell herab, das Meer lag ruhig wie ein schlafender Riese, die Möwen schwebten mit weißen Flügeln über dem Wasser, und hoch oben in der reinen, eiskalten Luft zog ein Adler seine Bahn – –
Er schraubt sich tiefer und tiefer herab, er späht mit seitwärts gewandtem Kopf und zieht immer engere, kleinere Kreise – –
Was da unten die Wellen spielend emporheben, was sie bald der Küste zuführen wollen und bald von ihr wieder entfernen, das weiße, stille Gesicht mit der klaffenden Stirnwunde und den geschlossenen Augen, – ist es ein willkommener Fund, eine Beute für die kreischende Brut im unzugänglichen Felsennest?
Tiefer senkt sich der Raubvogel, noch tiefer – –
So bleich das Gesicht, so reglos die ganze Gestalt – der da auf den Wellen treibt, ist tot – –
Noch wenige Armeslängen, und der Adler packt mit scharfem Schnabel seine Beute. Schon schwebt er unmittelbar über dem Körper des Leblosen – –
Da fliegt ein schweres Holzstück sausend durch die Luft, das Raubtier stößt einen Schrei aus und taumelt empor in eiliger Flucht – –
Schwarze Arme teilen die Flut, ein dunkles Gesicht beugt sich über den Toten, und kräftige Hände tragen ihn an den Strand, auf das Bett von Felsen und Schnee.
Mongo, der alte Matrose, schüttelt den Kopf.
»Wenig Hoffnung«, denkt er, »aber doch will ich es versuchen, doch alles mögliche tun, bevor ich den armen Jungen seinem Schicksal überlasse!«
Und er entblößt die Brust des Bewegungslosen, er reibt mit. Schnee die starren Glieder, er walkt den ganzen Körper, wie der Bäcker den Teig, damit das verschluckte Wasser herauslaufe, er haucht den eigenen Atem zwischen die kalten Lippen –
Und endlich, nach langer, unermüdlicher Anstrengung hört er den ersten schwachen Seufzer, der das zurückkehrende Leben ankündigt. Ein Freudenstrahl überfliegt sein schwarzes Gesicht.
»Wo bin ich? – Wo sind die andern?«
Robert griff mit beiden Händen in den Schnee, wie um sich zu halten, um sich zu überzeugen, daß er wache. Seine Augen forschten gespannt in den Zügen des Negers. »Mongo«, fragte er »wo ist der ›Vogel Greif‹?«[239]
Der Schwarze schüttelte den Kopf. »Frage die Wellen, Bob, frage den Sturm. Jeder hat ein Teil davongetragen.«
Robert stützte sich auf die Ellbogen. In diesem Augenblick war selbst sein Trotz, sein unbesiegbarer Mut gebrochen. Wo noch vor kurzem das schwere, stattliche Schiff gelegen hatte, da dehnten sich die Wogen in blauer Unendlichkeit, wo ihn ein sicheres, festes Dach vor Sturm und Schnee beschützt hatte, da strich der Wind kalt durch sein Haar und über seine Glieder.
»Mongo«, flüsterte er, »sind wir die einzigen Geretteten?«
»Ja, Bob. Als ich zur Besinnung kam, da war alles fort, nur ein paar Trümmer schwammen auf den Wellen, und etwas weiter zwischen Klippen sah ich dich. Das übrige weißt du. – Ich fürchte, wir sind dem Tode des Ertrinkens nur entgangen, um jetzt zu verhungern«, fügte er hinzu.
Robert erhob sich mit schmerzenden Gliedern und versuchte einige Schritte zu gehen. »Nichts ist verloren, Mongo«, antwortete er, eine Zuversicht heuchelnd, die er in Wirklichkeit nicht besaß. »Auf, wir müssen in den Klippen nachsuchen, ob irgendwo ein Vorratsfaß oder einige Warfen an das Ufer gespült worden sind. Es waren Kisten voll Säbel und Pistolen an Bord.«
Mongo lächelte ungläubig. »Was wolltest du damit, Bob?«
»Gegen Feinde uns wehren, Mongo, und Beute machen, damit wir essen können. Laß uns suchen!«
Der Neger war zwar nicht überzeugt, aber er erhob sich doch und begann mit Robert die Klippen zu durchstreifen. Bretter, Bohlen und Planken, Stücke von den Kajütenmöbeln, Segeltuch und hundert andere Kleinigkeiten trieben auf den Wellen, aber es war nichts zu finden, das mit einer Waffe oder etwas Eßbarem die mindeste Ähnlichkeit gehabt hätte.
Stunde auf Stunde verging, die beiden eifrigen Sucher stillten den nagenden Hunger mit etwas Schnee, den sie im Munde schmelzen ließen, sie trösteten sich gegenseitig und durchstöberten unermüdlich jede Felsspalte, immer in der Hoffnung, doch noch irgend etwas Brauchbares zu finden. »Vielleicht hier«, rief Robert, sooft er in eine neue Vertiefung hinabsah, »es muß uns doch endlich gelingen.«
Aber nichts zeigte sich ihren forschenden Augen. Langsam brach die Dämmerung herein. Sterne erschienen am Himmel, der Mond erhob sich in festen, klaren Umrissen, aber nicht der[240] geringste Erfolg krönte die Bemühungen so vieler Stunden. Die beiden Schiffbrüchigen sahen sich fragend an.
»Was nun, Bob?« fragte kopfschüttelnd der Neger.
»Erst einmal fort von hier!« antwortete der junge Matrose.
»Vielleicht lebt hinter den nächsten Bergen ein Stamm der Küstenlappen, und wenn wir den erreicht haben, so ist wenigstens das Leben gerettet. Der Winter hat sich ausgetobt, Mongo, das Schlimmste ist überstanden, daher laß uns kämpfen, solange wir atmen.«
Der Schwarze antwortete nicht. Er ging an Roberts Seite landeinwärts über Klippen und Vorsprünge, durch Schluchten und Täler, bis sie in verhältnismäßig flaches Gelände kamen, wo sie leicht Fuß fassen konnten, und wo die Kälte weit weniger spürbar war, da hier der eisige, von Norden kommende Seewind keinen Eingang fand. Beide hatten sich zum Schutz gegen Raubtiere mit Trümmern von Schiffsplanken bewaffnet und wanderten schweigend weiter.
Mond und Sterne verbreiteten einen so hellen Schein, daß nur in den Schluchten der Felsen die Nacht ihr dunkles Recht geltend machen konnte. Zu weilen krächzte ein Raubvogel oder strich mit scheuer Hast ein weißer Hase vorüber, sonst war alles still.
Robert achtete genau auf die Pflanzenwelt. Daß hier in dieser nördlichen Zone nichts Genießbares wuchs, wußte er recht gut, aber das war es auch nicht, was er suchte.
In diesen Küstenstrichen nistet auf flachem Boden in den Ranken der kümmerlichen Pflanzen, besonders der wollblättrigen Weide, der große Eistaucher, dessen Eier in niederen Nestern ausgebrütet werden. Robert hatte gelesen, daß mit diesen Nestern manchmal ganze Flächen bedeckt sind, und daher war seine Hoffnung, wenigstens einige Vogelfamilien zu finden, durchaus nicht ganz unbegründet.
»Auf, Mongo«, sagte er, »jetzt werden wir Eier essen. Gib nur acht, bald ist der Tisch für uns gedeckt.«
Der Neger seufzte schmerzlich. »Mich friert«, entgegnete er. »Es ist schrecklich, so unter Eis und Felsen zu sterben!«
»Still, Mongo, wer denkt daran! Du mußt Mut fassen, Alter!«
Und Robert versuchte, den Schwarzen zum Sprechen zu bringen. Das würde ihn ermuntern, ihn neu beleben und die Wanderung durch Hunger und Kälte erträglicher machen. »Erzähle mir[241] einmal, wo du geboren bist, alter Seewolf«, fuhr er fort. »Natürlich in Afrika, wo die Sonne am stärksten brennt.«
Der Schwarze nickte. »Wer ich bin?« fragte er, halb traurig, halb triumphierend, »wer ich bin? – Der rechtmäßige König von Dahomey, mein Junge.«
Robert lachte, daß wenigstens sechs verschiedene Felsenechos lustig den Klang zurückwarfen. »Du ein König?« wiederholte er.
»Alle tausend Donnerwetter, da muß ja ein gewöhnlicher Sterblicher wenigstens zehn Schritte hinter dir gehen und dich Majestät nennen!«
Der Neger lachte gutmütig mit. »Du junger Spitzbube«, schmunzelte er, »du übermütiger Schlingel. Aber was ich gesagt habe, ist buchstäblich wahr.«
»Nun«, rief Robert, »und wie kamst du denn von deinem Bambusthron in die Matrosenjacke hinein?«
Der Schwarze schauderte, halb vor Kälte, halb in der Erinnerung an das, was er vor dieser Unglücksfahrt im Leben schon durchgemacht hatte. »Ich wurde mit Hunderten meiner Brüder als Sklave nach Nordamerika verkauft«, antwortete er.
»Als Sklave?« wiederholte der Junge. »Du Armer, wie kam das? – Erzähle doch davon! Wenn wir den Ernst und die Gefahren des Augenblicks vergessen, so werden wir die Wanderung viel leichter ertragen.«
Der Neger schüttelte den Kopf. »Die Wanderung ohne Ziel!« sagte er hoffnungslos.
»Das weißt du ja noch nicht, Mongo. Erzähle mir lieber, wie es in dem königlichen Palast in Dahomey aussieht. Kennt man überhaupt bei deinem Stamm Gesetz und Rechte?«
Der alte Neger schwieg längere Zeit. »Rechte?« sagte er dann. »Nein, Bob, das Volk hat keine, kennt und wünscht keine Rechte, nur der König herrscht nach Laune und Willkür zusammen mit den Priestern, die zwischen ihm und seinen Untertanen als Vermittler stehen. Siehst du, mein Junge, ich bin jetzt länger als dreißig Jahre ein Christ wie du, ich verabscheue natürlich die Grausamkeit und die zügellose Wildheit meines Volkes, aber dennoch geht mir das Herz weit auf, wenn ich an Afrika zurückdenke. Die Stadt, in der ich geboren wurde, heißt Abomey, und das königliche Haus meines Vaters war eine große, breite Halle aus Bambusstäben und Lehm, mit einem Dach aus Segeltuch. Zahme Strauße gingen majestätisch nickend auf und ab, junge Panther spielten mit mir im[242] Sande, und die zahlreichen Sklaven waren meine Pferde, auf deren Rücken ich spazieren ritt, sooft es mir Spaß machte. Ich trug als das Königskind von Dahomey an meinem Körper nur Seide und goldene Spangen, ich spielte mit den Schädeln erschlagener Feinde und schoß zum Zeitvertreib die auf Stangen gesteckten Köpfe hingerichteter Untertanen mit dem hölzernen Bogen herab.
Ach, Bob, du kennst Afrika nicht, das Paradies der Erde. Alles wächst dir dort entgegen, ohne daß du zu säen oder das Feld zu bestellen brauchst; die Bambusstäbe liefern dir das Dach, unter dem du schläfst, das Meer ist dein Badeplatz, die Sonne dein Feuer. Du brauchst als Kleidung nur einen Lendenschurz, du kennst keine Arbeit, keine Mühe und Sorgen; das Leben ist überall Genuß, nirgends ein Kampf. – Ach, es bedrückt mich doch, so in der Eiswüste zu enden, – es graut mir vor dem Norden mit seinem Frost und Sturm!«
Robert schüttelte abwehrend den Kopf. »Ich liebe den Norden, alter Mongo!« rief er, »ich liebe das Kalte und Großartige, – ich will säen, bevor ich ernte, ich will nichts geschenkt haben, sondern alles erringen und selbst verdienen. Siehst du, wenn jetzt ein gedeckter Tisch hier am Wege stände, dann könnte man sich wohl hinsetzen und die guten Dinge über den Schnabel nehmen, nicht wahr? – Aber schau her, es gehört schon ein bißchen Geduld und Verständnis dazu, aus diesen kleinen Brustfedern, die hier und da auf dem Boden liegen, auf Brutstätten der Eisvögel zu schließen. Gib nur acht, ich finde bald die Nester, und dann schmeckt das mühsam Gesuchte besser, als hätte es der Zufall hergeweht. – Horch, schrie nicht dort ein. Vogel?«
Der Neger faßte den Stock fester in die Hand. »Ein Tier war es jedenfalls!« sagte er.
Robert schlich auf den Zehenspitzen um den nächsten Felsen herum, und dann ertönte ein heller Freudenruf, dem ein Kreischen, Flattern und Piepsen von zahllosen Vogelstimmen folgte. »Hurra, Mongo, Hurra! Wenigstens tausend Nester, wenigstens dreitausend große Eier!« rief Robert. »Jetzt laß uns essen, und wenn jemals ein Abendbrot besser geschmeckt hat, als dieses aus rohen Eidottern, so will ich nicht Robert heißen. Lappland soll leben!« Er schleuderte, als er das erste Ei getrunken hatte, die zerbrochene Schale hoch in die Luft und machte sich über das zweite her. Der Neger folgte seinem Beispiel, so daß während der nächsten Minuten das Gespräch völlig stockte. Wenn eine der aufgeschreckten,[243] angstvollen Vögelmütter zu nahe herankam, so mußte der Stock helfen, und endlich sahen sich die beiden neu gekräftigt an.
»Hast du jetzt wieder Mut, Mongo?«
»Du bist ein Schlingel. Ich habe dir's ja schon früher gesagt.«
Robert lachte. »Wer schweigt oder die Antwort umgeht, der hat zugestimmt, wie du weißt, Alter. Jetzt nehmen wir noch ein paar Eier mit uns – aus jedem Nest eins, der armen Mütter wegen – und dann weiter.«
Er ging voran, eine lustige Seemannsmelodie pfeifend. »Komm, Mongo«, fuhr er fort, »rasch nach Afrika, dort ist es gemütlicher als hier in Lappland. Du hast mir den Palast beschrieben und deine Spielgefährten, zweibeinige und Vierfüßler; jetzt sei so gut, ein wenig von der Leibgarde zu erzählen. Gibt es Soldaten bei euch?« Der Neger lächelte, daß seine weißen Zähne hervorschimmerten.
»Amazonen, mein Junge, ein reguläres Korps von Weibern«, antwortete er. »Damit führte mein Vater Krieg und hat viele Schlachten siegreich gewonnen. Die tapferen Frauen sind, wie alle Einwohner des Königreichs, bis zum Gürtel unbekleidet, tragen aber an allen Gelenken, in Nase und Ohren, eine Unmenge Schmuck, Ketten und Spangen, Knöpfe, Glasperlen und Federn. Sie führen als Waffe einen kurzen Hirschfänger, den sie mit großer Geschicklichkeit handhaben. Ihre Musikinstrumente sind Trommeln und Pfeifen.
Wenn aber die alljährlichen Menschenopfer beginnen, so erfüllt diese eigenartige Garde erst ihre wahre Bedeutung. Der dazu bestimmte Tag fällt nach christlicher Zeitrechnung auf den sechsten Mai, und die Feier selbst ist wirklich bestialisch. Hast du starke Nerven, Bob, um das anhören zu können?«
Robert nickte lebhaft. »Aber Mongo, es sind ja keine Erfindungen, die du mir erzählen willst, sondern ein Stück Völkerkunde, etwas wirklich Wahres, also laß mich alles erfahren. Die Menschenopfer eines heidnischen Volkes können wohl nur scheußlich und bestialisch sein, glaube ich.«
Der Neger seufzte. »Ja, du hast recht, Bob«, antwortete er, »scheußlich ist das alles. Aber da es dein Wunsch ist, diese Dinge kennen zu lernen, so höre weiter. Das Fest, von dem ich sprach, wird zu Ehren Abomas, der großen Abgottsschlange, gefeiert, und zwar folgendermaßen. Der König, mein Vater, eröffnet selbst den Zug. Seine Kleidung besteht aus weiten türkischen Hosen, gelben Maroquinstiefeln, einer Unzahl verschiedenfarbiger seidener Halsund[244] Leibbinden und einem dreieckigen Hut mit wallenden Straußenfedern. Ihn umgeben seine Gardisten, ungefähr zweihundert gänzlich verwilderte, blutdürstige Weiber, und nun beginnt das eigentliche Opfer.
In einiger Entfernung von dem mit farbiger Seide und metallenen Zieraten reichgeschmückten Thron entfernt stehen hinter einer dornigen Hecke vielleicht fünfzig bis sechzig Gefangene, die schon vorher zum Tode verurteilt waren und die nun durch die Amazonen bis an den Thronsessel geschleppt werden. Bluttriefend, zerfetzt an allen Gliedern kehren diese entmenschten Furien mit ihren Opfern über die tausend spitzen Stacheln der Hecke zum Richtplatz zurück, und nun entreißt der König der ersten, die ihm ihren Sklaven zu Füßen legt, das Schwert, um damit auf einen Schlag dem Unglücklichen das Haupt abzuschlagen.
Ist erst einmal Blut geflossen, so beginnt eine Szene, wie sie grauenhafter nicht gedacht werden kann. Es scheint, als ob sich eine Art von Wahnsinn der Menschen bemächtigte, als ob die Grenze zwischen Mensch und Tier für den Augenblick niedergerissen worden sei. Fünf Tage lang dauert das Morden, wobei die Amazonen zuletzt das warme Blut ihrer Opfer mit Branntwein vermischen und trinken, während der gräßlich Verstümmelte noch lebend zusieht. Am sechsten Tage, nachdem Massen von Sklaven getötet worden sind, kehrt alles zur gewohnten Ruhe zurück.«
Robert hatte schweigend zugehört. »Das übersteigt wirklich alles Glaubhafte«, sagte er dann. »Ich begreife nicht, wie sich ein Volk von seinem Herrscher das gefallen lassen kann. Finden vielleicht noch andere Opferfeste statt?«
»Es gibt noch eine zweite heilige Schlange, Daboy genannt, und. diese fordert das Opfer einer einzigen, aber der schönsten Jungfrau des Landes. Alljährlich am ersten November erläßt der König einen Befehl, daß sein Injumann oder Oberpriester die Runde macht, um das unglückliche Mädchen, das getötet werden soll, auszuwählen. Während dieser Stunden darf kein Untertan das Haus verlassen, denn wer etwa dem Priester begegnen würde, der wäre des Todes schuldig. Das dumme, irregeleitete Volk löscht sogar aus Furcht, gesehen zu werden, das Feuer in den Hütten.
Um Mitternacht verläßt der Injumann einen geweihten Hain, dessen Betreten allen nicht zur geistlichen Brüderschaft gehörenden Negern auf das strengste untersagt ist. Seine Kleidung besteht aus[245] einem langen Mantel aus schwarzem Pelz, der bis auf den Fußboden herabfällt. Eine ebensolche Kapuze bedeckt den Kopf, der mit dieser mächtigen, spitz zulaufenden und übermäßig großen Haube genau wie die Schnauze eines Bären aussieht, – die Hände stecken in Tigertatzen, und vor dem Gesicht trägt er eine ganz weiße Maske mit überlanger, spitzer Nase.«
»Ha, ha, ha«, lachte Robert, der seine Heiterkeit nicht länger im Zaum halten konnte. »Der reine Polichinell, wie ich ihn in Hamburg habe auf der Straße reiten sehen, mit einem großen Knüppel bewaffnet und ebenso aussehend. Das ist darauf berechnet, den dummen Schwarzen Respekt einzuflößen! Nimm's mir nicht übel, Mongo, aber darüber muß ich wirklich lachen.«
Der Alte gab ihm einen scherzhaften Schlag auf die Schulter. »Tu dir keinen Zwang an, mein Junge«, sagte er gutmütig. »Ich weiß ja selbst, daß nichts anderes dahintersteckt und daß der Injumann meines Vaters ein großer Spitzbube war, ein Gauner, der sei nen Vorteil kannte und wahrzunehmen verstand. Er hatte auch, um für alle Fälle gerüstet zu sein, ein Gefolge von zehn Priestern, die ähnlich gekleidet waren und ihn auf Schritt und Tritt begleiteten. Diese schreckliche Schar findet auf ihrem Weg jede Tür weit geöffnet, um das schönste Mädchen aussuchen zu können. Sobald sich aber der greuliche Lärm, den alle elf auf trompetenartigen Instrumenten hervorbringen, von weitem hören läßt, fallen sämtliche Einwohner auf ihre Knie und verbergen das Gesicht im Sand. Wer es nicht täte, der wäre verloren.
So zieht der Injumarnn bis zum nächsten Morgen durch die Straßen, wobei er auch zur Wahrung seines Ansehens von Zeit zu Zeit ein paar Menschen ermordet. Bei Anbruch der Dämmerung packt er plötzlich das erkorene Opfer, um es in den geheiligten Hain, zu schleppen. Während er das zitternde Mädchen entführt, müssen die Eltern und sonstigen Angehörigen das Gesicht wie alle übrigen im Sand verbergen und dürfen durch keine Bewegung, keinen Laut verraten, daß sie überhaupt von dem ganzen Vorgang etwas bemerken. Auch am folgenden Tage scheint kein Glied der Familie das junge Mädchen zu vermissen, wenn nicht etwa, wie das häufig geschieht, Vater und Mutter mit der Ehre prahlen, die ihnen durch die Wahl des Injumanns zuteil geworden ist.
Am dritten Tage versammelt sich das ganze Volk und mit ihm der König am Ufer eines Flusses. Greuliche Musik begrüßt den Herrscher, das Opfer wird herbeigeführt, und der Injumann, jetzt[246] in gewöhnlicher Kleidung, naht von anderer Seite. Das Gesicht und der ganze Körper des unglücklichen Wesens sind bis zu den Fußspitzen herab mit Kreide dick bestrichen, so daß es selbst den Eltern unmöglich sein würde, ihr Kind zu erkennen. Mit langsamen, gemessenen Schritten bewegt sich das bebende Opfer bis zu einer Bank, an der es in hegender Stellung befestigt wird. Der Injumann nimmt neben ihm seinen Platz ein und scheint mit emporgewandten Blicken auf das Volk den Segen der Gottheit herabzuflehen, worauf nach einem einzigen Schwertstreich der Kopf des Schlachtopfers in den Fluß hinabrollt. Der blutende Körper wird sorgfältig unter dem höchsten Baum auf eine Matte gelegt, wo er bleiben soll, bis ihn die Göttin Daboy in das Land der Ruhe trägt. Tatsächlich aber – –«
»Bringen ihn die Priester schon in der nächsten Nacht beiseite, um dann dem Volk von einem Wunder erzählen zu können, nicht wahr?« fragte Robert.
»So ist es, Bob!« antwortete der Neger. »Aber trotz aller dieser Abscheulichkeiten, trotzdem – liebe ich Afrika. Unter seiner Sonne möchte ich begraben liegen. Es ist seltsam, aber je älter ich werde, desto heftiger packt mich das Heimweh.«
Stumm ging Robert neben seinem Gefährten lange Zeit dahin, bis er endlich leise fragte: »Und du warst nie wieder in deiner Heimat, Mongo?«
»Nie!« antwortete der Neger. »Nachdem ich dreißig Jahre lang Sklave gewesen war, hatte ich vom Christentum und dem Segen der bürgerlichen Welt zuviel gesehen und die Barbarei meiner Väter zu sehr verabscheuen gelernt, um jemals wieder in Afrika leben zu können, am wenigsten als König von Dahomey, dessen Thron aus den Schädeln Erschlagener aufgebaut ist, dessen Füße die Köpfe von Sklaven als Schemel benutzen und der alljährlich diese grauenvollen Opfer begehen muß. Ich bleibe meiner Heimat fern, – eben um des Heimwehs willen, so seltsam das auch klingen mag.«
Robert verstand den Alten vollkommen, und ernste Gedanken bewegten sich hinter seiner jungen Stirn. Wie vieles hatte er schon gelernt und manchen Irrtum eingesehen, obgleich er doch erst anderthalb Jahre von Hause fort war! – Er dachte an den strengen, unerbittlichen Vater in diesem Augenblick mit einer Art von Rührung. Der Alte hatte wohl gewußt, wie schwer es ist, sich den Weg durch das Leben selbst zu bahnen, er wollte keineswegs irgendein[247] launenhaftes Gelüst zur Geltung bringen, wenn er den Sohn hart anfaßte, sondern er hoffte und wünschte, dem einzigen geliebten Kind Sicherheit fürs Leben zu geben.
In den Augen des jungen Matrosen schimmerte es feucht, er legte den Arm um die Schultern des Negers. »Du, Mongo, wollen wir da hinaufklettern, hoch hinauf, wo der Felsgrat über dem Abgrund hängt – und uns hinunterstürzen? Dann hat alles ein Ende.«
Der Neger schüttelte den Kopf. »Du Wildfang, wie der Augenblick mit dir durchgeht! Bist du es etwa jetzt, dem die Beschwerden der Wanderung zu groß werden?«
Robert errötete. »Wirklich nicht, Mongo«, rief er, »aber du hattest mich mit deiner Erzählung ganz durcheinander gebracht. Warum ist im Leben alles so schwer und so unsicher? – Sieh, wenn ich ein Schneider geblieben wäre, bescheiden und anspruchslos, die Mütze in der Hand und den Buckel krumm, dann könnte ich ein gemachter Mann sein, der sich in vier engen Wänden die Welt erträumt, Taler auf Taler legt und endlich stirbt wie eine Pflanze, die der Herbst verweht – und wenn du nach Dahomey zurückkehren wolltest, so könntest du sogar König sein; – aber nun sag mir, warum es uns, gerade uns, von da forttreibt, wo uns das Glück erwartet! Kannst du das Rätsel lösen, Alter?«
Der Schwarze wiegte bedächtig den Kopf. »Ich glaube, daß ich es kann«, sagte er freundlich lächelnd. »Der Mensch soll sich überwinden lernen, das ist es.«
Robert schüttelte sich. »Du, das beklemmt die Brust!« antwortete er. »Paß auf, ich muß einmal richtig laut schreien, daß sich die alten Berge wundern, sonst ersticke ich!«
Er blieb stehen und streckte beide Arme aus, als ob er seinen Lungen den weitesten Spielraum verschaffen wollte. Dann wiederhallten die düsteren Bergesschluchten von einem langgedehnten Schrei, der als Echo noch minutenlang, erst stärker und dann immer schwächer, in der Ferne nachklang. – Unwillkürlich horchten die beiden Wanderer, als müsse doch eine Antwort zu hören sein.
Aber ringsumher schwieg alles. Der Wind fuhr kalt über kahle Höhen daher, sonst kein Laut, keine Lebensnähe.
Die beiden setzten ihren Weg fort. Immer mehr ging es bergan, immer steiler wurde der Pfad, immer spärlicher der Pflanzenwuchs. Endlich begann der Boden zu knistern und zu krachen, – das Eis war hier nicht geschmolzen, sondern bedeckte als harte Schicht den Felsen. Nur langsam konnten die Wanderer vorwärts kommen.[248]
Am Himmel erlosch Stern auf Stern, die kalte Luft schnitt förmlich in die Lungen der beiden und raubte ihnen fast alle Kräfte. Gesprochen wurde nicht mehr.
Der Neger berührte Roberts Schulter. »Dort hinter dem Felsblock laß uns einen Augenblick rasten«, sagte er mit matter Stimme. »Du bist jung, Freund, aber meine Glieder versagen fast den Dienst.«
Robert nickte stumm. Er ließ den Alten sich setzen und gab ihm das letzte Ei, das noch übriggeblieben war. »Erhole dich, Mongo«, sagte er. »Ich glaube, daß dort die Sonne aufgeht, – wir werden also wenigstens bald sehen können, in welcher Umgebung wir uns befinden.«
Er erkletterte den höchsten Gipfel und beobachtete von hier aus den Sonnenaufgang. Erst gelblich und dann in leichtes Rot übergehend, spielten breite Säume an den Wolkenrändern, wie Feuerschlangen, die weiter kriechend an Umfang zunahmen und deren Licht langsam anfing, nach unten hin die Gipfel und Felskämme zu erhellen, während die Schluchten noch im tiefsten Dunkel dalagen.
Spitze auf Spitze trat scharf hervor, hier wie ein Kirchturm, schlank und vereinzelt, dort wie ein kniendes Weib, und dort wieder wie eine mittelalterliche Ritterburg mit Zinnen und Türmen. – –
Immer tiefer drangen die goldenen Sonnenstrahlen. Überall Zacken an Zacken, wohin das Auge sah, überall Eis und Stein, wie gemeißelt die ganze Umgebung. Nur ein Adlerpaar schwebte fern am Wolkensaum, sonst war es, als läge der Hauch des Todes über dieser steinernen Welt. Kein Baum, kein Tier, keine Menschenwohnung, ja nicht einmal ein grünes Blatt erinnerte an das Leben.
Jetzt stand die Sonne hoch am Himmel. Robert wandte sich, um rückwärts zu blicken, und nun atmete er auf. Was dort hinten so blau und silbern glänzte, das war das Meer, das war seine geliebte – seine vergötterte Welt.
Lange blieb er so, dann aber, nachdem er sich überzeugt hatte, daß kein Schiff in der Nähe war, ging er zurück zu seinem alten Kameraden, der noch immer den Kopf an die Felswand lehnte und ihn mit trübem Lächeln empfing. Robert sah mitleidig, wie grau das früher so glänzende Schwarz des Negers geworden und wie geschwächt er war.
»Auf, Mongo«, sagte er ermunternd, »hier können wir nicht[249] bleiben, du weißt es, so gern ich dich auch schonen möchte. Sieh, das dort ist das Eismeer, also die Nordgrenze von Lappland, demnach führt der Weg durch diesen Engpaß nach Süden. Wir müssen ihn verfolgen, damit uns Wanderlappen begegnen, denen wir uns auf ihrem Zug nach den Lofoten anschließen können. Komm, Mongo!«
Der Schwarze erhob sich nickend. »Du hast recht, Bob«, antwortete er, »obwohl ich doch nicht glaube, daß es uns etwas nützen wird. Aber zuerst, mein junger Freund – ist heute Sonntag!«
Er nahm das Taschentuch, das er an Stelle der verlorenen Mütze um den Kopf gewunden hatte, ab, und Robert tat dasselbe. So standen die beiden und sahen vom Felsen herab stumm in das schweigende, steinerne Tal zu ihren Füßen. Vielleicht dachten sie kaum ganz bewußt, dachten keine Worte, keine Gebete, aber dennoch hörten sie ein Klingen wie von Kirchenglocken, doch wendeten sich ihre Blicke langsam zur Sonne, und ein stiller, tiefer Friede kam über beide. – –
Robert lächelte dem Alten entgegen. »Komm«, sagte er, »nun geht's bergab. Das wird dir leichter werden.«
Mongo antwortete nicht. Nachdem die bunten Turbane geordnet waren, zogen beide Wanderer durch einen schmalen, steilen Felsenpaß, dessen beide Seiten sich manchmal über ihren Köpfen berührten, in das Tal hinab und sahen nun eine weite Ebene vor sich. Die Vegetation zeigte hier wieder Unmassen von Rentierflechten, aber auch schon einige kleine verkrüppelte Gebüsche, die Robert als Kiefern erkannte. Er suchte zu seinem heimlichen Bedauern vergebens unter allen Ranken nach Vogelnestern, – es fand sich kein einziges.
»Mongo«, erinnerte er, »du bist gestern mit deiner Erzählung im Rückstand geblieben. Wie gerietest du in die Sklaverei der Amerikaner?«
»Durch den Krieg«, antwortete der Neger. »Ich war vielleicht vierzehn Jahre, als uns ein feindlicher Stamm überfiel und in einer einzigen Schlacht zu Grunde richtete. Mit etwa vierzig oder fünfzig anderen Gefangenen, Männern und Frauen, wurde ich nach Lagos geschleppt, wo ein Sklavenschiff bereit lag, uns nach Amerika zu bringen.«
Robert horchte auf. »Mongo, du sagst ein ›Sklavenschiff?‹ – Gab es denn Fahrzeuge, die für den Menschenhandel ganz besonders eingerichtet waren?«[250]
Der Schwarze nickte. »Ja, mein Junge. Die Kostbarkeit der Ware erforderte eine sehr sorgfältige Behandlung. Auf keinem Fahrzeug der gesamten Handelsmarine herrschte solche Sauberkeit und Ordnung, wie auf einem Sklavenschiff. An jedem Morgen mußte das Deck mit Sand und Steinen abgekratzt werden, dann ließ der Kapitän alle Sklaven einzeln an sich vorübergehen und bewachte selbst die regelmäßigen Mahlzeiten seiner lebendigen Fracht. Es gab auch täglich Rum, um Skorbut zu verhüten, aber von irgendeiner Freiheit, von Menschenrechten konnte natürlich keine Rede sein.«
Robert horchte atemlos. Er vergaß Hunger und Einsamkeit, um seiner ganzen Entrüstung Luft zu machen. »Und dafür fanden sich Seeleute?« rief er. »Sie ließen sich wohl auch noch für ihr Schweigen bezahlen?«
»Das will ich meinen, Bob. Die Matrosen eines Sklavenschiffes müssen Henkersdienste tun und dürfen, keine zartfühlenden Menschen sein. Zuerst wird an Bord des Schiffes der Sklave vollständig entkleidet und das Haar glatt abrasiert, dann bringt man die Männer in den Schiffsraum und die Weiber in die Kajüte, während sämtliche Kinder an Deck bleiben, wo ihnen als einziger Schutz gegen das Wetter ein Stück Segeltuch gespannt wird. Je zehn müssen immer aus einer Schüssel essen, und zwar nach einem bestimmten Verfahren, um eine ungleiche Verteilung zu vermeiden. Auf einen Wink des wachhabenden Matrosen dürfen sie zugreifen und bei einem zweiten schlucken. So wiederholt sich das Verfahren, bis alle satt sind. Es kommen aber auch Fälle vor, wo sich einzelne in der Absicht des Selbstmordes weigern, das Essen anzurühren, und diese werden dann scharf beobachtet. Meldet der Aufpasser, daß die Krankheit erfunden ist, so beeilt man sich, den scheinbar verlorenen Appetit durch die neunschwänzige Katze wieder herzustellen, scheint aber der Sklave tatsächlich leidend zu sein, so kommt er auf die Krankenliste, das heißt, man hängt ihm eine Schnur mit einem Knopf um den Hals und schickt ihn in das Vorderkastell.
Wenn alle gegessen haben, so müssen sie die Hände und das Gesicht in Seewasser waschen, außerdem reinigt man ihnen dreimal wöchentlich das Innere des Mundes mit Weinessig, ebenso werden die Männer rasiert und allen die Nägel geschnitten, weil sie fast dauernd, besonders nachts, miteinander kämpfen.«
Robert hob fragend den Blick. »Aber weshalb, Mongo? Diese Männer hätten zusammenhalten müssen, alle für einen und einer[251] für alle, dann wäre es ihren Peinigern weniger leicht geworden, sie zu Sklaven zu machen!«
Der Neger schüttelte den Kopf. »Sie waren damals, vor beinahe vierzig Jahren, nicht viel besser als Tiere«, antwortete er, »sie ließen sich mißhandeln, ohne mehr als einige seltene, von Mischlingen angefachte Aufstände zu wagen – Männer konnte man diese entnervten Geschöpfe nicht nennen. Wie sie vor dem Injumann ihrer Heimat die Gesichter im Sande versteckten, so beugten sie vor den Weißen das Haupt und ließen sich zur Schlachtbank führen wie zahme Schafe oder Gänse, die dem Tod wehrlos entgegengehen.«
Robert klopfte vertraulich auf die Schulter des Alten. »Armer Mongo«, sagte er, »und das alles hast auch du erduldet?«
Der Neger lächelte. »Das Bob? O, ich sage dir, daß es nichts war, sich auf dem Sklavenschiff allnächtlich zu halber Länge zusammenzukrümmen, des beschränkten Raumes wegen, daß es nichts war, sich mit dem Eisenring um den Hals an die Decksplanken schließen zu lassen und am Tage mit noch einem andern Unglücksgefährten zusammen an eine fußlange Eisenstange geschmiedet zu sein, die es weder ihm noch mir erlaubte, eine schnelle, unbedachte Bewegung zu machen, – nichts gegen das, was ich später erlebte.«
»Ach«, rief Robert, »nachdem du verkauft worden warst, Mongo?«
»Ja, Kind, dann. Als junger Bursche in deinem Alter, kräftig, sorglos, unbekümmert um die Zukunft, ertrug ich alle Strapazen des ungewohnten Lebens, ohne mir viel daraus zu machen, wechselte oft meine Herren, weil immer hohe Preise für mich bezahlt wurden, und erwarb mir überall Freunde, – aber später kam das Unglück. Wirst du mir glauben, Bob, daß ich vier Kinder habe, – auch einen Jungen in deinem Alter! – und daß sie mir zusammen mit meiner Frau aus dem Hause weg verkauft wurden, während ich machtlos zusehen mußte, wie man sie fortschleppte, die armen Unglücklichen, Hilflosen!«
Robert stand still. Seine Augen flammten vor Zorn. »Mongo!« sagte er, »Mongo, und du schlugst nicht alles tot, was dir in den Weg kam? Du ließest dir die Deinen rauben, ohne sie zu verteidigen?«
Der Neger seufzte. »Lieber Bob, das kennst du nicht!« antwortete er. »Mit mir litten noch sechzehn andere brave Männer das gleiche Schicksal, und selbst unser Herr, ein guter, menschenfreundlicher Mann, ging an diesem Tage blaß und traurig umher,[252] aber er konnte nicht anders handeln als er tat, die bestehenden Verhältnisse zwangen ihn zu der unvermeidlichen Grausamkeit, die seinem Herzen ganz fern lag. Ich würde ihm heute noch die Hand drücken, wenn er mir begegnen sollte.«
»Mongo, dem Mann, der dir Frau und Kinder verkaufte?«
»Ja, Bob, ja! Es geht im Leben nirgends mit dem Kopf durch die Wand, das habe ich dir schon so oft gesagt, – der Mensch muß es lernen, sich in das Unabänderliche zu fügen.«
»Sieh«, fuhr er fort, »wir lebten auf einer Farm, etwa zehn Meilen von New Orleans entfernt, und unser Herr behandelte uns gut, vielleicht zu gut sogar, er achtete in seinem Sklaven den Mitmenschen und war der menschenfreundlichste, liebenswürdigste Grundbesitzer der ganzen Umgebung. Jeder Neger hatte seine Hütte und sein Gärtchen, jeder durfte es wagen, frei und offen mit der Herrschaft über alles das zu sprechen, was er wünschte und worüber er sich mit Recht beklagen zu können glaubte – aber eben deshalb war auch dieser gütige und gerechte Mann von allen benachbarten Gutsherren gehaßt. Als ihn mehrere Mißernten und verschiedene Überschwemmungen in Geldverlegenheiten brachten, da fand er alle Türen verschlossen, bis endlich ein Wucherer ihn in die Krallen bekam und das schöne Grundstück mit sämtlichem toten Inventar gegen eine Fabrik in der Stadt vertauschte. Was half also alle Trauer, alle Verzweiflung, – das lebende Inventar, nämlich die Sklaven, mußte unter den Hammer, um die Umzugskosten und die der ersten Einrichtung zu decken. Wir Männer waren für die Fabrikarbeit bestimmt, aber mit den Frauen und Kindern konnte man in der Stadt nichts anfangen, also wurden sie verauktioniert. O, Bob – das war ein fürchterlicher Tag, und mehr als einmal habe ich während dieser Stunden bei mir gedacht, daß es eine schreckliche, aber gerechte Wiedervergeltung sei für die Menschenopfer von Dahomey!
Was meine Väter viele Menschenalter hindurch ihren Untertanen zugefügt hatten, das wurde jetzt gerächt – es war zum Sterben traurig, Bob, aber doch noch besser, als wäre ich regierender König geworden und hätte Leid über andere Menschen gebracht! –
Unser Herr berief uns alle zu sich. Er war so blaß wie eine frischgetünchte Wand, als er das schreckliche Urteil ausgesprochen hatte. ›Ihr wißt es, Leute‹, sagte er, ›ich kann nicht anders. Ich würde in Gottes Namen Konkurs erklären und als Squatter im Urwald neu wieder anfangen, wenn ich damit so viele Familien vor Leid[253] und Unglück bewahren könnte, aber was würde das nützen? Meine Gläubiger verkaufen euch doch.‹
Niemand antwortete ihm, denn da war kein einziger, der nicht gewußt hätte, daß der arme Mann die Wahrheit sprach. Einen Eigentümer mußte damals jeder Sklave haben, so gut wie jedes Haustier, wie jeder Gegenstand irgend jemand gehören muß. Es erhob sich keine Stimme, kein Widerspruch, nur ein verhaltenes Schluchzen hörten wir, – das kam von einem, der mit seiner alten Mutter zusammenlebte und der es nicht ertragen konnte, ruhig an den Verkauf der gebrechlichen alten Frau zu denken. Unser Herr legte seine Hand über die schmerzende Stirn. ›Wenn ihr mich tötet‹, sagte er, ›wenn ihr mich nicht lebend aus eurer Mitte laßt, – so kann ich das begreifen.‹
Und da tat es mir im Herzen leid um den unglücklichen Mann, Bob. Ich ging zu ihm, der immer gütig und freundlich gewesen war, und gab ihm die Hand, ein Mensch dem andern. Und alle meine Brüder taten dasselbe.«
»Mongo, Mongo, – ich hätte ihn zwischen meinen Fäusten erwürgt!«
Der Neger sah ruhig in die glänzenden Augen seines jungen Gefährten. »Weil du noch keine Besonnenheit kennst, Bob, weil du bis jetzt nur das für wahr und echt hältst, was sich wie ein Wirbelsturm Bahn bricht«, antwortete er. »Glaub mir, ich fühlte es tief genug, als sich mein Weib und meine Kinder zum letztenmal an mich hingen, aber ich trug das für mich allein, Bob, ich machte weder den Meinen, noch dem armen Herrn das Herz schwerer, als es ja schon war.«
Robert verstummte vor dieser Seelengröße des armen alten Negers. »Er ist mehr Fürst, als er selbst ahnt«, dachte er. »solche Gesinnung muß man wahrhaft königlich nennen.«
»Hast du die Deinen nie wiedergesehen, Mongo?« fragte er nach einer Pause.
»Meine älteren Söhne!« antwortete der Neger. »Sie haben mich, als später der Bürgerkrieg ausbrach, aufgesucht und dann Seite an Seite mit mir für die Freiheit des schwarzen Volkes gekämpft. Sind beide an einem Tage gefallen, die armen Jungen – ich selbst habe sie begraben.«
»Armer Mongo! – Und deine anderen Kinder, deine Frau?«
»Der Jüngste lebt. Ich sagte ja, er ist in deinem Alter und fährt zur See wie wir. Von meiner Frau und meiner Tochter habe ich[254] nie wieder gehört. Sie sind damals nach Matanzas verkauft und meinen Nachforschungen ganz entzogen worden.«
»Aber Mongo, wie ist es einem Menschen möglich, das alles so ruhig zu ertragen? Ich an deiner Stelle hätte – –«
Der Neger lächelte. »Nun, kleiner Bob, was hättest du?«
»Ich weiß es nicht!« gestand Robert. »Aber sicher ist es, daß ich niemals lernen werde, ein Unglück oder etwas, das sich meinen Absichten gerade in den Weg stellt, mit Ruhe oder sogar mit Ergebung zu tragen.«
Mongo sah ihn gutmütig spottend an. »Wollen es noch nicht aufgeben«, antwortete er. »Die Zeit ändert vieles und macht aus jungen Brauseköpfen ernste, verständige Männer. Wir müßten allerdings erst einmal wieder aus dieser Einöde heraus und unter Menschen sein, bevor es überhaupt möglich ist, an irgend etwas anderes zu denken. Findest du nicht, daß der Boden allmählich an Festigkeit verliert?«
Robert erschrak. »Mongo«, stammelte er, »du hast recht. Was bedeutet das?«
Der Neger blickte sorgenvoll über die endlose Niederung. »Es ist ein Sumpf in der Nähe!« antwortete er. »Wir gehen ihm entgegen, furchte ich.«
»Mein Gott, – was soll dann aus uns werden?«
Der Neger schwieg, und beide gingen vorwärts. Immer unsicherer wurde das Erdreich unter ihren Füßen, bis endlich ein weiteres Vordringen unmöglich war. Robert schleuderte einen Stein etwa zwanzig Schritte weit voraus, und schon dort spritzte der Schlamm hoch auf.
»Was nun?« dachte er unwillkürlich.
Mongo prüfte bedächtig beide Seiten des langgestreckten Tales. Zur Linken die steile Felsenkette mit himmelhohen Spitzen, zur Rechten niedere Anhöhen, zerklüftet und unwegsam, aber doch die einzige Aus sicht auf einen festen Fußpfad, der sich wenigstens betreten ließ, ohne plötzlich unter den Schritten der Wandernden zu versinken.
»Dorthin müssen wir uns wenden!« sagte er. »Es ist fast aussichtslos, fürchte ich, aber dennoch – laß uns das letzte versuchen.«
»Wie mich der Durst quält!« seufzte Robert. »Was gäbe ich um eine Handvoll von dem Schnee, der dort oben liegt!«
»Mir wäre ein Fuhrwerk lieber«, versuchte der Neger zu scherzen. »Die alten Beine wollen nicht so recht weiter, besonders wenn[255] man Seemann ist, der immer nur im Vorschiff wie auf einer Präsentierschüssel umherstelzt, ohne die Kräfte anders als mit den Fäusten zu üben.«
Inzwischen suchten die beiden Verirrten den Rand des Sumpfes, um auf kürzestem Wege in das jenseitige Felsengebirge hinüberzugelangen. Ihre Richtung verlor dadurch den südlichen Strich und wurde etwas westlich, aber das ließ sich nicht ändern, weil ihnen keine andere Wahl blieb. Nach stundenlangem Klettern, Überspringen und Ausbiegen war endlich ein Zugang gefunden, und die beiden Wanderer nahmen ihre alte Richtung wieder auf, ohne zu wissen wohin.
Der Hunger quälte beide, die Schwäche des Negers wurde immer größer und die Beschwerden des Weges von Viertelstunde zu Viertelstunde unerträglicher. Manchmal öffnete sich unter ihren Füßen plötzlich die Erde, und ein Felsspalt, ins Bodenlose hinabgähnend, zeigte sich, dann wieder schoß springend und stäubend ein Gießbach rechts oder links über die Klippen herab, fast ihren Lippen erreichbar, nur auf wenige Meter von ihnen getrennt, aber durch eine Kluft von schwindelnder Tiefe. Robert beugte sich halb verzweifelt vor, so weit es ihm irgend möglich war, er suchte mit den Händen das Wasser zu erreichen, aber ganz vergeblich. Der Wasserstaub befeuchtete sein Gesicht, während er vor Durst gerade durch die Nähe des Wassers rasend wurde.
»Es ist vergeblich«, seufzte er. »Laß uns weitergehen, Mongo, ich kann den Bach nicht sehen, ich sterbe beinahe vor Durst.«
Der Alte richtete sich aus seiner zusammengesunkenen Haltung wieder auf. »Daß dich nach dem kalten Wasser so verlangt«, murmelte er, »ich begreife es nicht. Mir wäre ein bißchen Wärme viel lieber. Hu, wie kalt es hier oben ist.«
Wieder ging es vorwärts, ohne daß weiter gesprochen wurde. Es schien, als sei die Lage zu ernst, zu unerträglich, um noch eine Unterhaltung zuzulassen. Nur manchmal hustete der Schwarze, wenn ein neuer Windstoß, kälter als die früheren, über den Höhenkamm daherfuhr.
Die Sonne begann hinter den Bergen zu versinken. Robert dachte mit Grauen an den Einbruch der Nacht und an die Notwendigkeit, diese langen, düsteren Stunden frierend und hungernd auf den Steinen zu verbringen. Ihn schwindelte bereits, sein Kopf schmerzte, und der Wunsch, um jeden Preis zu schlafen, wurde immer stärker. Er hätte die Augen schließen und alles um sich herum vergessen mögen.[256]
»Wärme!« ächzte Mongo, »ach, Wärme! Ich kann nicht weiter.«
»Wasser, Wasser, – meine Zunge klebt am Gaumen.«
»Laß uns eine Stelle suchen, wo wir sitzen können«, flüsterte matt der Neger. »Meine Füße tragen mich nicht mehr. Oder nein, Bob, geh du allein weiter, geh in Gottes Namen, mein Kind, und überlaß mich dem Tode, der schon seine Arme nach mir ausstreckt. Du sollst nicht bei mir bleiben, hörst du?«
Robert schüttelte den Kopf. »Nein, Mongo, niemals. Ehe ich dich verlasse, sterben wir beide zusammen. Nein, keine Macht der Welt ändert diesen Entschluß.«
Der Alte blieb erschöpft stehen. »Wie plötzlich das kommt«, murmelte er. »Ich kann unmöglich weitergehen, Bob.«
Robert zog den Arm des Negers unter den seinen. »Dort sehe ich eine Art Vorsprung oder Plattform«, sagte er, »komm, Mongo, stütze dich auf mich. Wir wollen langsam hingehen.«
Schritt für Schritt den taumelnden alten Mann führend, gelangte er zu einer Art Terrasse oder natürlicher Bank, vor der sich ein breiter Felsspalt öffnete. Was auf der andern Seite lag, war schwarzer, verwitterter Fels mit zahllosen Schluchten und Höhlungen, deren tiefes Dunkel ihm unheimlich entgegengähnte.
Robert kümmerte sich nicht mehr darum. Er selbst war weit entkräfteter, als er dem Alten zugestehen wollte, und auf seinen Augenlidern lastete es wie Blei. »Das ist der Tod«, dachte er. »Hunger und Kälte drohen uns zu besiegen. Oh, es wäre schrecklich, hier zwischen nackten Felsen zu sterben, von aller Welt verlassen – den Raubtieren zur Beute.«
Mongo legte die todkalte Rechte auf seines jungen Freundes Schulter. »Bob«, sagte er noch einmal, »Bob, geh fort. Du mußt leben, weil du jung bist, um deiner Zukunft, deiner Eltern willen. Geh, weshalb willst du mich sterben sehen? – Noch bist du nicht hungrig genug, um mein Blut trinken zu können. – Geh! – Geh! –«
Robert schluchzte, ohne es zu wissen, aus Schwäche. »Dein Blut, Mongo? Großer Gott, sprich nicht so schreckliche Worte! – Ich sterbe mit dir, oder wir – –«
Er unterbrach sich plötzlich selbst. »Mongo, was ist das? – Ein Schatten, der sich bewegt, dort, – dort!«
Seine ausgestreckte Hand deutete auf den gegenüberliegenden Felsen. »Sieh, Mongo, ich bitte dich, sieh!«
Der Neger öffnete gleichgültig die Augen. Ein matter, seelenloser Blick streifte die bezeichnete Richtung. »Wo, Bob, ich sehe nichts?«[257]
Im nächsten Augenblick sanken die Wimpern bereits schwer wieder herab. Seine Lippen bebten wie die eines bewußtlosen Fieberkranken.
Roberts Herz klopfte schneller. Dort drüben bewegte sich ohne Zweifel ein lebendes Wesen. Schatten zuckten auf und verschwanden, er sah es deutlich – und er sah sogar noch mehr, – den Kopf eines Tieres mit geöffnetem Maul und lechzender Zunge, – er hörte ein heiseres Schnaufen –
»Mongo, Mongo, ein Wolf!«
Er konnte sich nicht mehr um den Alten kümmern. Langsam erschien jetzt hinter der Felsenecke auf der andern Seite der breiten Kluft die hagere, langgestreckte Gestalt des Raubtieres. Der dicke, unförmige Kopf, die falschen, schiefstehenden Augen, besonders aber die heiße, rote Zunge verrieten den schlauen Feind, der nur von äußerstem Hunger getrieben werden kann, einen lebenden Menschen anzufallen, der dann aber auch alles daransetzt und unerbittlich sein Opfer verfolgt, bis er es gepackt und überwältigt hat.
Das Tier mußte halb verhungert sein, denn es bestand fast nur noch aus Haut und Knochen. Das fahlgelbe, ins Weißliche spielende Fell hing ihm schlotterig um die Rippen, und der lange behaarte Schweif schleppte am Boden.
Fast schien es, als sei das Tier im Begriff, zum Sprung anzusetzen, dann aber zog es sich plötzlich zurück, als ob es fürchtete, daß für die weite Entfernung seine Kraft nicht ausreichen werde. Es stieß ein kurzes, dem Hundegebell ähnliches Kläffen aus und beobachtete die beiden unerwarteten Gäste seines Felsengebietes.
Robert hatte alle seine Geistesgegenwart beisammen. Er maß in Gedanken die Breite der Kluft und fragte sich, ob der Angriff wahrscheinlich sei. – Wenn das Tier glücklich herüberkam, dann war er verloren, dann gab es gegen diese fürchterlichen Zähne keine Waffen.
Natürlich, er hätte fliehen können, aber dann mußte er den hilflosen Alten im Stich lassen. Doch der Gedanke lag ihm völlig fern. »Nie, nie, und wenn ich in der nächsten Minute von den Fangzähnen des Tieres in Stücke zerrissen werde!«
Fast schien es, als sollte es so kommen. Der Wolf trat an den äußersten Rand des Felsens, setzte Vorder-und Hinterläufe so nahe wie möglich nebeneinander und duckte sich zum gewaltigen Sprung. Ihn trieb der nagende Hunger, selbst das Aussichtsloseste[258] zu unternehmen, um nur überhaupt etwas für die knurrenden Eingeweide zu erjagen.
Robert wurde immer ruhiger, je näher der entscheidende Augenblick herankam. Er wußte, was ihm allein übrig blieb, wenn der Wolf den Sprung wagte, und er war entschlossen, sein eigenes und Mongos Leben so teuer wie möglich zu verkaufen.
Seine Fäuste waren geballt, seine Augen begegneten dem Blick des Raubtieres.
Da erhob sich der Wolf, wie es schien zögernd, mit innerem Widerstreben zum Sprung. Im nächsten Augenblick schwebte die dürre, gelbe Gestalt über dem Abgrund in der Luft.
Das war es, worauf Robert gewartet hatte. Mit aller Kraft warf er die linke Faust der Bestie entgegen, während er sich selbst mit der Rechten an den Felsen klammerte. Hätte der Wolf mit Krallen oder Zähnen die andere Seite erreichen können, so würden ihn selbst die vereinten Kräfte mehrerer Männer von dort nicht wieder vertrieben haben, während bei dem übermäßig weiten Sprung schon der Stoß von Roberts Faust genügte, um das Tier aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Sekundenlang drehte sich, mit allen Gliedern arbeitend und ringend, das große Tier in der Luft, dann stürzte es mit dumpfem Poltern, hier und da aufschlagend oder die Wände streifend, hinab in das Bodenlose. Robert hörte ein kurzes Ächzen, einige röchelnde Töne, – und darauf wurde alles still.
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, der trotz des eisigkalten Windes in großen Tropfen daraufstand. Er fühlte, daß er taumelte, daß sich alles um ihn drehte. Und was war das? – Was lief ihm warm über die linke Hand herab?
Blut! – Ganze Ströme von Blut. Eine tiefe Fleischwunde zog sich über die obere Fläche der Hand hin, vielleicht von den scharfen Felszacken gerissen, vielleicht von den Zähnen des wütenden Tieres.
Robert sah sich rasch nach dem Alten um. Was hatte vorhin der Neger gesagt: »Mein Blut möchtest du ja doch nicht trinken!« Das fiel ihm jetzt plötzlich wieder ein. Vielleicht ließen sich dadurch die schwindenden Kräfte des Verhungernden zurückhalten, vielleicht konnte Mongo noch schlucken und sich erholen.
Er trat zu dem Betäubten, legte dessen Kopf in seinen rechten Arm und ließ von der Wunde der linken Hand das Blut auf die halbgeöffneten Lippen träufeln. Schon bei den ersten Tropfen[259] sah er, wie Mongo begierig sog, aber offenbar ohne Bewußtsein, was um ihn herum geschah.
»Es ist gut«, dachte Robert, »daß mich der Wolf ein wenig geschrammt hat. So konnte ich dem armen Mongo doch noch einen letzten Dienst erweisen. Wir werden nun beide schlafend erfrieren. Aber mich freut es doch, daß ich den Wolf tötete, – es muß gräßlich sein, lebend von Zähnen und Krallen zerrissen zu werden.«
Nachdem die Wunde ausgeblutet war, ließ er den Kopf des Negers sanft gegen die Felsenlehne zurücksinken und suchte selbst eine etwas bequemere Stellung. Mongos Lippen bewegten sich. »Das war gut«, murmelte er, »ach, so warm. Nun möchte ich schlafen.«
Robert lächelte, während ihm sein Herz schwer wurde. Er nahm in Gedanken Abschied von allen, die er liebte. Morgen mit Tagesanbruch würde er tot sein, er fühlte es, und der nächste Wolf, der dann des Weges kam, würde zwei Leichen zum Fraß vorfinden.
Hin Schauer überrieselte ihn. Gab es denn keine, – keine Rettung?
Nein, es war alles verloren. Schon der Versuch, aufzustehen und einige Schritte zu gehen, mißlang vollständig. Sobald er sich erhob, drehten sich Felsen und Klüfte, ja selbst die Sterne am Himmel im Kreise herum.
Und dabei fühlte er weder Frost noch Hunger, nur eine unbeschreibliche Mattigkeit, ein Verlangen nach Schlaf, das fast bis zur Betäubung gesteigert war. Er schloß die Augen und faltete die Hände. »Vater im Himmel, dir befehle ich meine Seele, – vergib mir meine Schuld und laß mich – selig auferstehn – – –«
Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Er fühlte sich wie auf Flaum gebettet, wie getragen, und aller Druck war von seiner Brust genommen. Tönten nicht dort durch die Stille des Abends leise Glöckchen? Bewegten sich nicht dunkle Schatten durch den Felsenpaß auf ihn zu?
Ein halblauter Anruf durchdrang die Luft. Wie Gespenster verschwanden die nächtlichen Gestalten, – nur ein leises Knacken war rings in den Felsspalten zu hören.
Robert lächelte. Er wußte es jetzt, ihm hatte von der ganzen grauenvollen Wanderung durch die Steinwüste nur geträumt, – er war nicht einsam, nicht verlassen, sondern Menschen beugten sich über ihn, faßten seine Hände und redeten in fremder Sprache. Er wurde aufgehoben, ein scharfer Geruch drang in seine Nase, und heiß wie fließendes Feuer lief Branntwein durch seine Kehle hinab.[260]
Auf flüchtige Augenblicke erwachte er ganz. Im Sternenschein sah er kleine, dunkelhäutige und seltsam in Rentierfelle gekleidete Menschen um sich herum versammelt, er hörte, daß sie miteinander sprachen und fühlte die Wärme des eingeflößten Branntweins alle seine Adern durchrieseln.
»Das sind wandernde Lappen«, dachte er glück lich, »gottlob, wir sind gerettet!«
Und dann konnte er dem Schlaf nicht länger widerstehen – –
Als er erwachte, strahlte die Sonne hell vom Himmel herab. Ein Dach aus Rentierfellen wölbte sich über seinem Kopf, Felle lagen unter ihm und auf ihm, während Mongo an seiner Seite ebenso weich gebettet noch fest schlief. Der Alte atmete ruhig, seine Farbe war nicht mehr so grau, sein ganzes Aussehen besser.
Robert schob die Felle zurück und erhob sich, um mehr zu erfahren. Als er durch eine Spalte der Zeltbahnen hinaustrat ins Freie, drohten zwar seine Füße noch den Dienst zu versagen, aber er überwand diese Schwäche und blickte um sich. Ein vollständiges Zeltlager der Wanderlappen lag vor ihm. Überall waren auf starke Pfähle die Rentierfelle gespannt, überall wimmelte es von den braunen Gestalten, die hin- und herliefen, um auf heißen Steinen ihre Mehlkuchen zu backen, die Rentiere zu beaufsichtigen oder zu melken und sie dann hinunterzutreiben in das Tal, wo Rentierflechte und Moos wuchsen, das sich die klugen Geschöpfe selbst suchten.
Nur ein mächtiges, großes Tier, ein Sechzehnender mit mehreren Glöckchen um den schlanken Hals, stand festgebunden neben einem Zelt, das etwas größer war als die übrigen. Dieses Ren schien gegen alle sonstige Gewohnheit als Reittier zu dienen, denn auf seinem breiten Rücken lag ein Sattel aus Leder und Wollzeug. An den Zeltstangen hingen Zügel, Peitsche und verschiedene Geräte, während alles nach großer Armut aussah. Die Kleidung schien bei Männern und Frauen gleich zu sein; sie bestand überall aus einem langen Pelzrock, der enge Beinkleider, ebenfalls aus Pelz, erkennen ließ. Dazu kam eine spitze, mit Federn geschmückte Mütze und sogenannte »Komager«, selbstgefertigte plumpe Stiefel aus Rentierleder. Eine kurze Pfeife sah Robert bei fast allen Männern und Frauen.
Er hatte Zeit genug, sich umzusehen, da sich niemand besonders um ihn kümmerte, sondern jeder ganz mit dem Frühstück beschäftigt schien. Eine alte Frau, abschreckend häßlich und braun[261] wie eine Indianerin, hockte neben einem flachen Fels, auf dem ein helles Feuer loderte. Sie rührte in dem darüberhängenden eisernen Kessel und sang mit tiefem Kehlton ein Lied, dessen schwermütige Weise zu der ganzen verödeten Umgebung besonders gut paßte. Als letztes Wort eines jeden Verses hörte Robert immer einen und denselben Namen: »Jubinal« –
»Das wird die Zauberin des Stammes sein«, dachte er. »Die heilt Kranke und bespricht das Vieh und liest in den Sternen. Vielleicht gehört ihr sogar dieses schöne Rentier mit seinen klugen Augen.«
Er streichelte den braunen Rücken, während ihn die Alte heimlich beobachtend ansah. Dann stand sie auf und brachte ihm einen hölzernen Napf voll dampfender Milchsuppe und einen Löffel. Ihre Gebärden luden ihn ein, sich zu setzen und zu essen.
Robert übersah den schwärzlichen Rand der Schüssel und den plumpen Löffel von äußerst zweifelhafter Sauberkeit; er atmete mit wahrem Entzücken den Duft der frischen Milch. Aber das wollte er nicht allein haben, sondern Mongo sollte es mit ihm teilen.
Er nickte lebhaften Dank und wollte ins Zelt zurückkehren, als ihn die Alte am Arm festhielt. Ihre Handbewegungen zeigten ihm, daß für seinen Begleiter noch reichlich Suppe da sei, er möge nur ruhig essen.
Und so setzte er sich denn auf ein Felsstück, um das sonderbare Mahl zu beginnen. Einige Lappen brachten ihm heiße Mehlkuchen, die er vielleicht zu Hause in Pinneberg kaum für Pikas gut genug gefunden hätte, die ihm aber, erfroren und halb verhungert wie er war, ganz köstlich schmeckten.
Das Mütterchen am Herd füllte mit stillem Lächeln zum zweitenmal den großen Napf und freute sich sichtlich, als auch diese Portion hinter Roberts Lippen verschwand.
Was sie sagte, klang so entschieden wie ein »Nun wirst du's aushalten, mein Söhnchen«, daß er den Sinn deutlich heraushörte und mitlachte. Seine Kräfte waren jetzt so ziemlich zurückgekehrt, und sein Mut hatte seine alte Spannkraft vollständig wiedergefunden. Er ging von einer Gruppe zur anderen, versuchte überall vergeblich, in deutscher oder englischer Sprache eine Unterhaltung anzuknüpfen, und ließ sich endlich eine jener kurzen, verräucherten Pfeifen anbieten, die von allen geraucht wurden.
Nachdem er schließlich alle einzeln begrüßt hatte, ging er in sein Zelt zurück und sah nach dem Neger. Mongo lag mit offenen Augen da und schien zu glauben, daß er träume. Ein Dach über[262] ihm, warme Felle um ihn herum – er begriff nicht, was das alles bedeuten könne.
»Bob!« murmelte er. »Bob, wo sind wir?«
Robert lachte. »Noch auf derselben Stelle von gestern, Alter«, rief er fröhlich. »Die Geister des Gebirges haben uns alles Nötige hergebracht und stehen auch weiterhin zu unserer Verfügung. Soll ich sie dir zeigen?«
Mongo richtete sich mühsam auf. »Du sitzst schon wieder auf dem hohen Pferd, Spitzbube,« sagte er gutmütig lächelnd. »Leih mir für ein paar Züge die Pfeife, hörst du!«
Robert gab sie ihm sofort, und der Schwarze rauchte tüchtig drauflos. »Ach«, sagte er, »das wärmt, – das tut gut!«
Und als er eine Zeitlang sinnend dagelegen hatte, während der heiße Rauch sein Gesicht umspielte, heftete er plötzlich auf Robert einen fragenden Blick. »Du«, sagte er, »Bob, was war das gestern, was hast du mir zu trinken gegeben? Es hat mir im letzten Augenblick geholfen! – War es Branntwein aus den Flaschen der Lappen?«
Robert errötete. »Ich glaube wohl, Mongo!« versicherte er.
Da sah der Neger die große, klaffende Wunde. »Bob«, rief er, »Bob, du sprichst die Unwahrheit, – du hast mich dein Blut trinken lassen, du guter Kerl!«
Der Junge lachte. »Mach um Gotteswillen keine Heldentat daraus«, sagte er in heiterem Ton. »Der Wolf hatte das Loch gerissen, also konnte ich dir wohl den angenehmen Trunk in den Mund laufen lassen! Brr, ich sollte dich eigentlich um Verzeihung bitten, Mongo!«
Der Neger reichte ihm matt die Hand. »Du bist ein braver, herzensguter Junge, Bob«, sagte er gerührt, »und wenn mein Leben auch nur das eines alten Niggers ist, – gerettet hast du's doch!«
Robert schüttelte die dargebotene Hand. »Und so weiter!« lachte er. »Jetzt steh nur auf, Alter, und stütze dich auf mich, daß du hinauskommst in den Frühstückssalon aus Felsen mit einer blauen Wolkendecke darüber. Draußen wächst eine warme Milchsuppe, sage ich dir, daß dein Magen verborgene Schleusen auftut und mehr vertragen kann, als sonst in vier Mahlzeiten!«
Er half dem Alten, sich zu erheben, und führte ihn dann in die Sonne, wo er zitternd auf den nächsten Sitz zurücksank. »Hat mich doch verteufelt angegriffen, Bob«, murmelte er. »Bin noch ganz schwach!«
Robert sprang zurück und brachte einige Felle, die er dem Alten[263] über die Schultern legte, und dann erschien auch das braune Weib mit der Holzschale, deren Inhalt den Neger neu belebte. Er schlürfte in langen, behaglichen Zügen. »Du«, sagte er endlich, »hat sich der Häuptling schon gezeigt, oder sahst du ihn noch nicht?«
»Welcher Häuptling, Mongo?«
»Nun, einen Anführer wird der Stamm doch haben, Kind. Und in diesem Zelt hier wohnt er.«
Seine ausgestreckte Rechte deutete auf das größere und etwas sorgfältiger hergerichtete Zelt, das Robert schon früher aufgefallen war. »Das ist der Priester oder Anführer«, fügte er hinzu. »Dort hinter den Fellen steckt er, das kannst du mir glauben.«
»Dann locke ihn heraus, Mongo.«
Der Neger lächelte. »Wie leicht du umspringst mit solcher braunen Majestät, Bursche. Und nebenbei – wer kann sich in seiner Sprache verständlich machen?«
»Ja, da steckt der Knoten. Ich hoffte, daß diese braunen Kerle dänisch reden würden, dann hätte ich zur Not antworten können, aber es muß mehr russisch sein, was sie sprechen, – dem Grunzen ihrer Rentiere nicht unähnlich.«
»Du junger Taugenichts, wie dir der Kamm schwillt, sobald es dir einigermaßen leidlich geht! – Und ich habe dich doch gestern abend beten hören – oder dachtest du vielleicht laut, als es schien, daß alles verloren sei.«
Robert drohte errötend dem Alten mit dem Zeigefinger. »Nun«, sagte er, »darf denn ein tüchtiger Kerl nicht mehr in der Not seinen Herrgott anrufen, ohne von solch einem bösartigen, hinterlistigen Mongo gleich belauscht zu werden? Du Erzschelm stelltest dich schlafend, um mich den Wolf allein töten zu lassen, jetzt weiß ich's.«
Der Neger sah fragend von seiner Suppenschüssel auf. »Den Wolf, Bob? Ich denke, du hast die Geschichte nur geträumt!«
»Dachtest du!« lachte Robert. »Das Tier liegt dort drüben im Abgrund, und hier meine Hand zeigt die Spuren des Kampfes.«
Er hob die Wunde empor, so daß Mongo heftig erschrak. »Nun, nun«, rief er, »und damit läufst du so ruhig umher, als sei es ein Mückenstich. Aber warte, die braune Hexe dort wird bestimmt irgendeine Salbe besitzen, oder ich müßte mich auf solche klugen Mütterchen nicht verstehen.«
Er erhob sich und ging mit langsamen Schritten, noch schwankend wie ein Schiff unter vollen Segeln, auf den Herd zu und setzte[264] sich dort neben die Alte, mit der er eifrig gestikulierend ein Gespräch anzuknüpfen versuchte. Beide redeten, konnten sich aber kaum verständigen. Schließlich mußte Mongo seinen Zweck erreicht haben, denn das Mütterchen humpelte fort, um aus einem der Zelte einen alten, verrosteten Blechnapf herbeizuholen, den sie von einer dichten Staubschicht befreite, einige Splitter und Steine herauswarf, und darauf mit einem Messer etwas von dem Inhalt auf ein weiches Lederläppchen strich.
»Komm her, Bob!« rief der Neger. »Laß dir die Hand verbinden!«
Robert näherte sich gehorsam. »Weiß Gott«, dachte er, »wie sich die beiden alten Menschen verständigt haben. Es muß schon so eine Art von Verwandtschaft sein, die sie beide fühlen, anders könnte ich mir die Sache nicht erklären.«
Er ging aber doch hin und spürte auch schon sehr bald die heilende Wirkung der Salbe. Das Brennen an den Rändern der Wunde hörte auf, die straffgespannte Haut wurde wieder weich, und die Röte ging zurück. Mongo erklärte, daß jetzt die Sache ohne Gefahr sei. »Und wo haben wir nun den erlegten Wolf?« fragte er. »Der Bursche muß doch diesen guten Leuten sein Fell abtreten, wenn die Kluft nur einigermaßen zugänglich ist.«
Robert ging rasch zu der Stelle, die ihm vom gestrigen Abend her noch deutlich in Erinnerung war, und blickte in den sonnenbeleuchteten Abgrund hinab. »Da unten liegt der Räuber«, rief er. »du kannst ihn von hier aus deutlich sehen, Mongo, aber heraufholen läßt er sich nicht. In den zackigen Spalt würde kein Mensch hinabsteigen können.«
Mongo lächelte. »Wir nicht, Bob, aber unsere braunen Freunde können das. Gib nur acht, was du erleben wirst.«
Er winkte einen der Lappen zu sich heran, zeigte ihm in seiner Gebärdensprache das erlegte Tier und versuchte ihm klar zu machen, daß Robert der glückliche Sieger sei. Der Rentierjäger schien kaum seinen Augen zu trauen. »Mit der bloßen Faust?« fragten seine erstaunten Augen. Robert nickte lachend. Er deutete in den Abgrund hinab und schüttelte den Kopf, als wolle er sagen: »Aber dorthin führt doch kein Weg?«
Der Lappe pfiff durch die Zähne. Dann besprach er sich mit einigen anderen, die neugierig herbeikamen und lebhaft durcheinander redeten. Der ganze Trupp machte sich an die Untersuchung der Felsschlucht, um auszukundschaften, ob nicht ein Weg hinabführe auf den untersten Grund, aber hier war alle Mühe vergebens, –[265] man mußte von oben hineinsteigen, oder man kam niemals dahin.
Robert bat die Leute, das Wagnis aufzugeben, fand jedoch damit kein Gehör. Im Gegenteil, der gewandteste Bursche ließ sich von den andern ein festes Seil um den Leib schnüren, das drei Männer festhielten, und kletterte dann mit einem langen, unten zugespitzten Gebirgsstock von Klippe zu Klippe in die Schlucht hinein. Mehr als einmal verloren seine Füße den festen Halt, so daß er plötzlich über der schwindelnden Tiefe in freier Luft am Seil schwebte, aber ohne ein Zeichen von Hast oder Unruhe suchte er die nächste Spitze, die ihm erlaubte, darauf zu treten, und gelangte so allmählich von Stufe zu Stufe immer tiefer hinab. In der Mitte des Weges verengte sich der Spalt, und es schien unmöglich, hier eine freie Bewegung auszuführen. Während der tollkühne Jäger mit halbem Körper zwischen den Felsen stand, konnte er nicht sehen, wohin seine Füße traten, sondern suchte tastend mit den Zehenspitzen nach einem erreichbaren Halt.
Oben schwieg alles. Robert und Mongo sahen sich an. »Was wird er jetzt tun?« dachten beide, ohne jedoch auch nur ein einziges Wort zu sprechen.
Der Lappe rief in seinen tiefen Kehltönen einige kurze Silben herauf, und sogleich ließen die drei Männer, die ihn hielten, langsam das Seil in die Tiefe hinab, bis endlich aus der Schlucht ein neuer Zuruf verkündete, daß unten der Jäger wieder festen Fuß gefaßt hatte. Frei am Seil hängend, hatte er sich furchtlos von den Fäusten der Obenstehenden durch den Engpaß tragen lassen und konnte jetzt wieder klettern.
Robert klatschte unwillkürlich in die Hände. Das war mehr, als selbst ein tüchtiger Seemann leisten konnte, der im Sturm außenbords die Strickleitern erklettert. Diese Ruhe, diese tollkühne Sicherheit flößten ihm hohe Achtung ein.
»Bravo!« rief er. »Bravo!«
Die Lappen beachteten seinen Beifall kaum. Sie hielten die ganze Sache höchstwahrscheinlich für ein sehr alltägliches Ereignis und dachten nur an die Wolfshaut, die sie um jeden Preis an sich bringen wollten. Vom Grunde der Schlucht herauf hörte man jetzt wieder einige Worte, worauf das Seil sofort nachgab. Während es einer der Männer festhielt, liefen die beiden anderen fort, um ein zweites, ähnliches herbeizuholen, das dann auf den Felsboden der Schlucht herabgelassen wurde. Nachdem der untenstehende Jäger[266] dies Seil an dem Körper des toten Wolfes befestigt hatte, ließ er sich in derselben Weise, wie er hinuntergekommen war, auch wieder heraufbefördern, und dann machten sich alle vier daran, mit vereinten Kräften den Wolf heraufzuziehen.
»Siehst du!« sagte Mongo. »Ich wußte es wohl. So verbringen diese Menschen das ganze Leben. Immer in Gefahr, immer auf der Jagd, kletternd und springend, die gesunden Glieder aufs Spiel setzend und den Tod verachtend, – das ist ihr Beruf. Im Sommer fangen sie auf unzugänglichen Klippen und in tief versteckten Felsenhöhlen die jungen Möwen, die Alken und Schwimmvögel, im Winter jagen sie das Ren, und zu allen Jahreszeiten kämpfen sie mit großen Raubtieren, um doch für diese unausgesetzten Mühen und Gefahren kaum soviel zu haben, daß sie sich jeden Tag satt essen können. Das ist der strenge, geizige Norden.«
Roberts Augen leuchteten. »Aber er erzieht Männer, Mongo!« antwortete er. »Im Süden gibt die Erde dem Menschen freiwillig alles, was er braucht, und erschlafft ihm daher ebenso, wie sie ihn übermütig macht. Denke an die Menschenopfer von Dahomey, Alter, und frage dich, ob sie hier im Norden unter solchen Männern möglich wären?«
Mongo wiegte den Kopf. »Hm, hm«, antwortete er. »Menschen werden nicht mehr abgeschlachtet, das ist sicher, aber dennoch –«
»Nun, Mongo, dennoch?« –
Der Neger hob die Hand. »Ich weiß nichts Bestimmtes«, sagte er, »möchte aber behaupten, daß diese Leute doch noch Heiden sind. Es gibt so kleine Zeichen dafür.«
Robert schüttelte den Kopf. »Das ist unmöglich, Alter. Seit länger als hundert Jahren sind die letzten Lappen zum Christentum bekehrt, werden getauft und konfirmiert wie alle anderen schwedischen oder norwegischen Bürger.«
Mongo lachte. »Ja, Bob, das wohl. Sie zahlen auch Steuern und sind doch Wilde, ebenso lassen sie ihre Kinder taufen und beten doch zu Pakal und Jubinal. Ich bin schon einige Male in Trondhjem gewesen und habe selbst mit Leuten gesprochen, die das Innere Skandinaviens bereist hatten. Dorthin gehen noch heute die Missionare ebenso wie nach Grönland oder Afrika.« –
Die Lappen hatten mittlerweile den toten Wolf heraufgezogen und über den Rand des Abgrundes auf die feste Erde gelegt. Das Tier war ein Riese seiner Art, fast anderthalb Meter lang, und mit Zähnen, die auch dem Mutigsten Furcht einflößen konnten.[267]
»Armer Kerl!« lachte Robert, »du hofftest, halb verhungert wie du warst, auf einen fetten Braten und fandest dagegen den Tod.«
Mongo nickte. »Ging es Sheppard und Morris besser als diesem Tier?« fragte er. »Sie wollten Gewalt an die Stelle des Rechts treten lassen und mußten es mit ihrem eigenen Leben bezahlen. Wer andern eine Grube gräbt, fallt selbst hinein.«
»Die Unglücklichen!« schauderte Robert. »Sahst du ihre Leichen, Mongo?«
Der Neger schüttelte den Kopf. »Ich sah einen Hai, Bob, der mit grünlich schillerndem Rücken die Trümmer des gestrandeten Schiffes umschwamm. Ein Delphin glitt an ihm vorüber, ohne daß er es bemerkte, – er mußte also wohl sehr satt sein – –«
Robert antwortete nicht. Seine Blicke bewunderten die schnellen Handgriffe, mit denen das Fell abgezogen und der Körper des Tieres zerlegt wurde. Während die unbrauchbaren Überreste ohne lange Umstände wieder in den Felsspalt geworfen wurden, hing man die ganze Beute an ausgespannten Seilen auf, um sie von dem scharfen Nordost vollständig austrocknen zu lassen. Die Lappen gingen in den Zelten ihren verschiedenen Arbeiten nach, machten Holzschnitzwaren, verfertigten aus Rentiersehnen einen groben Zwirn und strickten Handschuhe. Die Frauen webten einen braunen Wollstoff, aus dem ihre Sommerkleider bestanden, und das alte Mütterchen kochte auf den Steinen des Herdes zum Mittagsmahl ein Stück gedörrtes Rentierfleisch, dem Zwiebeln und verschiedene Wurzeln zugesetzt wurden.
Noch immer hatte sich die Tür des großen Zeltes nicht geöffnet.
Robert und Mongo machten sich auf, um die Ausdehnung und die nächste Umgebung des Lappenlagers auszukundschaften. Da sie mit keinem der Männer sprechen konnten, mußte die Verständigung über ferneres Beieinanderbleiben von selbst erfolgen. Gutmütig und harmlos, wie die armen Leute waren, schien das für sie offenbar eine ausgemachte Sache zu sein.
Mongo sah vor einem der Zelte einen Lappen sitzen, der mit der Handschuhstrickerei beschäftigt war. Das luftige Gebäude lag etwas abseits von den übrigen und war ganz schmucklos und niedrig. Es schien als Stall zu dienen, denn aus dem Innern des kleinen Raumes drang das lustige Krähen eines Hahnes weit in das Gebirge hinaus.
Mongo lächelte eigentümlich. »Komm«, sagte er, »laß uns[268] einmal in dies Zelt hineinsehen. Alle anderen durften wir ja besichtigen, warum also dies nicht?«
Er ging mit Robert bis an die Wand aus Fellen und wäre im nächsten Augenblick hineingeschlüpft, wenn nicht der Lappe plötzlich den Arm ausgestreckt hätte. Ein verständliches Kopfschütteln zeigte den beiden, daß das Betreten nicht erlaubt sei. In diesem Augenblick krähte der Hahn zum zweitenmal, und der langgezogene Ton schien den Lappen offenbar zu erschrecken. Er zuckte und sah mißtrauisch empor.
Ein ungeduldiger Laut und ein gebieterisches Ausstrecken des Zeigefingers legte den beiden nahe, ihre Absicht sofort aufzugeben und weiterzugehen. Mongo hatte auch alles erfahren, was er wissen wollte. »Dort werden die Opfertiere gefangen gehalten«, sagte er. »Glaub mir, der Stamm hätte sich nie so weit nach Norden hinauf verirrt, wenn nicht die Reise mit einem geheimen Zweck verbunden wäre. Diese christlich getauften und konfirmierten norwegischen Bürger wollen einen heidnischen Götzendienst verrichten, deshalb sind sie hier.«
»Oh, Mongo, du träumst!«
»Aber nein, mein Junge. Die Regierung verfolgt und bestraft natürlich solche Ausschreitungen, sie kann sie aber nicht unterdrücken, sondern nur aus ihrem Bereich verbannen. Hier, wo kein Dorf und keine Ansiedlung mehr steht, wo kein Baum oder Strauch wächst und kein Mensch seinen Wohnsitz aufschlagen könnte, – hier hört das Gesetz auf, Gesetz zu sein. Die ›Saita‹, so heißt der Tempel oder Opferstein Jubinals, ist in dieser unwegsamen Wüste vor allen Blicken, allen Entheiligungen und Beobachtungen wirksam geschützt. Das Opfer kann vollzogen werden, ohne die heidnische Schar straffällig zu machen, und eben deshalb wandert der Stamm auf seinem Wege zum Meer durch diese wüste Gegend. Gib nur acht, wir werden die ›Saita‹ sehr bald finden.«
Robert konnte nicht glauben, was der Neger sagte. »Aber Mongo«, wandte er ein, »wie wäre das möglich? Denk doch an den ständigen Verkehr der Lappen mit den Norwegern, ihren Küstenhandel, ihre Besuche auf den Märkten von Bergen und Trondhjem! Sie sind längst schon keine Wilden mehr.«
Mongo schüttelte den Kopf. »Lappen und Lappen«, antwortete er, »das ist ein Unterschied. Während die Grenznachbarn des ›Norrlandes‹ am Lyngenfjord schon beinahe als gewöhnliche norwegische Ansiedler und Viehzüchter gelten können, sind die[269] nomadischen Stämme oben an der Polargrenze wieder ein ganz anderer Menschenschlag, der zu den Samojeden und Kirgisen in weit näherer Verwandtschaft steht als zu den Weißen. Du mußt bedenken, daß Norwegen, von einem Ende zum anderen gemessen, seine dreihundert Meilen lang ist.«
Robert nickte. »Das wußte ich zwar auch, Mongo«, antwortete er. »Aber wo hast du all diese Einzelheiten erfahren?«
»Kind, ich bin länger als fünf Jahre auf Walfang. Was soll ein alter Mensch machen? In den Fabriken wollen die Leute einen vollwertigen Arbeiter haben, und in den vornehmen Häusern einen jungen, gewandten Diener, – also blieb mir nichts übrig, als auf Grönlandfahrern den Tran auszubraten, dafür taugt jeder, der nur Augen und Hände besitzt.«
»Und nun gib acht«, fuhr er fort, »dort hockt wieder eine Lappe mit kurzer Pfeife und hölzernen Stricknadeln zwischen den Fingern. Es ist die ›Saita‹ die er bewacht.«
Mongo versuchte nicht, sich diesem zweiten Hüter bemerkbar zu machen. Robert und er schlugen eine seitliche Richtung ein, um die ziemlich hohe Felsspitze von hinten in Augenschein zu nehmen. »Siehst du«, flüsterte der Neger, »dort wimmelt es von eingegrabenen Figuren und Zeichen. Das sind sogenannte ›Runensprüche‹, die aus der vorchristlichen Zeit stammen.«
»Die will ich in der Nähe sehen!« drängte Robert, »und wenn ich zu diesem Zweck länger als der ganze Stamm hier bleiben müßte. Mongo, wer hat dir das alles erzählt?«
Der Schwarze lächelte. »Ich bin fast sechzig Jahre alt, du Heißsporn, das vergiß nicht. Wenn jemand in meinem Alter zwei Drittel seines Lebens in guten Häusern verbracht hat, viel mit Missionaren verkehrte und im allgemeinen an der Geschichte der farbigen Völkerstämme durchaus Anteil nahm, so ist es kein Wunder, daß er ihre Religionsübungen, oder besser gesagt, ihren Götzendienst genauer studiert hat. Ich könnte dir voraussagen, wie lange die Lappen noch bleiben und – was sich dort an diesem Felsen am letzten Abend ihres Hierseins ereignen wird.«
Robert zitterte vor Neugier. »Nun, Mongo, und –?«
»Willst du es dir nicht lieber selbst ansehen?« lächelte der Neger.
»Gern. Aber wird man uns zulassen?«
»Natürlich nicht!« lachte Mongo. »Komm, laß uns einen anderen Zugang suchen. Dieser braune Geselle in seiner rührenden Einfalt zeigt uns ja, daß hier die Saita liegen muß.«[270]
Die beiden Abenteurer umgingen suchend den Felsen, dessen Rückwand sich in einem Gewirr von Klippen und Schluchten verlor, den aber doch eine ziemlich breite Kluft von seiner Umgebung derartig trennte, daß kein Mensch ohne weiteres hinübergelangen konnte. Desto besser ließ sich allerdings der ganze obere Raum von hier aus frei überblicken, besonders da die hinteren Zacken und Spitzen bedeutend höher lagen als der vordere glatte Felskegel. Mongo und Robert sahen eine Art flachen, etwa einenMeter hohen natürlichen Sockel aus Granit, den jedoch Menschenhände geformt und abgeschliffen haben mußten, vielleicht vor tausend Jahren schon, da die Runensprüche in ihren Einzelheiten nur noch schwer erkennbar waren. – In der Mitte des flachen Steines war alles schwarz überkohlt.
»Siehst du«, flüsterte Mongo, »darum die beschwerliche Reise in den höchsten Norden hinauf, wo nicht einmal Brennmaterial zu finden ist, wo die Rentiere halb verhungern und alte Leute und Kinder vor Kälte umkommen. Wenn der Vollmond hoch am Himmel steht, wird hier das Opferfest gefeiert.«
»Und dazu, meinst du, dient der Hahn, der in dem verschlossenen Zelt krähte?«
»Ein Pferd, ein Hahn und ein Habicht«, erwiderte Mongo. »Das Pferd wird hier der äußeren Verhältnisse wegen durch ein Ren ersetzt, höchstwahrscheinlich ein ganz weißes, was man sehr selten findet. Früher nahm man statt dieser Tiere Menschen, so zum Beispiel forderte das große jährliche Sühneopfer neunundzwanzig, und ebenso viele starke Tiere.«
»Aber das muß doch in der vorchristlichen Zeit gewesen sein, Mongo?«
»Natürlich. Die letzten Überreste dieser entsetzlichen Opfer aber haben sich hier in dieser weltabgelegenen Gegend zum Teil noch erhalten, wenn sie auch nur noch an Tieren vollzogen werden.«
»Mongo, hast du selbst jemals ein solches Opfer mit angesehen?«
Der Neger schüttelte den Kopf. »Außerhalb meiner Heimat nicht, Bob. Aber ich will dir Gelegenheit geben, deine Neugier zu befriedigen, indem ich das Zelt behüte und niemand hineinlasse, angeblich weil du krank seiest, – während du hier von diesem Felsen aus die Geheimnisse Jubinals und seiner Anhänger erforschen kannst. Nur laß dich nicht abfassen, Junge, sonst könnten deine Gebeine allzuschnell denen des Hahns und des Habichts nachwandern müssen.«[271]
Robert lachte lustig. »Ich ein lappländisches Opfertier«, rief er. »O du lieber Gott, wenn das mein Vater gehört hätte, der grundsätzlich alles, was außerhalb Europas liegt, für heidnisches Unwesen erklärt.«
Mongo lachte mit. »Jetzt komm nur«, sagte er, »wir müssen uns doch wieder bei unseren Gastfreunden sehen lassen und versuchen, ihnen bei ihrer Arbeit zu helfen. Auch könnte es uns keineswegs schaden, wenn wir ein Stück Rentierfleisch zwischen die Zähne bekämen.«
Sie gingen zu den Zelten zurück, und hier sah Robert, wie mehrere Frauen beschäftigt waren, aus ihren groben, selbstgewebten Stoffen die verschiedensten Kleidungsstücke zuzuschneiden. Er lachte so lustig, daß die Lappländerinnen erstaunt aufsahen.
»Du, Mongo«, rief er, »habe ich dir nicht die Fischgräte gezeigt, mit der ich mir auf meiner kubanischen Insel einen Anzug nähte? – Das war ein Lehrlingsjahr des fahrenden Schneiders, und jetzt kommt das zweite. – Hochverehrte, in Schmutz getauchte, mit Tran gesalbte, mit Zwiebeln parfümierte und ohne Kenntnis der Seife oder des Handtuches herangewachsene Beherrscherin der Rentierzone«, wandte er sich an eine der rauchenden und aus kleinen, rötlichen Schlitzaugen verwundert dreinschauenden Frauen, »wollen Sie mir huldreichst gestatten, die Schere aus Ihren braunen Pfoten zu entwenden und Ihrer eingefrorenen Phantasie durch die Kenntnisse des deutschen Kleiderkünstlers zu Hilfe zu kommen?«
Er nahm mit zierlichem Griff und der ernsthaftesten Miene von der Welt die Schere und begann zu Mongos großem Ergötzen den unförmigen, sackartigen Rock der Lappländerin in ein hübsches, glattsitzendes Kleidungsstück zu verwandeln. Als er es mit großen Stichen zusammengeheftet hatte, überreichte er es der Eigentümerin, die ihm neugierig auf die Finger sah und offenbar nicht erwarten konnte, den neuen Schmuck ihren Stammesgenossinnen zu zeigen. Sobald sie den Rock in der Hand hielt, eilte sie fort, und das Durcheinander von Frauenstimmen zeigte nur zu bald, welches Aufsehen Roberts Kunst erregt hatte. Von allen Seiten kamen die Weiber mit großen Stoffballen herbei.
»Da hast du's!« rief laut lachend der Neger. »Jetzt ist dein Urteil gesprochen, vorwitziger Bursche! Du bist nun – –«
»Leibschneider der Zwerge!« ergänzte Robert. »Hurra, das deutsche Märchen ist Wirklichkeit geworden.«
Mongo sah mit stillem Vergnügen das hübsche, lebensfrohe[272] Gesicht und die schlanke Gestalt Roberts. »Ist ein prächtiger Kerl«, dachte er, »hat ein Herz wie ein Kind und Mut wie ein Löwe. Jetzt sitzt er doch bei der Nähnadel, als sei er ein eingefleischter Schneider, und gestern abend hat er mit derselben Faust einen Wolf erlegt.«
Robert blinzelte ihm zu. »Weißt du, was ich im Grunde erreichen will?« fragte er. »Eine Mütze für dich und mich, Mongo. Die Taschentücher sind doch auf die Dauer unbequem. Aus diesen Abfällen aber stelle ich uns beiden ein paar tadellose Kopfbedeckungen her.«
Mongo nickte. »Soll mir sehr angenehm sein, du junger Spitzbube. Kannst mich vielleicht als Altgesellen verwenden?«
»Tut mir leid, Tranbrater. Die Nähnadel ist kein Rührlöffel. Aber geh und stibitze mir irgendwo eine Pfeife, wenn du kannst. Diese braunen Heiden rauchen zwar Moos statt Tabak, glaube ich, aber in der Not frißt der Teufel Fliegen, wie du weißt. Ich möchte nicht gern mit erfrorener Nase wieder nach Pinneberg zurückkehren.«
Mongo lachte. »Wie kommt es nur, daß wir so guter Laune sind?« fragte er.
»Hm, ich denke, weil wir nur wie durch ein Wunder davongekommen sind, Alter. Im Anblick des Todes lernt man den Wert des Lebens erst kennen. – Schau her, das wird deine Mütze. Sollen auch Ohrenklappen darankommen?«
»Wenn du soviel Stoff auf die Seite bringen kannst, ja. Ich will inzwischen Pfeifen besorgen.«
Mongo humpelte davon und verständigte sich aber mals durch Gebärden mit der Alten, die ihm zu ein paar Pfeifen verhalf, von denen er eine dem nähenden Robert zwischen die Lippen schob. »Jetzt werde ich mich nach etwas Feuchtem, Gebranntem umsehen«, fügte er hinzu. »Es ist außerordentlich frisch hier oben.«
»Du solltest unter deine Felle kriechen«, riet Robert. »Das Klima sagt dir offenbar nicht zu.«
»Nun, nun – dir vielleicht, Monsieur Naseweis?«
»Naserot, willst du sagen, Bester. Ich fühle mich übrigens wirklich gut.«
»Schlingel!« lachte der Alte und ging, während Robert zurückblieb, von den Frauen wie von einer Garde aufgescheuchter Gänse umschnattert. Er hatte sehr bald eine tüchtige Anzahl Röcke zugeschnitten und nähte dann drauflos, um für seinen alten Freund noch[273] vor Anbruch der Nacht die warme Mütze fertig zu machen. Bei dieser Arbeit behielt er das Zelt des Häuptlings immer im Auge, aber ohne das Mindeste zu entdecken. Als die braune Alte das Fleischgericht für gar hielt, trug sie eine Schüssel voll davon bis vor die Tür aus Fellen und entfernte sich wieder, ohne hineingesehen oder gesprochen zu haben.
Robert beobachtete verstohlen diesen kleinen Vorgang. Was würde jetzt geschehen?
Da kam hinter den Fellen eine braune Hand zum Vorschein. Leise wurde der Holznapf nach innen gezogen.
»Sich, du Schlingel«, dachte der Junge belustigt. »Da sitzest du im Trocknen und pflegst deine faule Haut, während deine betörten Brüder arbeiten. Kann mir schon denken, wie die Gaukelei eingefädelt wird, – du betest und rufst Jubinals Gnade auf deinen Stamm herab, als würdige Vorbereitung für das Opferfest, nicht wahr? In Wirklichkeit aber läßt du dich von deinen Stammesgenossen versorgen und hast keineswegs vergessen, eine tüchtige Flasche Branntwein in die geweihteEinsamkeit mit hineinzunehmen. – Will mir aber die Geschichte um jeden Preis ansehen.«
Er stand auf und ging zu der Alten am Feuer. Obgleich sich die Wunde, die ihm der Wolf gerissen hatte, auf dem Rücken seiner Hand befand, so schmerzte sie ihn doch bei der Näharbeit sehr stark, und daher hoffte er auf ein wenig Salbe, die ihm das Mütterchen auch bereitwillig gab. Ein Gericht Fleisch mit Zwiebeln erhielt er obendrein.
»Wozu diese Leute eigentlich ihre Wohnungen haben«, dachte er. »Alles geschieht in Freien: essen, arbeiten, plaudern, kochen. Die Hütte dient nur zum Schlafen.«
Er aß das Fleisch nicht ohne einiges Widerstreben und half dann gutmütig der Alten, die Menge hölzerner Löffel und Schüsseln wieder abzuwaschen. Handtücher gab es nicht, sondern jeder Napf wurde umgestülpt, und damit war alles getan, was die Reinlichkeitsbedürfnisse des Stammes erforderten.
Bis Robert die Mütze für den Alten fertig hatte, war es bereits dunkel geworden, und mehrere von den Männern gingen in die Ebene hinab, um die Rentiere herbeizutreiben. Fast alle kamen auf den bekannten schrillen Pfiff ihrer Hüter freiwillig heran und ließen sich melken, diejenigen aber, die das Zeichen des Hirten unbeachtet ließen, wurden mit einem langen ledernen Lasso eingefangen. Robert zählte über hundert Köpfe, darunter mindestens[274] dreißig milchgebende Kühe, natürlich aber zu dieser Jahreszeit keine Kälber. Die ganze Herde wurde, nachdem sie gezählt worden war, ohne weiteres für die Nacht sich selber überlassen. Diese Tiere sind ebenso anhänglich wie klug, sie folgen wie Hunde ihrem Herrn und brauchen deshalb nicht eingesperrt werden.
Nur das Reittier blieb gefesselt. Jedenfalls gehörte es dem Zauberer, der hinter seinen Zeltwänden eben noch einen so gesunden Appetit entwickelt hatte. Robert lachte, sooft er sich der Hand erinnerte, die den gefüllten Napf sorgfältig in Sicherheit brachte, während jedenfalls der ganze Stamm gläubig annahm, daß mit dem Inhalt des Geschirres den Göttern ein Opfer bereitet werde. Er freute sich auf das bevorstehende Schauspiel dermaßen, daß ihm die nächste Nacht nur von Feuer und krähenden Hälmen träumte. So merkwürdig hatte er sich die Reise an den Nordpol auch in seinen kühnsten Erwartungen nicht gedacht.
Am nächsten Morgen war seine erste Frage: »Mongo, worauf warten die braunen Gesellen, ehe sie ihre Zauberkünste beginnen?«
Der Neger kroch behaglich tiefer in die warmen Felle hinein. »Auf den Vollmond, du ungeduldiger Mensch«, sagte er. »Für heute geschieht noch nichts.«
Und so wurde es tatsächlich. Der zweite Tag verging wie der erste, Robert entwickelte seine Schneiderkünste, beobachtete das verschlossene Zelt und rauchte das geheimnisvolle Kraut, das er heute mißmutig Mongo gegenüber für getrocknete Reste von Kohl oder Rüben erklärte. Die neue Mütze saß ihm frech auf einem Ohr, die großen Seestiefel hatten frischen Tranglanz erhalten, und die zerrissene Jacke war mit Rentierzwirn ausgebessert worden. Beide Hände in den Taschen stand er vor dem Alten.
»Mongo, du bist jetzt mein Spiegel!« sagte er. »Wie sehe ich aus?«
»Hm! – Wie einer, an dem noch einiges zurecht gerückt werden muß, ehe aus ihm ein vernünftiger Mensch wird.«
Robert lachte. »Achte auf den Mond, Schwarzer«, antwortete er. »Ich hätte große Lust, mir von einem dieser braunen Kerle ein Gewehr zu leihen und ein wenig auf die Jagd zu gehen. Länger als zwei Tage halte ich es bei der Nähnadel nicht aus.«
Mongo schüttelte den Kopf. »Und wenn du dich verirrst, Bob?«
»Keine Angst. Ich bin vor Anbruch der Nacht zurück. Aber Mongo, gib gut acht auf den Stand des Mondes, hörst du! Und[275] noch eins, besorge mir durch deine braune Freundin ein Gewehr, Alter. Du und sie, ihr seid ja doch Vertraute, nicht wahr?«
»Sehr vertraut!« nickte der Neger. »Sie schenkt mir die größte Zwiebel aus dem Topf, und ich zerhacke ihr dafür das Brennholz. Dann zeigen wir uns gegenseitig, wie an den Handgelenken und in den Schultern die Gicht reißt, oder wir frösteln gemeinsam, wenn der Ostwind über die Berggipfel pfeift. Ja, – es ist ein entzückendes Dasein, das Leben unter dem fünfundsiebzigsten Grad nördlicher Breite.«
Robert streckte sich lang aus und warf die Arme hoch empor. »Dieser herrliche Norden«, rief er lachend, »geh, Alter, hole mir eine Schußwaffe, Gewehr oder Bogen, wenn es nur etwas ist.«
Und Mongo ging. Robert lehnte sich an den nächsten Felsen und mußte lachen, als er sah, wie der Neger das Küchenbeil nahm und es auf die Alte anlegte, um seinen Wunsch begreiflich zu machen. Sie verstand ihn sofort, hinkte zu einem der jungen Männer und redete mit ihm lange hin und her. Der Lappe schien zuerst das Gesuch rund abschlagen zu wollen, später aber erhob er sich und brachte widerstrebend eine alte Jagdflinte herbei. Die notwendige Munition hing in einem kleinen Lederbeutel daran.
So ausgerüstet wanderte Robert los. Die Luft war klar und ruhig, der Himmel blau und die Sonne heute wärmer als an den Tagen vorher. An den Strand konnte er nicht vordringen, da der Weg dahin viel zu weit war. Er mußte sich also mit einem Ausflug in die höchsten Gebirgsgegenden begnügen. Vielleicht sah er ja von dort aus in weiter Ferne das Meer, vielleicht konnte er einen Gruß hinübersenden zu weißen Segeln, die langsam im Sonnenglanz dahinglitten – –
Das Gewehr auf der Schulter ging er pfeifend weiter. Längst hatte er sich in einem Berggipfel von sonderbarer, tierähnlicher Gestalt eine Art von Wegweiser gesucht, der ihn nicht irreleiten konnte. Sobald er das Bild in gerader Richtung vor sich sah oder ihm genau den Rücken kehrte, befand er sich dem Lappenlager gegenüber.
Robert lief, bis die Lungen den Dienst versagten, er kletterte über die unwegsamsten Pässe und sprang wie ein Seiltänzer von Klippe zu Klippe, nur um seinem Übermut die Zügel schießen zu lassen. Immer höher und höher hinauf trugen ihn seine flinken Füße, immer weiter entfernte er sich von den Zelten der Lappen. Es war aber auch zu verlockend schön hier oben – wie in einem[276] Tempel fast. Überall hohe Säulen, regelmäßig und großartig zu einem natürlichen, gewaltigen Bau vereint. Hohe Bogen schwangen sich von Kuppe zu Kuppe, gedämpft fiel das Sonnenlicht in den mittleren, freien Raum, und brausend wie ein Orgelton sang der Ostwind seine Melodie dazu.
»Warum steht die Saita Jubinals nicht hier oben?« dachte er. »Kann es denn eine noch schönere Stelle geben?«
Er sah sich um. Kein Baum, kein Strauch, keine Spur des Lebens, und doch war es ein großartiger, erhebender Eindruck. Langsam wanderte er durch das Schiff dieser natürlichen Kirche, an deren entgegengesetzter Seite ein Wasserfall mit donnerähnlichem Tosen zwischen die zerklüfteten Felsen hinabstürzte. Schäumend, Silbertropfen spritzend und ringsumher alles mit feinem Gischt bestäubend, stürzte das Wasser auf das Gestein herab. Spitze Zacken ragten daraus hervor, aber kein Zeichen verriet, wo sich ein Abzugskanal aus diesem Felsental befand. Robert blickte staunend hinab. Wo blieben diese schäumenden Wassermassen? – –
Da sah er eine kleine weiße Möwe mit grauem, perlartigem Federmantel, wie sie kreischend von oben herab in den Felsspalt mehr taumelte als flog. Die ausgebreiteten Flügel glänzten von schimmernden, unzähligen Wassertropfen, die roten Füßchen suchten auf dem feuchten Gestein vergeblich Halt, und das Köpfchen duckte sich, wie vor einer drohenden Gefahr.
Im gleichen Augenblick erkannte Robert auch den Räuber, der das kleine, scheue Tierchen verfolgte. Ein riesiger Seeadler schoß herab, an der Möwe vorüber und fast in das Wasser hinein. Er hielt sich mit den scharfen Fängen auf einer vorspringenden Klippe und schien eine Weile außer Fassung, weil er sein Opfer in blinder Eile verfehlt hatte.
Die Möwe schwebte hoch in der Luft, ehe sie ihr Verfolger erreichen konnte.
Alle Jagdlust erwachte in Robert, als er den Adler so nahe bei seinem eigenen Versteck auf den Klippen sitzen sah. Es war ein besonders großes, sehr schönes Tier, dessen stolze Haltung und feuriges Auge ihm ein wahrhaft vornehmes, königliches Aussehen gaben.
Es saß auf der vorspringenden Klippe und bog den schlanken Hals der entfliehenden Möwe nach, dann breitete es die Flügel aus, um sich wieder in die Luft zu erheben.
Robert hielt den Atem an. Über zwei Meter mochtes das Tier[277] messen, wenn man die äußerste Flügelspannweite rechnete, – wie ein Riesenbildwerk, unbeweglich wie die Klippen ringsumher, saß es auf der schmalen Felszacke. Die Wassertropfen schleuderten spielend einen Perlenregen über das braune Gefieder herab, zornig blickte das Auge der entkommenen Möwe nach.
Robert hob das Gewehr. Sollte er abdrücken?
Fast war es Mord. Das Fleisch des Adlers konnte nicht gegessen werden, – sein Leben in der endlosen Steinwüste schadete niemand. Mit welchem Recht durfte er das Tier töten?
Da erhob sich der Adler, um den Flug durch die Lüfte fortzusetzen. Robert besann sich nicht länger, – es lockte ihn zu unwiderstehlich. Der Schuß krachte mit zehnfachem Echo, der Pulverdampf schwebte über der Kluft, und neugierig sah der junge Schütze hinab. Die Klippe war leer.
Er trat bis an den äußersten Rand und beugte sich vor, um besser in den sprudelnden Gischt hinabschauen zu können. An den unteren Zacken und Klippen mußte ja das getroffene Tier hängen geblieben sein, da es auf der kreisenden, schaumbedeckten Oberfläche nicht zu erkennen war. Wenigstens einige Federn, einige Blutspuren mußte er finden.
Aber so sehr er seine Augen auch anstrengte, zwischen jede Klippe blickte und zehnmal die ganze Umgebung musternd überflog, – es zeigte sich nichts. Dort wo das Wasser blieb, war auch der Vogel verschwunden, auf geheimnisvolle, unerklärliche Weise, ohne eine Spur in der zerklüfteten, verwitterten Umgebung zurückzulassen.
Robert sah kopfschüttelnd an der andern Seite des Berges hinab. Er stand in einer Höhe von beinahe hundert Metern über dem Talkessel, der in den Sumpf ausmündete. Vielleicht ließ sich also auf halbem Wege, in der Mitte oder am Fuße des Berges, diesem seltsamen, wie ein mitternächtlicher Spuk verschwindenden Wasserfall noch weiter nachforschen. Gedacht, getan; vorsichtig kletternd suchte er einen Pfad an der ziemlich steil abfallenden Gebirgswand, deren vielfache Vorsprünge, Ecken nnd Plattformen seinen Füßen als Stützpunkte dienten. Schritt für Schritt hinabsteigend, sah er immer nach unten, nie aber zur Seite seines Weges, und auf diese Weise verlor er die eingeschlagene Richtung vollständig aus den Augen. Hinter ihm, vor ihm, rechts und links türmte sich das Gebirge, überall führten stufenartige Abhänge in die Tiefe, mehr und mehr verloren die Sonnenstrahlen an Licht und Wärme, und die Kälte wurde immer durchdringender.[278]
Robert merkte nichts davon. Seine Tollkühnheit riß ihn weiter. Er wollte den erlegten Adler wiederfinden, wollte wissen, wohin das unterirdische Wasser gelangte und wie tief hinab ihn dieser Weg führen werde, daher kletterte er rüstig weiter, immer im Glauben, daß es leicht sein müsse, wieder hinaufzusteigen, wenn er Lust habe. Das ging ja von Stufe zu Stufe, bequem wie eine Treppe und bestimmt tausendmal besser, als in den schaukelnden Wanten eines Schiffes.
Tiefer, immer tiefer kletterte er hinab. Dämmerung umgab ihn, der Wind schwieg ganz, die Luft war kalt wie Eis.
Und jetzt stand er auf festem Boden. Vor ihm wölbte sich eine enge, finstere Halle, von steinernen Bogen überdacht, unter denen ein schmaler Weg hindurchführte. Während das Innere dieser Felsenhöhle fast nächtlich dunkel erschien, zeigte an ihrem äußersten Ende ein Lichtschimmer, daß dort die Sonne ungehindert von oben eindringen konnte. Robert hielt das wieder geladene Gewehr schußbereit in der Hand und drang mutig vor.
Die Grotte besaß nur geringe Ausdehnung. Schon nach zehn bis zwölf Schritten erweiterte sie sich bedeutend, das Tageslicht fiel voll herein, und eine Art scharfkantiger Brüstung erhob sich unmittelbar vor Roberts Füßen. Der Weg war hier plötzlich zu Ende.
Das Schauspiel aber, das sich jetzt seinen Augen bot, war schöner und eindrucksvoller als alles bisher Gesehene. In einer Tiefe von vielleicht zehn Metern lag zwischen den Felsen ein blauer See mit regungsloser, spiegelglatter Oberfläche. Anscheinend unergründlich tief lag das Wasser wie ein blauer Teppich da, von allen Seiten stiegen die Felsen steil empor, hier in schlanken, anmutigen Formen, dort verworren und wild zerklüftet, als hätten die alten Götter der Sagenzeit im Kampfe Trümmer auf Trümmer geschleudert, als hätte die Erde unter ihren Fußtritten gebebt und wäre in tausend Scherben zerfallen, die nun hier über- und nebeneinander liegen geblieben waren. Vorspringende Altane streckten sich plötzlich aus der Mauer heraus und spiegelten ihre gefälligen Formen im Wasser des Sees, stumpfe Kegel hoben die wenig schönen Häupter zu Hunderten aus dem zackigen Gestein empor und umgaben eine Säule, die schlank und schmucklos wie ein Kirchturm zum Himmel ragte.
Das war eine Welt für sich, das schien nicht mehr der Erde anzugehören, – das überwältigte fast das Herz des Menschen.[279]
Bis an den oberen Rand war dieser tiefe, mit Wasser gefüllte Talkessel vollständig ungangbar. Robert befand sich ganz im Schoß der uralten Steinriesen, in geheimnisvoller, tiefverborgener Mitte, aus der kein Ton empordrang zur Oberwelt.
Was jeden anderen erschreckt haben würde, das erfüllte ihn mit stolzer Freude. Er hob den Lauf des Gewehres langsam empor und zielte auf die schlanke Turmspitze. Wie hier im eingeschlossenen Raum der Schuß krachen mußte! – –
Und dann wälzte sich der donnerähnliche Schall an den Wänden entlang. Wie betäubender Lärm aus zehn, – zwanzig Geschützen, kaum zu ertragen, so krachte es und rollte und hallte wider. Die höchste Spitze, ein Stückchen wie ein kleiner Stein, war herabgeschossen und fiel plötzlich in das stille, blaue Wasser. An den Wänden spielten kleine, weiße Schaumwellen, während in der Mitte des Sees die zitternden, unregelmäßigen Kreise immer größer und größer wurden. Nach wenigen Minuten war alles so still wie zuvor.
Robert lud das Gewehr und hing es an dem Lederriemen wieder über seine Schulter, dann, nach einem letzten, bewundernden Blick auf die Felswand, suchte er durch die Grotte den Rückweg. Erst jetzt fiel ihm ein, daß er weder den Adler, noch den Ausfluß des Wasserfalles gesehen hatte. Es mußte also mitten in dem Gewirr von Klippen, entweder zur Rechten oder zur Linken, etwa auf halber Höhe noch eine Stelle geben, die das Wasser langsam fließend passierte, bevor es in den See einmündete, und wo auch der Adler hängen geblieben war.
Diese Stelle wollte er finden.
Vor dem ziemlich dunkeln Ausgang der Höhle erhoben sich so viele Stufen und Zacken, daß es auch einem Ortskundigen auf den ersten Blick unmöglich gewesen wäre, hier diejenigen herauszufinden, die ihm vorhin als Treppe gedient hatten. Robert sah hinauf. Von allen Seiten Schluchten und Kuppen, Spalten und Engpässe, – hoch oben in weiter Ferne hier oder da ein Streifen blauen Himmels, aber nirgendwo ein Zeichen des Weges, der ihn hierher gefuhrt hatte.
Noch schlug sein Herz so ruhig und gleichmäßig wie immer, er versuchte die einzelnen Stufen des Gesteins der Reihe nach mit den Augen in Verbindung zu bringen und zu berechnen, wie er am besten nach oben kommen könnte. Vergebens! Dieser mündete nach rechts, jener nach links, der dritte lief in eine steile, ganz glatte Wand, und[280] der vierte zeigte Unterbrechungen, über die kein menschlicher Fuß hätte hinwegspringen können. Robert fragte sich umsonst, wie er durch dieses Gewirr überhaupt bis auf den Boden der Schlucht hinabgefunden habe.
Aber was half es. Die Sache mußte auf gut Glück hin versucht werden. Er kletterte mit der Hast der Aufregung in den nächsten Spalten empor und fühlte bald den Wind wieder um seine Stirn wehen. Jedenfalls hatte er an Höhe gewonnen, das gab ihm neuen Mut.
Von Zeit zu Zeit prüfte er die Entfernung des Himmels von seinem augenblicklichen Standort. Sonderbar, – sie blieb immer die gleiche.
Wo er sich jetzt befand, war er auch vorhin nicht gewesen, daran erinnerte er sich deutlich.
Die Zacken hörten auf, und eine Art Rinne oder Durchgang führte tiefer in den Fels hinein. Zugleich hörte Robert ein starkes Rauschen wie von Wasser. Ganz in seiner Nähe plätscherte es, aber sehen konnte er nichts. Vorsichtig weitergehend suchte er überall die Spuren des verlorenen Weges, stellte jedoch dabei fest, daß sich die Rinne, der er folgte, allmählich senkte.
Er kehrte um bis zu der Stelle, wo er das starke Rauschen bemerkt hatte. Es war ununterbrochen hinter der Felswand zu hören, doch ließ sich kein Tropfen Wasser erkennen, das Gestein war überall vollkommen trocken und fest.
Er kehrte noch einmal um, bis nach einer Wanderung von fünf Minuten der Paß sich dermaßen verengte, daß kaum noch ein Durchschlüpfen möglich war. Robert kroch vorwärts, – er maß besorgt die Entfernung zum Tageslicht.
Aber jetzt erschrak er doch so sehr, daß es kalt über seinen Rücken herablief. Was er hoch über sich sah, war die zierliche, schlanke Spitze des turmartigen Felsens, – er befand sich demnach bedeutend unter dem Spiegel des Sees.
Einen Augenblick lang stockte das Blut in seinen Adern. Schweiß stand auf seiner Stirn, und seine Knie zitterten. Das geheimnisvolle, unterirdische Wasser hatte ihn verlockt, den Zauberberg zu betreten und aus seinen verschlungenen Irrgängen den Rückweg zur Sonne, zu den Menschen vergeblich zu suchen – –
Kindheitsmärchen stiegen in seiner Erinnerung auf, er dachte an Rübezahl, an den Leibschneider der Zwerge, an »Schneewittchen über den Bergen, bei den sieben Zwergen«, an den Kobold[281] Rumpelstilzchen und all die anderen Gestalten, deren Abenteuer er so gern gelesen und an deren Stelle er sich tausendmal gewünscht hatte.
Jetzt war er so ein verzauberter, gefangener Märchenheld, der dem Bann des Hexenmeisters nicht früh genug aus dem Wege ging, und hinter dessen Schritten sich die Felsen, gehorsam ihrem Herrn, leise aneinander schoben, so daß er niemals wieder an die Oberfläche gelangte, – niemals zurück zu den Seinen.
Ein Schauder überlief ihn. Der stille, bergestiefe See hoch über seinem Kopf, – das war merkwürdig beklemmend und seltsam. – –
Sollte er rückwärts gehen oder weiter vordringen?
Er entschied sich für das Letztere. Vielleicht, machte er sich Hoffnung, liegt der Ausgang ganz nahe, – vielleicht sind es nur noch wenige Meter bis dahin.
Und fast schien es, als sei diese Vermutung richtig gewesen. Der schmale Schacht lief aus in ein freies, weites Tal. Robert sah sich plötzlich von dem Druck der ihn umgebenden engen Felsmassen erlöst und atmete befreit auf.
Aber als er näher herankam, – was war das?
Kleine Wasserlachen, glitzernd im Schein der untergehenden Sonne, hatten sich hier und da gebildet, kleine Vertiefungen waren mit bläulichem Schlamm überzogen, – ein unangenehmer Modergeruch erfüllte die Luft.
Robert wollte nicht glauben, was sich seinen Augen gebieterisch aufdrängte. Er setzte den Fuß auf die schwarze, glatte Fläche, – aber er tat es zögernd, vorsichtig.
Eine kleine Lache bildete sich sofort um seinen Fuß. Robert taumelte zurück vor Schreck – es war ein Sumpf, an dessen Rand die Felsspalte ausmündete.
Er war wie betäubt. Jetzt mußte er den ganzen beschwerlichen Weg nach oben noch einmal suchen.
Aber sollte ihn denn der Sumpf wirklich nicht tragen? –
Er versuchte es noch einmal. Aber umsonst, ganz umsonst. Wenn er fester auftrat, spritzte ihm der Schlamm entgegen.
Halb verzweifelt entschloß er sich umzukehren. Ihm graute vor dem Rauschen des unsichtbaren Wassers. Er lief so schnell wie möglich an dieser Stelle vorüber und atmete auf, als er sie hinter sich hatte.
Weiter, immer weiter hinein in das Felsenlabyrinth. Roberts Hände bluteten, aber er ließ nicht ab, einen Weg zu suchen. Oben[282] am Himmel wurde es allmählich dunkel, – er mußte sich beeilen, wenn ihn nicht die Nacht überraschen sollte. Wieder hatte er einen Gipfel erklettert und hielt Umschau.
Keine Verbindung mit den höhergelegenen Spitzen, kein Pfad, der von einer Kuppe zur andern geführt hätte.
Robert preßte die Lippen zusammen. Er dachte nicht mehr, rechnete oder beobachtete nicht mehr. Seine Pulse hämmerten, zehnmal machte er denselben Weg, zehnmal kam er im Kreislauf an den eben verlassenen Platz zurück. – –
Alle Schüsse bis auf einen, den er für den Fall eines Angriffs zurückhielt, gab er in die Luft ab, um möglicherweise den Lappen ein Zeichen zu geben, niemand antwortete, niemand hatte ihn gehört.
Von Zeit zu Zeit machte er kurze Rast. Seine Schläfen hämmerten, Hände und Füße schmerzten, er atmete schwer. Wie lange noch würde er diesen ebenso fruchtlosen wie gewaltigen Anstrengungen standhalten können.
Aber solche Augenblicke der Erholung waren kurz. Getrieben von innerer Unruhe sprang er schon nach wenigen Minuten wieder auf und begann noch einmal den Kampf.
Und dann kam ein Augenblick, wo er sich für verloren hielt. Ein Felsblock, der nur lose gelegen haben mußte, – vielleicht vom Blitz einmal aus größerer Höhe herabgestürzt, – ein schwerer, platter Felsblock rollte unter seinen Füßen in eine tiefe Kluft hinein und riß ihn unwiderstehlich mit sich fort. Robert schloß die Augen; er konnte nichts tun, um sich zu retten, und erwartete widerstandslos den letzten, vernichtenden Schlag. Auf dem Rücken liegend, das Gewehr in beiden Händen, glitt er auf dem großen Stein in die Tiefe.
Aber er hatte Glück. Als der Block auf Klippen und Spitzen einen Halt gefunden hatte, konnte Robert unversehrt wieder aufstehen; er war tüchtig durchgerüttelt und hatte die Knie blutig gestoßen, im übrigen jedoch schien der plötzliche Sturz keine schlimmen Folgen gehabt zu haben.
Robert überblickte wieder die Gegend. Es war kaum noch hell und keine Zeit mehr zu verlieren, wenn er noch einen Versuch machen wollte, das Lager der Lappen vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen. Vorsichtig stieg er den nächsten Felsgrat wieder hinauf.
Und da – welch ein Glück! Da rauschte der Wasserfall in unmittelbarer[283] Nähe, da stand er wieder in dem tempelartigen Raum, von dem aus er vor drei langen, fürchterlichen Stunden die Wanderung in das Innere des Berges unternommen hatte.
Jetzt erst gönnte er sich eine längere Rast, um aufzuatmen. Der Rückweg war gesichert, die Zeit, zu der ihn Mongo erwarten mußte, war noch nicht überschritten und die Richtung des Lappenlagers leicht gefunden. Zwischen den Bergen, wo die Zelte standen, brannte ein Feuer, das durch die Dämmerung heriiberschimmerte.
Robert trocknete den Schweiß von der Stirn. Wie wunderbar hatte ihn der fallende Stein gerade in dem Augenblick gerettet, als er sich verloren glaubte!
»Ich will vorsichtiger werden«, dachte er, »und ich will Mongo von der ganzen Geschichte kein Wort erzählen. Wenn ich zu unüberlegt handelte; so habe ich auch genug Angst dafür ausstehen müssen, deshalb geht es niemanden etwas an, als nur den lieben Herrgott und mich selbst.«
Als Robert mit langsamen Schritten die äußere Umgebung des Lagers betrat, kam ihm Mongo entgegen. »Pst, Bob, sprich mit niemand«, flüsterte er, »laß mich nur das Gewehr abgeben und geh du gleich in unser Zelt. Wenn mich nicht alles täuscht, so wird in dieser Nacht das Opferfest gefeiert werden. Ich habe so meine Beobachtungen gemacht.«
»Heute, Mongo?« antwortete Robert. »Das kommt früher, als du erwartet hattest.«
Der Neger rieb sich fröstelnd die Hände. »Schadet ja nichts, Bob«, sagte er. »Um so eher geht es zurück nach dem Süden, – nach Bergen, wo sich für uns beide schon eine Heuer finden wird.«
Roberts Gesicht hellte sich auf. »Eine Heuer!« wiederholte er, »ach, Mongo, wenn wir erst wieder Schiffsplanken unter den Füßen haben!«
»Will mich auch von Herzen freuen, wenn es erst ›Anker auf heißt‹!« sagte der Alte. »Aber jetzt geh du nur in unser Zelt, mein Junge.«
Robert verschwand, und der Neger brachte das Gewehr zurück, wofür er einige Mehlkuchen und einen Napf mit Milch von der alten Frau eintauschte. Robert fühlte jedoch keinen Appetit, sondern stand noch ganz unter dem Eindruck des eben Erlebten, so daß Mongo endlich die veränderte Stimmung seines jungen Freundes bemerken mußte. »Hast du eigentlich nichts geschossen, Junge?« fragte er. »Das Gewehr war doch mehr als einmal zu hören.«[284]
Robert errötete. »Ich habe einen Adler getroffen, Mongo, ein prachtvolles Tier, aber – der Körper fiel zwischen die Klippen, ich konnte ihn nicht erreichen.«
»Dann wollen wir morgen, wenn dazu noch Zeit bleibt, zusammen hingehen, Bob. Es wäre doch hübsch, als Andenken an diese Eiswüste, einen Adlerflügel mitzunehmen.«
Robert schüttelte den Kopf. »Ich habe es versucht, Mongo, – dahin, wo das tote Tier liegt, führt kein Weg. Überall steile Felswände, Jahrtausende altes Gestein, und doch rauscht in nächster Nähe ein unsichtbarer Wasserfall. Weißt du, ich glaube, daß viele dieser Felsen hohl oder doch von Einschnitten durchzogen sind.«
Der Alte nickte. »Natürlich, Bob, woher kämen sonst die Sagen und Märchen von den Bewohnern unterirdischer Felshöhlen? – Hierzulande hausen die Trollen in jedem Gebirge.«
In Robert flammte bei diesen Worten des Negers sein alter trotziger Übermut auf. »Mit zwölf oder zwanzig tüchtigen Männern, mit Seilen und Mauerhaken ausgerüstet, möchte ich die Geheimnisse dieser Felsen erforschen«, rief er, »und überall auf den Grund sehen!«
Mongo lächelte rücksichtsvoll. »Überall, Bob?« wiederholte er, »glaubst du das wirklich? Denkst du, daß du erreichen wirst, was Hunderte vergeblich mit allen Mitteln versuchten?«
Roberts Herz klopfte heftig. »Und warum nicht, Mongo? Einer kann nur der erste sein, das mußt du doch zugeben. Wenn vielleicht tausend Jahre vor mir schon ein Mensch das Rauschen dieses unsichtbaren Wasserfalles hörte, und rechts und links, oben und unten, in allen Spalten, allen Klüften vergeblich nach ihm suchte, – ist es darum gesagt, daß niemand nach ihm mehr Glück haben soll als er?«
Mongo beugte sich in der Dunkelheit des Zeltes weit vor und beleuchtete mit der kurzen Pfeife das blasse Gesicht des Jungen. »Und glaubst du«, fragte er langsam, »daß es ein so großer Gewinn sein würde, das Innere dieses einen Felsens kennenzulernen? – Tausende bleiben unerforscht, Rätsel reiht sich an Rätsel, während du alt wirst, Bob, während andere das erreichen, was du anstrebtest.« Denk an die Nordpolfahrer, an ihre ungeheuren Anstrengungen bis in unsere Tage. Keiner hat das Ziel erreicht, keiner wird es erreichen, aber viele hundert brave Männer wurden ein Opfer ihres Wissensdranges.
Roberts Augen glühten. »Willst du damit sagen, daß das Leben[285] zu viel wert wäre, um es für die Erforschung des Unbekannten in der Natur zu wagen, Mongo? Sollten tüchtige Männer, solange noch ein Fleck Erde unbekannt und unerforscht daliegt, die Hände falten und denken: vielleicht könnte ich mir bei der Sache schaden?«
Der Neger schüttelte den Kopf. »Nein«, antwortete er, »nein, gewiß nicht, Bob. Aber es gibt einen Unterschied zwischen besonnener Forschung und dem Ungestüm, der Gott versucht, indem er alle Schranken niederreißt und übermütig sagt: Ich will!«
Robert schob den hölzernen Napf zur Seite und warf sich der Länge nach auf die Rentierfelle. »Mongo«, rief er, »und doch gibt es nichts Schöneres, als im Bewußtsein seiner Kraft sagen zu können: Ich will!«
Es entstand eine Pause, dann fragte plötzlich der Alte: »Kennst du die Geschichte vom König Belsazar, mein Junge?«
»Nein. Was war mit ihm, Mongo?«
»Nun, Belsazar lebte herrlich und in Freuden, er herrschte, ohne sich um göttliche oder menschliche Gesetze zu kümmern, und eines Tages sogar, als er erhitzt vom Wein seines Übermutes kein Ende mehr kannte, da schrieb er an die Wand des Saales die frevelhaften Worte: ›Jehova, dir künd' ich auf ewig Hohn, ich bin der König von Babylon‹. – Aber was geschah plötzlich, während seine Schranzen und Speichellecker Beifall klatschten? Eine Hand erschien an der Mauer und verwischte die Schrift, nicht einmal, sondern immer wieder, sooft der König die Worte erneuerte. Noch in derselben Nacht ermordeten ihn bestochene Diener.«
»Sieh, Bob«, fuhr der Alte fort, »das paßt für dich und paßt auch wieder nicht. Du bist ein braver Kerl, aber ein Tollkopf, der das Eisen biegen und mit dem Leben spielen möchte. Die unheimliche Hand, die dem Belsazar Halt geböte täte auch dir manchmal gut.«
Robert antwortete nicht. Hatte der kluge alte Mann doch tiefer gesehen, als er ihm erlauben wollte?
Fast schien es so, denn Mongo kam auf das Gespräch nicht wieder zurück. Er sah durch die Spalten der Felle und prüfte ringsum die stille Umgebung. »Es ist Zeit, Junge«, flüsterte er dann. »Mach, daß du hinkommst, schleiche dich vorsichtig auf dem Nebenweg zum Felsen und laß mich sorgen, daß niemand hier eindringt. Die Kerle sind alle verschwunden.«
Robert erhob sich hastig vom Lager. »Auf Wiedersehen!« gab er zurück. »Das Opfer möchte ich um keinen Preis versäumen.«[286]
Mongo legte die Hand auf seinen Arm. »Aber wenn sie dich entdecken sollten, Bob – du kennst mich! Sobald ich dich rufen höre, antwortet dir das Kriegsgeschrei von Dahomey, und dein Freund kommt mit dem Holzbeil seiner liebenswürdigen Vertrauten, das er zu diesem Zweck schon in Sicherheit gebracht hat. Dort unter den Fellen liegt es.«
Robert lachte. »Du bist ein Querkopf, Alter«, sagte er, »ein richtiger Moralprediger, aber das Herz hast du auf dem rechten Fleck, und ich glaube, die Faust auch. Ich möchte mich mit dir, trotz deiner sechzig Jahre, nicht erzürnen.«
Der Neger schmunzelte zufrieden. »Ich glaube, daß du recht hast, Junge. Aber ich wäre längst ein toter Mann, wenn mich nicht dein Blut am Leben erhalten hätte!«
Robert knöpfte die Jacke von oben bis unten zu. »Das stimmt, Mongo, aber wo wäre ich, wenn du mich nicht aus dem Wasser gezogen hättest?«
»Im Haifischmagen, junger Spitzbube. Mach, daß du fortkommst.«
Sie trennten sich lachend, und Robert schlich davon; er wollte auf Umwegen den Felsen erreichen, von wo aus man die Opferstätte bequem überblicken konnte. Als er näher herankam, zeigte es sich, daß der ganze Stamm mit Ausnahme seiner weiblichen Angehörigen bereits versammelt war, und daß auf dem Felsen, der zur Feier dieses seltsamen Gottesdienstes ausersehen war, schon ein helles Feuer brannte.
Die Beleuchtung war an diesem Abend nur gerade hell genug, um die benachbarten Zinnen und Kuppen in dunklen Umrissen von dem Dämmergrau des nächtlichen Himmels abzuzeichnen. Wie Riesenwächter, Ungeheuer aus der Fabelzeit, erhoben ringsum die alten Berge ihre Häupter, von Wolken verschleiert stand der Mond am Himmel, und zu Füßen des Opfersteines, neben den Runensprüchen früher Jahrhunderte, scharten sich die dunklen, pelzbekleideten Gestalten, um mit entblößten Häuptern ehrfurchtsvoll schweigend ihre Andacht zu verrichten.
Wahrscheinlich hatte der größere Teil von ihnen daheim im Winterquartier in der kleinen, hölzernen Kirche aus der Hand des wandernden Missionars die Christentaufe und später den Segen der Konfirmation empfangen, aber dennoch beteten sie zu Jubinal, wie es die Voreltern getan hatten, und wie es ihnen von Kind auf durch Vater und Mutter schon heimlich eingeprägt worden war.[287]
Robert konnte sich bis an die äußerste Brüstung vorwagen und alles überblicken, ohne selbst gesehen zu werden. Das erste, was er bemerkte, waren die für das Opfer bestimmten Tiere, ein weißes Rentierkalb, ein Habicht und ein Hahn. Auch der Zauberer war zugegen, doch konnte ihm Robert nicht ins Gesicht sehen. Er hatte weißes, spärliches Haar und trug ein langes Gewand, das aus dem Fell eines Eisbären gefertigt schien und mit schwarzen Pelzstreifen besetzt war. Den Kopf bedeckte eine übergroße spitze Mütze, aus Federn und Bast kunstvoll geflochten und mit Muscheln geschmückt.
In der Hand trug dieser Mann ein großes, blitzendes Messer.
Vor ihm loderte jetzt das von mächtigen Holzblöcken unterhaltene Feuer hoch empor, während er selbst in unbeweglichem Stillschweigen verharrte. Nachdem er offenbar ein stummes Gebet beendet hatte, legte er plötzlich das Messer auf den nächsten Felsen und näherte sich mit erhobenen Händen einer bestimmten Stelle in der Steinwand. Ein kräftiger Griff schob zwei der kleineren Blöcke langsam zur Seite, – und ließ eine dunkle Höhlung dahinter erkennen.
Sobald die Steine wichen, waren sämtliche Lappen auf ihre Knie gesunken und hatten das Gesicht in den Händen verborgen, als fürchteten sie die körperliche Nähe eines höheren, allmächtigen Wesens, das viel leicht imstande war, sie durch einen einzigen Blick zu töten oder ihre verborgensten Sünden auf der Stirn zu lesen.
Der Zauberer nahm aus dem dunklen Raum eine seltsam geformte, steinerne Puppe von der Größe eines sechsjährigen Kindes, die jedoch nur den Rumpf darstellte, ohne Arme und Beine. Sie sah uralt, verwittert und grau aus und war plump behauen, mit einem Kopf, der ohne Hals in gleicher Breite der Schultern aus dem Körper herauswuchs. Das Gesicht war abschreckend häßlich, während in der Gegend der rechten Achselhöhle aus dem armlosen Rumpf ein kleiner, stumpfer Hammer hervorragte.
Diesen Götzen setzte der Zauberer mit allen Zeichen der höchsten Ehrfurcht und Vorsicht auf die Mitte der Tischplatte. Dann, nachdem er lange stumm in das häßliche Antlitz gesehen hatte, hob er den Blick und sprach laut zu den Versammelten einige Worte, die Robert natürlich nicht verstand, die aber offenbar andeuten sollten, daß sich Jubinal in gnädiger Stimmung befinde und daß es seine Verehrer wagen dürften, ihr Antlitz zu erheben.
Robert bemerkte auch sehr bald, wie einer nach dem anderen[288] schüchtern emporsah, wie sich diese, in ständiger Todesgefahr aufgewachsenen und sonst so mutigen Männer scheu aneinander drängten, wie sie kaum zu atmen und kaum die Köpfe zu erheben wagten, weil eine unförmige Steinpuppe vor ihnen auf dem Felsentisch stand.
Dann griff der Zauberer zu dem blanken Messer. Ein Wink brachte die Opfertiere in seine Nähe. Zuerst schnitt er dem weißen Kälbchen die Stirnhaare ab, ebenso dem Hahn und dem Habicht die kleinen Federn über den Augen, und warf sie in das Feuer, das sie knisternd verzehrte.
Hierauf zog er aus den Taschen seines weiten Gewandes eine Handvoll Gerstenkörner, bestreute damit alle drei Tiere und begann dann das Schlachtopfer. Eine Kufe von Holz stand bereit, das Blut aufzufangen, mehrere Männer hielten die zuckenden Glieder der Tiere und nach wenigen Minuten war dieser vorbereitende Teil des Festes lautlos vorübergegangen.
Robert fühlte sich ziemlich enttäuscht. Er hatte bis jetzt nichts gesehen, was ihm irgendwie feierlich vorgekommen wäre; auch die nun folgende Handlung fand er eher widerwärtig als erhebend. Der Zauberer nahm das Holzgefäß mit dem angesammelten Blut und begann ringsumher sowohl den Opferstein als auch den Fußboden und die greuliche Figur zu bespritzen. Durch die sofort gerinnenden schwärzlichen Tropfen sah die Gestalt nun erst recht abschreckend aus. Robert begriff nicht, wie es möglich sei, ein so unschönes Bild anzubeten.
Von diesem Augenblick an wurde jedoch die Sache etwas erträglicher. Der Zauberer nahm aus dem Fleisch der getöteten Tiere die Lebern, Herzen und Lungen heraus, dann warf er alles übrige in die Flammen, während er dazu mit lauter Stimme ein Gebet sprach. Dichter, schwarzer Rauch wälzte sich in die Nachtluft empor, Massen von Funken wirbelten auf, und ein nahes Echo warf den Schall zurück. –
Noch während die Knochen langsam verkohlten, während der Zauberer immerfort betete, steckte er die herausgenommenen Teile der Opfertiere an einen Spieß, den er über dem verglimmenden Feuer langsam drehte. Von Zeit zu Zeit übergoß er das Fleisch mit einigen stark duftenden Tropfen aus einer kleinen Flasche. Der Geruch, der sich entwickelte, war angenehm, aber fast betäubend. Robert konnte sich nicht erinnern, ihn schön früher irgendwo kennengelernt zu haben.[289]
Und dann begann eine Feierlichkeit, die durchaus dem christlichen Abendmahl glich. Die gebratenen Herzen, Lungen und Lebern wurden in ebenso viele Stückchen zerschnitten, wie Andächtige versammelt waren, und darauf eine mit Stroh umflochtene Flasche hervorgeholt, die dem Geruch nach einen starken, alten Wein enthalten mußte.
Der Zauberer nahm seinen Platz neben dem Götzenbild ein und hielt in einer Hand eine Schüssel mit den Fleischstücken, in der anderen die große Flasche. Auf ein gegebenes Zeichen bewegte sich der erste, dem Altar am nächsten stehende Lappe mit scheuem, langsamem Schritt bis vor den Opferstein, wo er demütig und mit auf der Brust gekreuzten Armen das Steinbild begrüßte, um dann von der Platte des Zauberers einen Bissen und aus der Flasche einen Schluck zu erhalten. Ihm nach folgte der zweite und darauf in ununterbrochener Reihe alle Anwesenden.
Während dieser Handlung wurde kein Wort gesprochen, keine einzige unnötige Bewegung gemacht. Schweigend, wie er gekommen war, trat jeder Lappe wieder an seinen Platz zurück, und eben in diesem Ernst, in dieser strengen Feierlichkeit lag etwas Erhebendes. Das Feuer war fast erloschen, nur manchmal knisterten und flammten rote Brände noch plötzlich empor, sonst aber versank nach und nach der Holzstoß in graue, stäubende Asche, der Rauch lichtete sich, die Umrisse der dunklen Gestalten verschwammen allmählich, und nur der feine, durchdringende Duft blieb in der Luft zurück.
Robert fühlte sich tiefer ergriffen, als er selbst für möglich gehalten hätte. Unwillkürlich erinnerte er sich des Tages, als er in der Dorf kirche zu Rellingen das Abendmahl empfing. Wenn auch jenes christliche Sakrament und dieses heidnische Opfer der armen Lappen ganz verschiedenen Anschauungen entsprangen, beide waren der Ausdruck einer Religion, des allen Menschen gemeinsamen Bedürfnisses, sich einer höheren, unbeirrbaren Macht schutzsuchend anzuvertrauen.
Was aber der jugendlichen Unbefangenheit Roberts bisher ganz entgangen war, das lernte er hier in der Wildnis kennen: die geistige und nicht bloß äußerliche Bedeutung eines Gottesdienstes. Jeden Sonntag war er früher mit Vater und Mutter zur Kirche gegangen, ohne Widerrede zwar und ohne leichtfertige Gedanken, aber doch auch nur gewohnheitsmäßig, während ihm durchaus nichts gefehlt haben würde, wenn der sonntägliche Kirchenbesuch unterblieben wäre. Die armen, ungebildeten Hirten dagegen[290] brauchten für die bevorstehenden Käufe und Verkäufe, für den Fischfang und die Reise nach dem Süden vor allen Dingen den Segen und den Beistand Jubinals, sie pilgerten meilenweit nach Norden, um auf den alten, geweihten Steinen ihrer Vorväter das Opfer darzubringen und ihre Gebete mit denen des Zauberers zu vereinen.
Der Gottesdienst war jetzt beendet. Die Steinpuppe wurde hinter den beiden bewegliehen Felsblöcken verborgen, die Asche in alle vier Winde verstreut und das hölzerne Gefäß sowie Schüssel, Messer und Flasche einem der Männer überantwortet. Stillschweigend, wie sie gekommen waren, entfernten sich die Lappen.
Robert hatte im Augenblick ganz vergessen, daß ihm der Tod drohte, wenn er entdeckt werden würde. Sorglos sprang er, nachdem der letzte der Andächtigen verschwunden war, bis an den Fuß des geweihten Felsens, um jetzt den Opferplatz genauer zu besichtigen und besonders das merkwürdige Götzenbild aus nächster Nähe zu betrachten.
Er legte die Hand an die verschiebbaren Blöcke, hielt sie jedoch plötzlich zurück. Durfte er das verschlossene Behältnis erbrechen und durch bloße Neugierde entweihen, was andere für heilig hielten? – Durfte er da eindringen, wo man ihm den Zutritt unbedingt verweigert haben würde?
Robert schwankte nur kurze Zeit, dann hatte er sich überwunden, er wandte sich um und suchte das Zelt, in dem Mongo rauchend saß. »Du«, sagte er nach einer Pause, »das war kein Hokuspokus, wie ich erwartet hatte.«
»Sicherlich nicht, Bob. Ich möchte überhaupt keines Volkes Religion mit dieser Bezeichnung herabsetzen. Eins ist in allen Irrtümern immer wahr, nämlich der Glaube an ein höheres Wesen, – und in dem Einen ist alles enthalten.«
Robert antwortete nicht, nur nach einer Pause sagte er leise »Gute Nacht!« – –
Am nächsten Morgen begannen mit Tagesanbruch die Vorbereitungen zum Auf bruch. Als Robert und Mongo aus dem Zelt hervorkrochen, herrschte unten im Tal schon rege Tätigkeit. Die Lasttiere standen gekoppelt, die übrigen hatte man mit Glocken versehen, und mehrere Treiber, mit Stöcken und Lassos in den Händen, waren so aufgestellt, daß sie die zusammengetriebenen Tiere erfolgreich an jeder Flucht hindern konnten.
Wo das Zelt des Zauberers gestanden hatte, wehte jetzt der[291] Wind über die kahle Fläche. Es war abgebrochen und jede Spur beseitigt, ebenso fand sich unter den Lappen kein einziger, den Robert als den eisgrauen Oberpriester der letzten Nacht hätte wiedererkennen können. Alle Männer beschäftigten sich mit dem Abbruch des Lagers, sie bepackten die Rentiere und schnürten zusammen, was sie selbst auf ihren eigenen Rücken tragen mußten.
Auch ein Wagen mit einem ledernen Schutzdach, halb Schlitten halb Karre, wurde hervorgezogen und mit zwei tüchtigen Rentieren bespannt. Dahinein setzte man die kleinen Kinder und die alten Frauen, während alle übrigen den langen Weg von sechzig bis achtzig Meilen auf ihren eigenen Füßen zurücklegen mußten. Robert und Mongo halfen überall, so daß gegen neun Uhr morgens, nachdem das Frühstück eingenommen war, die kleine Karawane ihren Zug beginnen konnte. Vierzig bepackte Rentiere, alle am Leitseil eines Führers oder einer Führerin, wanderten zu zwei und zwei gekoppelt mit der Sicherheit kletternder Ziegen über unwegsame Pfade, obgleich ihre Last keineswegs leicht war. Zelte, Decken, Brennmaterial, Kochgerät und die zum Verkauf angefertigten Waren, vor allem aber die gesammelten wertvollen Pelze lagen auf ihren breiten, geduldigen Rücken, und doch mußten sie sich an den Rastplätzen die spärliche Kost aus Rentierflechten selbst zusammensuchen, mußten sogar stellenweise den Schnee aufscharren, ehe sie Nahrung finden konnten.
Die braune Alte verteilte dann warme Milch, Mehlkuchen und etwas Fleisch, das zu diesem Zweck schon vorher gekocht worden war; der ganze Stamm lagerte sich um den Wagen, und mitten in der Wildnis wurde ein fröhliches Mahl gehalten. Bei solchen Gelegenheiten sah Robert auch den Zauberer, der auf seinem großen gezähmten Ren den Zug eröffnete und dem alle eine gewisse Ehrfurcht bezeugten.
Roberts Wanderlust kannte keine Grenzen. Die ganze Sache erschien ihm wie der Zug der Israeliten durch die Wüste, dem gelobten Lande entgegen. Jetzt gab es keine Gefahren mehr, sondern nur die Beschwerden des Marsches, und die machten ihm trotz Mongos Seufzen und Brummen nur Spaß. »Siehst du das Gebirge dort?« konnte er sagen. »Da möchte ich hinüberklettern!«
»So lauf, daß dir die Knochen knacken, du unkluger Junge. Als ob es noch nicht schlimm genug wäre, durch Sümpfe und über steinige Hügel zu pilgern!«
Robert lachte. »Sei doch nicht so unwirsch, Mongo. Es ist ja[292] schon bedeutend wärmer, und an geschützten Stellen wächst ab und zu ein Bäumchen. Noch vierzehn Tage, dann haben wir die Weideplätze der reichen Lappenfürsten vor uns, dann folgt noch ein kurzer Aufenthalt in den Lofoten, und mit erster Gelegenheit geht es nach Bergen oder Trondjhem, wo um diese Zeit immer viele Schiffe liegen. Wir werden schon hinkommen, Alter.«
»Aber wie! Die Sohlen bluten und der Rücken schmerzt. O nein, ein Seemann, der meilenweit zu Fuß gehen muß, das ist ja schrecklich!«
Robert unterdrückte einen Seufzer. »Freilich, Mongo«, antwortete er, »wenn wir ein Boot hätten und Wasser, um darauf zu schwimmen, das wäre angenehmer.«
Der Neger schüttelte den Kopf. »Ein Schiff, Bob, ein Schiff!« rief er lebhaft. »Wie schrecklich es werden kann, nur Wasser und ein Boot zu haben, das läßt du dir nicht träumen. Nein, nein, da lobe ich mir noch das feste Land, wenn es auch ein bißchen steinig ist und die Füße zerreißt.«
Robert horchte auf. »Du«, sagte er, »hast du solch eine Bootfahrt schon erlebt? – Bitte, Mongo, erzähle, das hilft dir über die Fußschmerzen hinweg.«
»Meinst du, Schlingel? Ich finde, es ist dazu auch noch früh genug, wenn wir uns abends zur Erholung auf den harten Steinboden strecken.«
Und dabei blieb es. Als die beiden, vom tüchtigen Marsch ermüdet, sich unter ihren Fellen zur Ruhe legten und sich rauchend und plaudernd die Zeit bis zum Einschlafen vertrieben, da erzählte Mongo von seiner unglücklichen Bootfahrt.
»Es war auf einem Passagierschiff«, sagte er, »einer Bremer Bark, die Auswanderer nach Australien bringen sollte. Es befand sich darunter auch die Familie eines wohlhabenden Kaufmanns, der nach Sidney übersiedeln wollte, bei dem aber unterwegs eine schwere Lungenkrankheit zum Ausbruch kam. – Wir hatten eine ausgezeichnete Fahrt und befanden uns bereits im Indischen Ozean. Noch heute weiß ich nicht, wie es dazu kam, aber plötzlich in der Nacht ertönte aus dem Zwischendeck der Ruf: ›Feuer! – Feuer!‹ Du kannst dir die Verwirrung denken, Bob, beschreiben läßt sich das gar nicht. Die Frauen kreischten oder wurden mitten auf Deck ohnmächtig, so daß man die armen, hilf losen Geschöpfe wie kleine Kinder forttragen mußte, die Männer kamen fassungslos die Treppe heraufgestürzt und jammerten, die Kinder schluchzten,[293] weil sie alle Erwachsenen in Tränen und Aufregung sahen, und die Mannschaft arbeitete mit der Hast der Todesangst an den Booten, um sie aufs Wasser hinabzulassen und mit den nötigen Lebensmitteln zu versehen. Wir hatten in Anbetracht der vielen Menschen eine große Gig und noch drei weitere Boote zur Verfügung, aber was machte das aus, da mehr als achtzig Personen innerhalb kürzester Zeit darin Platz finden, oder mit dem brennenden Schiff untergehen mußten?
Und diese Erkenntnis verbreitete sich an Bord mit unheimlicher Schnelligkeit. In Todesangst drängte sich jeder an die Schanzkleidung, um in das nächste Boot hinabzuspringen. Solche Stunden bringen ja auch den Besonnensten außer Fassung und lassen alle menschlichen Überlegungen zurücktreten. Da kennt keiner mehr seinen Freund oder Bruder, da stößt er jeden mitleidslos zurück, um selbst der erste zu sein.
Aber unser Kapitän war ein richtiger Mann, ein Kerl, der den Kopf auch im wildesten Sturm oben behielt, und dessen eiserner Wille sich immer durchsetzte. Er trat mit dem geladenen Revolver unter die erregte Menge.
›Ruhig, Leute‹, rief er gebieterisch aus, ›noch bin ich Kapitän auf diesem Schiff und verlange Gehorsam. Obersteuermann, nehmen Sie einen der drei Schiffsjungen, vier Matrosen und sechs von den Passagieren in die Gig. Hier, diesen Herrn mit den beiden Damen und drei Kindern. Gott befohlen, Roland, – kommen Sie glücklich an die nächste Insel.‹
Er drückte die Hand des Offiziers, der ihm einige leise Worte zuflüsterte, worauf unser braver Kapitän mit einem Kopfschütteln antwortete. Dann wurden vier Mann ausgewählt – darunter ich, der heulende Junge mit Rippenstößen ermuntert und die Passagiere in das Boot hinunter befördert. Ach, Bob, das war ein schrecklicher Auftritt. Der Kapitän hatte sich in der Eile verzählt und nur drei Kinder gerechnet, es klammerten sich aber vier laut jammernd an die Kleider der Mutter, die natürlich kein einziges Kind zurücklassen wollte. Da half nichts, der Kapitän mußte nachgeben, obgleich schon die Anzahl von zwölf Personen für unsere Gig viel zu groß war. Wir stießen so schnell wie möglich von dem brennenden Schiff ab, während der Kapitän mit gespanntem Revolver die nachdrängenden Menschen abwehrte. Ohne seine kaltblütige Entschlossenheit hätten sich zwanzig auf einmal in das kleine Fahrzeug gestürzt und es rettungslos untergehen lassen.[294]
So sahen wir denn aus einiger Entfernung zu dem unglücklichen, brennenden Schiff hinüber und konnten beobachten, wie der Kapitän auch die drei kleineren Boote bemannte. In jedes kamen ein Steuerkundiger, ein Matrose, ein Junge und fünf Passagiere, immer Frauen und Kinder zuerst. Als das letzte Boot im Begriff war abzustoßen, wurde der mutige Mann, der an sich selbst keinen Augenblick gedacht hatte, von der Überzahl der Verzweifelten zurückgeworfen, und mindestens zehn Männer sprangen über die Schanzkleidung in das Boot. Natürlich entstand ein furchtbares Durcheinander, ein Rufen und Drohen, zuletzt ein vielstimmiger Schrei des Entsetzens, und dann sank das Fahrzeug vor unseren Augen pfeilschnell in die Tiefe. Bald darauf kam es kieloben wieder an die Oberfläche. Einzelne der Ertrinkenden tauchten noch ein paarmal aus dem Wasser auf und griffen mit den Armen hilflos um sich, – dann wurde es still um das Schiff, nur einige Matrosen schwammen zu dem gekenterten Boot, richteten es auf und nahmen die Plätze ihrer verunglückten, dem blinden Wahnsinn der Passagiere geopferten Kameraden ein. Der Wind wurde immer stärker, er blies mit kurzen Stößen in die schon zum Teil brennenden Segel und trieb das steuerlose Schiff vor sich her, während die rote, höllische Glut alles in ihren weiten Feuermantel hüllte. Der Kapitän stand mit verschränkten Armen am Heck und grüßte noch einmal zu uns herüber, dann entzog sich das Schiff unseren Blicken. Wir sahen noch die brennenden Masten stürzen, einen Augenblick lang verbreitete sich Tageshelle, und dann erlosch plötzlich alles. Die See war über ihre Beute dahingegangen.
Wir durften uns dem Mitgefühl für die unglücklichen Kameraden nicht lange ungestört hingeben, denn unsere eigene Lage war bedenklich genug. Die Gig war etwa sieben Meter lang und anderthalb Meter breit, stellt man sich also darin dreizehn Menschen vor, darunter Frauen und Kinder, dann wird einem der Ernst der Lage vollständig klar. Überdies waren auch die Matrosen von Anfang an mutlos, weil sie die Unglückszahl Dreizehn fürchteten. Dreizehn Personen! Wie konnte das gut gehen?
Ärgerliche Blicke verfolgten das kleinste Kind der Frau. Ein Murren durchlief den Kreis der Seeleute. ›Eins ist an Bord zuviel!‹ sagten sie ziemlich ohne Scheu.
Roland, unser Steuermann, ließ aber nichts dergleichen aufkommen, er stellte sofort einen Mann an das Ruder, einen anderen an den Ausguck und ließ den Jungen Wasser schaufeln, so daß die[295] beginnende Meuterei im Keim erstickt wurde. Aber die arme Mutter hatte doch verstanden, daß man ihr Kind verwünschte, und schluchzte krampf haft. Sie hielt jetzt durch diese Herzlosigkeit der Matrosen das kleine Geschöpf für gefährdet und fiel von einer Ohnmacht in die andere. Nun stell dir die Lage vor, Bob, ein hustender, kranker Vater, eine alte Großmutter, die vor Angst und Schrecken kaum noch ihr Bewußtsein behält, die ohnmächtige junge Frau, das schreiende Baby und drei andere, unruhig krabbelnde Kinder, – dazu ein Seegang, daß die Wellen nur immer so in die Gig hineinstürzten und der Junge gar nicht so viel ausschaufeln konnte, wie in derselben Zeit wieder zurückflutete. Die Lage der armen Frau war schrecklich, ich habe sie von Herzen bedauert. Dabei war kein trockener Faden an uns allen, die armen Kinder standen bis an die Knie im Wasser, und jede neue See überschüttete sie mit einem Sprühregen.
Die Schiffsordnung wurde genau eingehalten, die Lebensmittel regelmäßig verteilt und das Wasser so sparsam wie möglich verbraucht, aber dennoch war die Stunde, wo wir alle vor Hunger und Durst umkommen mußten, mit ziemlicher Gewißheit vorauszusehen. Vierzehn lange Tage hatten wir schon in dem gebrechlichen, kleinen Fahrzeug auf hoher See verbracht, die Frauen und Kinder lagen im Fieber, der Schwindsüchtige hustete sich fast zu Tode, aber noch war kein Schiff, keine Küste in Sicht gekommen, und das Wasser in den Fässern begann abzunehmen.
Die Matrosen versuchten wieder zu meutern: ›Dreizehn an Bord! So können wir ja kein Land erreichen.‹
Roland verbot solche Worte, aber heimlich wurden sie doch geflüstert, nur daß die arme Mutter sie nicht mehr hörte. Sie lag im heftigsten Delirium und mußte offenbar immer mit den Schrekkensszenen der Feuersnacht beschäftigt sein, denn alle ihre verworrenen Reden deuteten auf die Angst hin, die sie im Fieberwahn immer wieder durchlebte.
Am fünfzehnten Tage besaßen wir nur noch einige wenige Stücke Brot und keinen Tropfen Wasser mehr, aber – es gab auch einen Menschen in dem verlassenen, verschlagenen Boot weniger. Die kranke Frau war ihren Leiden erlegen, ohne das verlorene Bewußtsein wiedererlangt zu haben. Auch der Säugling lag wie tot in den Armen seiner Großmutter, die immer noch bei jeder stärkeren Bewegung des Bootes ein ›Ach du allerhöchster Gott!‹ nicht unterdrücken konnte. Nie werde ich die Leidensgestalt dieser alten[296] Frau vergessen, wie sie so wochenlang vor mir dasaß, unveränderlich mit dem weißseidenen Hut und dem grauen Kleid, auf dessen Schleppe die Matrosen bei jeder Bewegung traten. Die arme Alte war wie ein Steinbild, sie schien an ihren Platz festgewachsen, und selbst als wir die Leiche ihrer Schwiegertochter so schonend wie möglich über Bord gehen ließen, – selbst in diesem Augenblick liefen nur die großen Tränen über das runzelige, ganz weiße Gesicht herab, aber sie schluchzte nicht und rührte kein Glied.
Am nächsten Tage starb auch das Kleine.
Wir waren jetzt an Bord nur noch elf. Unsere Zungen klebten am Gaumen, unsere Lippen wurden schwärzlich und sprangen auf, unsere Kräfte, schon erschöpft durch den Mangel an Nahrung, drohten uns zu verlassen. Wir erwarteten in einer Art dumpfer Verzweiflung den Tod, die kleinen Kinder schliefen fast immer.
Da, eines Morgens früh – ich werde den Augenblick nie im Leben wieder vergessen – erhob sich der Matrose am Ausguck plötzlich auf die Fußspitzen. ›Land!‹ rief er mit schwacher, aber vor Freude schluchzender Stimme, ›Land!‹
Alles taumelte auf. Unser Steuermann versuchte ein Hurra, das ihm in der Kehle stecken blieb, der Junge fuhr mit beiden Knöcheln seiner Daumen in die Augen, und der hustende Schwindsüchtige fragte in heiserem Ton: ›Ist es das Festland von Australien?‹
Er dachte nur an sich, und trotz seiner schrecklichen Krankheit war Rettung aus der augenblicklichen Gefahr der einzige Gedanke, den er fassen konnte, alles andere war ihm gleichgültig.
Die alte Großmutter rührte sich nicht. Sie hatte wahrscheinlich den Ausruf des Matrosen nicht einmal verstanden.
Und doch wiederholten alle von Zeit zu Zeit das erlösende, glückbringende Wort: ›Land! – Land!‹ –
Alle Blicke hingen an dem grünen, bewaldeten Ufer, an den immer näher und näher aus dem Wasser hervortretenden Umrissen der Küste. Es grünte und blühte in allen Farben, hohe Wipfel rauschten im Morgenwind, Kletterpflanzen schlangen sich von Zweig zu Zweig, bunte Vögel, besonders Papageien, wiegten sich in den Laubkronen, und hier oder da lugte ein Affe aus dem Gebüsch. Dazu die goldenen Sonnenstrahlen und die heitere, würzige Luft, die Aussicht auf Wasser, vielleicht auch auf frische Früchte, – kurz, wir waren in einer Art von Taumel.
›Ist es Australien?‹ krächzte wieder der unglückliche Kranke.
Roland war der einzige, der vollkommen ruhig blieb und auch[297] jetzt noch die Ordnung aufrecht erhielt. ›Es ist eine Insel, mein Herr‹, antwortete er, ›auf der unser Aufenthalt nicht von Dauer sein kann, weil dort wahrscheinlich Wilde hausen, und zwar ein bösartiger, grausamer Stamm, dessen vergiftete Pfeile auch bei dem geringsten Streifschuß töten.‹
Der Kaufmann erschrak sehr. ›Mein Gott, ich gehe gar nicht an Land‹, stammelte er.
›Das ist auch keineswegs erforderlich‹, sagte Roland lächelnd.
Die Küste war inzwischen erreicht, und wir sahen Kokospalmen mit reifen Früchten, Bananen und Feigen. Unsere Freude kannte keine Grenzen.
Ich sage dir, Bob, das ging wie auf Flügeln, bis die reifen Nüsse angebohrt waren und jeder von uns diesen natürlichen Becher an die Lippen setzte. Der alten Frau und den armen kranken Kindern flößte ich selbst etwas Kokosmilch ein, obgleich es bei den Kleinen nicht viel mehr nützte, als sie vor dem Ende noch einmal zu erquikken, aber ich mußte immer an meine eigenen Kinder denken, die auch einst so schutzlos, fremder Gnade überlassen, in die Welt hinausgestoßen worden waren, und darum nahm ich mich der Verlassenen an. Ihrem Vater konnten wir trotz allen Zuredens keine Kokosmilch aufdrängen. ›Das reizt den Husten‹, antwortete er, ›Nüsse sind sehr schädlich.‹
Und dann, nachdem der erste Heißhunger gestillt war, schafften wir Vorräte in das Boot. Zwei Mann gingen mit geladenen Gewehren tiefer in die Wildnis hinein und suchten eine Quelle, während zwei andere die nächststehende Palme in aller Eile fällten und die Früchte an Bord brachten. Auch Bananen und Feigen rafften wir zusammen, soviel sich tragen ließ, dann nahm unser Steuermann mit dem Oktanten genau die Sonnenhöhe, zeigte uns auf der Karte, wo wir waren, und nachdem die beiden vorhandenen Fässer mit wundervollem, frischem Wasser gefüllt waren, stießen wir vom Lande ab. In diesem Augenblick tönte uns aus den nächsten Büschen das Kriegsgeschrei der Malaien entgegen, und ein Hagel von Pfeilen schlug rechts und links ins Wasser. Die halbnackten gelben Gestalten, die häßlichen Gesichter und das wütende Geschrei übten im ersten Augenblick eine solche Wirkung, daß wir nicht schnell genug vom Lande fortkamen, um einem zweiten Hagel hölzerner Pfeile zu entgehen, obwohl wieder keiner traf. Nur ein einziger bohrte sich in den weißen Hut der alten Dame, die ihn ärgerlich ergriff und über Bord warf.[298]
Zugleich aber stürzten sich sechs oder zehn Wilde in das Wasser und schwammen aus allen Kräften dem Boot nach, offenbar um es zu entern. Der schwindsüchtige Herr stieß einen lauten Schrei aus.
›Leute, Leute, um des Himmels willen, erschlagt die Räuber‹, rief er.
Unsere Matrosen machten auch wirklich Miene, die Lenkung des Bootes gänzlich fallen zu lassen und den Kampf mit den Malaien aufzunehmen, aber Roland verhinderte rechtzeitig dies tolle Wagnis, das unfehlbar unseren Untergang hätte herbeifuhren müssen.
Seine Befehle, in festem Ton gegeben, brachten das kleine Fahrzeug in noch schnellere Fahrt, und bald hatten wir die schwimmenden Wilden weit hinter uns gelassen. Nur das teuflische Kriegsgeschrei gellte uns über den Ozean nach.
Wir hatten aber doch wieder für mindestens acht Tage Proviant und Wasser, daher verspotteten wir aus sicherer Entfernung die wütenden Gelben und sangen ihnen Spottlieder zu oder warfen Kokosschalen nach den auf- und abtauchenden Köpfen. Der Kranke hustete, daß es in jedem Augenblick schien, als müsse seine eingefallene Brust springen.
Und so fuhren wir auf gut Glück weiter. Tag um Tag verging, eine Kokosnuß nach der anderen wurde zersägt, wir alle waren krank von der unverdaulichen Nahrung, und ehe eine Woche seit der Landung auf der Insel vergangen war, starben die unglücklichen kleinen Kinder aus Mangel an richtiger Pflege vor unseren Augen, ohne daß wir Mittel besaßen, sie zu retten. Am neunten Tage hatten wir wieder keinen Tropfen Wasser mehr und lagen bei fast völliger Windstille fast verzweifelt auf dem Boden des Fahrzeuges.
Nur Roland behielt seinen festen, unerschütterlichen Mut. Er zeigte uns auf der Karte, wo sich das Boot befand, und daß wir dem kleinen Hafen von Plangei auf Sumatra ganz nahe sein müßten, ja, daß das Land jeden Augenblick in Sicht kommen könne, aber – seine Worte machten keinen Eindruck. Wir hörten kaum auf ihn, sondern ergaben uns ohne Gegenwehr der tiefsten Mutlosigkeit.
Es wurde Nacht, die See ging höher und höher, ein Sturm brach los und noch einmal hatten wir Glück, – Ströme von Regen fielen herab auf unsere brennenden Stirnen, wir konnten trinken, trinken!
Du ahnst nicht, Bob, was es heißt, langsam zu verdursten. Die[299] schwerste Krankheit, der heftigste Schmerz sind dagegen Kinderspiel.
Roland nickte zufrieden. ›Jetzt gebt acht, Leute‹, rief er. ›Es zieht ein Gewitter herauf, und wo die Blitze herabfahren, da ist Land!‹
Neu erfrischt und belebt hoben sich alle Köpfe. Wir waren bis auf die Haut durchnäßt, unsere Füße standen bis über die Knöchel im blanken Wasser, aber das ließ sich doch immer noch weit besser ertragen als vorher der quälende Durst. Neugierig sahen wir unserem Steuermann über die Schulter, als er in der Dunkelheit einen noch dunkleren Punkt bezeichnete. ›Ich möchte wetten, daß dort das Ufer liegt!‹ rief er.
Wir strengten unsere Augen an und rieten hin und her, bis plötzlich der erste gelbe Blitz über den Horizont dahinlief und gedankenschnell herabzuckte, dann jubelte der Steuermann ein lautes Hurra.
›Seht ihr's, Kinder, seht ihr's. Dort ist Land!‹
›Wissen Sie das genau, Herr?‹ fragte einer der Matrosen.
›So genau, wie man überhaupt derartige Regeln aufstellen kann‹, antwortete Roland. ›Nur ausnahmsweise schlägt der Blitz in der Nähe des Landes ins Wasser. Aber für diesen Fall befurchte ich nichts, da der elektrische Funke immer die gleiche Richtung verfolgt. Vor uns ist Land!‹
Diese sichere Überzeugung verfehlte ihre Wirkung nicht, obwohl jetzt eine neue schwere Sorge unsere Kräfte in Anspruch nahm. Wir hatten auf dem schwankenden Boot mit einem einzigen Segel und ohne eine Notspiere dem orkanartigen Gewittersturm standzuhalten. Blitz und Donner rasten immer stärker, der Wind heulte, und der Regen schoß in Strömen herab, aber doch waren wir voll Hoffnung, da das Land immer näher kam. Wir sahen es beim Schein der roten, zuckenden Blitze ganz deutlich.
Nun mußt du wissen, daß Plangei zu dem von den Holländern beherrschten Teil der Insel Sumatra gehört und dort also durchaus schon europäische Einrichtungen bestehen. Der Strandvogt, ein wetterbrauner, tüchtiger Kapitän von der holländischen Marine, ließ ein großes, mit zehn Malaien bemanntes Boot auslaufen, um uns Hilfe zu bringen und uns zugleich als Lotsen zu dienen. Es gab noch einen harten Kampf mit den empörten Wellen, der Junge wurde über Bord gespült und konnte erst nach lange Anstrengung wieder aufgefischt werden, aber dennoch brachten uns die braven Seeleute schließlich wohlbehalten ans Ufer. – Ich sage dir, es war[300] wie im Paradies, Bob, als wir endlich festen Boden unter unseren Füßen fühlten, als wir warme Speise bekamen und uns zum Schlaf so bequem wie möglich ausstrecken durften. Die schlechten hölzernen Häuser, die halbwilden Malaien, die harten Schlafstellen aus Seegras und Wolldecken, alles erschien uns wunderbar, berauschte uns förmlich. Wir tanzten und jubelten wie Kinder am Weihnachtsabend.
Der Strandvogt behielt uns acht Tage lang in seinem gastfreundlichen Hause, dann ließ er unser Boot ausrüsten und mit Lebensmitteln versorgen, und nach einem herzlichen, dankerfüllten Abschied ging es wieder auf die Reise, um längs der Küste über mehrere kleine Fischerdörfer nach dem bedeutenderen Hafen von Padang zu kommen. Vorher jedoch hatten wir noch eine Szene zu bestehen, die uns allen ins Herz schnitt. Die alte Dame war durch das erlebte schreckliche Unglück vollkommen stumpfsinnig geworden, sie ließ sich aus dem Boot und in das Haus des Strandvogtes tragen, ohne von ihrer Umgebung irgendwelche Notiz zu nehmen, doch als wir an Bord gingen und ich sie sorgfältig an ihren gewohnten Platz setzen wollte, da schien eine Erinnerung des Überstandenen in dem gestörten Gehirn wieder aufzuleben. Sie sträubte sich wie in Todesangst, klammerte sich mit beiden Händen an die Türpfosten und zitterte wie ein erschrecktes Kind.
Wir konnten es kaum mit ansehen, mußten aber doch freundliche Gewalt brauchen, denn in Plangei gab es weder zu Wasser noch zu Lande ein Beförderungsmittel nach anderen Hafenplätzen, während Roland trotzdem verpflichtet war, die beiden geretteten Passagiere des verbrannten Schiffes an das Bremer Konsulat abzuliefern und zu Protokoll zu geben, was im Boot geschehen war, seit es das untergehende Schiff verlassen hatte. Von den drei kleinen Booten, die mit uns zugleich abstießen, hatten wir, wie ich zu erzählen vergaß, nie etwas wiedergesehen.«
Robert hatte der Schilderung des Alten gespannt zugehört. »Und ihr erfuhrt auch später nichts, Mongo?« fragte er teilnehmend bei den letzten Worten.
»Doch!« nickte der Neger. »Ein aus der Sundastraße kommendes Schiff hat die vier treibenden, gekenterten Boote aufgefischt und eingeliefert. Sie trugen alle den Namen ›Susanna‹, erwiesen sich also dadurch als die zu der verbrannten Bark gehörigen kleinen Rettungsboote, – aber von den Insassen war keiner am Leben geblieben. Gottes Wege sind unerforschlich, Bob. So viele junge[301] Menschen gingen mit dem Schiff in wenigen Stunden unter, und zwei Menschen, die dem Tode schon verfallen waren, kamen mit dem Leben davon. Wir brachten die geistesgestörte alte Frau und den kranken Mann wohlbehalten nach Padang, wo sie der Konsul in Empfang nahm und mit dem nächsten Dampfer nach Hause schickte. Wir Seeleute erhielten die Heuer ausbezahlt, man, sammelte für uns und tat alles Mögliche, um uns die Leiden dieser schrecklichen Reise vergessen zu lassen, dennoch aber wird mir jede Einzelheit der Fahrt ewig im Gedächtnis bleiben. Was wir während dieser Wochen ertrugen, das spottet aller Schilderung und läßt sich furchtbarer nicht denken.«
Robert zog seine Decke über die Schultern herauf. »Ich glaube es dir, Mongo«, nickte er. »Die Tatlosigkeit, die enge Gefangenschaft auf so kleinem Raum muß ganz entsetzlich gewesen sein. Ich wäre gewiß – –«
»Nun?« fragte nach einer Pause der Alte.
»Nichts, Mongo. Gute Nacht!«
»Gute Nacht, mein Junge.«
Die beiden schliefen Seite an Seite unter den warmen Rentierfellen, bis am nächsten Morgen das gewohnte Zeichen, eine Art Kuhhorn, mit seinen melancholischen Brummtönen zur Weiterreise mahnte. Und wieder ging es über Berge und Täler, mit jedem neuen Sonnentag entfaltete sich alles ringsumher zum Erwachen, zum Leben. Der Boden verlor die Felsbildung, der Wind hörte auf, Kälte und Regen mit sich zu führen, überall begann es zu grünen und zu blühen, und der Baumbestand nahm immer mehr zu. Es gab jetzt schon Kiefern, Birken und schlanke Tannen, sogar einige kleine Eichen, es wurde wärmer, und dann kam endlich der Tag, an dem man bei dem großen Lappenlager am Fuße des Kilpis angelangt war. Der Maalself stürzte von einem hohen, stumpfen Kegel mit donnerndem Rauschen in sein steinernes Bett herab, die Abhänge des himmelhohen Felsens erhoben sich kantig und zackig fast bis zu den Wolken empor, und hohe Bäume ragten im Schmuck des jungen Grün aus dem tiefen Tal herauf. Hier war jeder Meter Boden fruchtbarstes Ackerland, hier gab es weite Rasenflächen, und überall weideten Rentiere, deren ausgedehnten Futterplatz man sorgfältig eingefriedet hatte.
In der Nähe des Wasserfalles, an einer besonders geschützten Stelle, lagen die Wohngebäude, die Stall-und Arbeitsräume der Lappen, alles nur riesige Zelte, mit vier Stämmen in der Erde[302] befestigt und durch Pflöcke gehalten, aber mit geteertem oder geöltem Segeltuch bespannt und gut eingerichtet. Während bei dem wandernden Stamm überall die bitterste, trostlose Armut zutage trat, herrschte hier bei den reicheren Verwandten offensichtlicher Wohlstand, der sich besonders in der Kleidung ausprägte. Statt der rohen, ungeschlachten Säcke aus Fellen trugen diese Hirten und Hirtinnen die Tracht der weißen Kolonisten, nämlich die Männer das blusenartige Jagdhemd mit Tuchhosen, großen Lederstiefeln und schwarzem, spitzem Hut, den eine Adlerfeder schmückte, – und die Frauen das braune oder helle Kleid mit langen Flechten und einer breiten, schneeweißen Schürze.
Die geöffneten Türen des großen vorderen Zeltes zeigten im Innern eine vollständig eingerichtete Meierei. Es wurde Butter und Käse bereitet, man scheuerte die blanken Geräte und kochte an einem riesigen Feuer für die ganze große Schar das Essen.
Es sah hier alles anders aus als bei den armen Nomaden, die im Winter Handschuhe strickten und Zwirn und Holzgeräte arbeiteten, um sie im Frühling gegen die unentbehrlichsten Lebensmittel und Hausgeräte bei dem Krämerkolonisten einzutauschen und doch trotz aller Mühe ewig in dessen Schuld zu bleiben. Dieser Stamm dagegen trieb ausgedehnten Handel und bedeutenden Fischfang in den Lofoten.
Der Zauberer verließ, als man den Lagerplatz erreicht hatte, sein Reittier und näherte sich, allen andern voran, dem Wohnzelt, das höchstwahrscheinlich einem Anführer oder besonders reichen Manne gehörte. Schon sehr bald kam er zurück, begleitet von einem Lappen, der ihm Zeltplätze anwies und dann die Herde einer Musterung unterwarf. Jedem Tier, das in die Umfriedung getrieben wurde, schnitt er ein Zeichen in das Haar, die älteren aber wurden zum Schlachten bestimmt und in einen gesonderten Raum gesperrt. Alles, was Robert sah, deutete auf Ordnung und Wohlstand hin.
Von ihm selbst und seinem schwarzen Gefährten mußte der Zauberer auch gesprochen haben, da sich der junge Lappe, nachdem er die Tiere ausgesondert hatte, den beiden näherte und ihnen seine derben, braunen Fäuste darbot.
»Ihr seid willkommen«, sagte er in einer Sprache, die so sehr an die Dänische erinnerte, daß ihn Robert sofort verstand. »Bleibt unsere Gäste, solange es euch beliebt, und seid zufrieden mit dem, was wir bieten können. Hier ist niemand reicher als der andere, hier sind keine Herren und keine Diener, sondern jeder findet sein[303] bescheidenes Teil an den Gaben Gottes. Kommt in das Zelt meines Vaters und eßt und trinkt.«
Robert schlug sofort ein. Zwar klangen die Worte des jungen Burschen etwas blumenreich und außergewöhnlich, aber doch vertrauenerweckend. Er übersetzte sie dem Neger, und die beiden traten in das Zelt, wo ihnen Rentiermilch, Bärenschinken und eine kalte, gebratene Rentierkeule sowie die bekannten Mehlkuchen vorgesetzt wurden. Nach wenigen Stunden schon waren sie mit ihren neuen Gastgebern gut befreundet, und Helge, der Sohn des alten Stammesführers, versprach ihnen, sie schon morgen nach dem Westfjord mitzunehmen, wo jetzt die getrockneten Fische von den Stangen gehoben, verpackt und verladen wurden, die man seit dem März der Sonne und dem Wind ausgesetzt hatte.
Für diese Arbeit trafen die Wanderlappen hier ein, während die Männer von der ersten Reise, dem Märzfischzug, bereits wieder nach Norden gegangen waren, um dort während der Sommermonate zu ernten, was der kurze Sonnenschein dem Boden abgerungen hatte, um zu jagen und die Stammtiere der zahllosen Rentierherden zu weiden. Ewig unterwegs, lebt und stirbt der Lappe auf der Wanderschaft über die Gebirge und Hochflächen seiner öden Heimat.
Robert sprang vor Freude, während Mongo den ganzen Tag ausruhte und sich von den Strapazen der Wanderung wieder zu erholen suchte. »Hier sind Lebensmittel im Überfluß«, sagte er, »ich brauche also kein Brennholz zu spalten oder Wasser herbeizuschleppen, wie damals in dem verwünschten Gebirge, wo eine Zwiebel schon ein Leckerbissen war und ein Stück gekochtes Leder ein Feiertagsschmaus. Meine alte Freundin sitzt, wie ich sehe, auch den lieben langen Tag im Sonnenschein ohne zu arbeiten, – ich mache es wie sie.«
Robert lachte und bestieg mit Helge die großen geduldigen Rentiere, die sie nach dem Westfjord bringen sollten. Seine Reitkunst war zwar seit Pinneberg nicht mehr geübt worden, so daß er wie ein richtiger Seemann auf dem Rücken des Tieres hing, oder besser, wie ein Feuerzange auf dem Rost. Helge lachte laut, aber schon nach kurzer Zeit hatte Robert die erste Angst überwunden, die Hörner des gutmütigen Tieres losgelassen und sich straffer aufgerichtet. »Habe ich doch nie im Leben gehört, daß die Rentiere zum Reiten benutzt werden«, sagte er. »Ich hielt sie nur für milchgebende[304] Kühe, deren Fell und Fleisch man wie das der Rinder verwendet.«
Helge nickte. »Ist auch ganz so wie du sagst, Herr«, antwortete er. »Die gewöhnlichen Rentiere aus den Finnmarken setzen ihren Reiter sofort wieder ab oder lassen überhaupt einen solchen Versuch gar nicht erst zu, aber die von der Halbinsel Kola, eine größere, zahmere Rasse, die jedoch selten eingefangen wird, eignet sich zum Reiten ganz besonders. Du kannst so ruhig sein, als säßest du auf dem Schoß deiner Mutter, der ›Tiermer‹ wird dich nicht abwerfen.«
Robert sah auf. »Tiermer?« wiederholte er, »das Wort habe ich schon häufig gehört. Was bedeutet es?«
Der Lappe sah ihn mißtrauisch an. »Weiß nicht, Herr«, antwortete er kurz. »Ist eben ein Name wie deiner und meiner auch.«
»Du sollst mich nicht Herr nennen, Helge«, rief der Junge. »Ich heiße Robert, gewöhnlich abgekürzt in Bob!«
Der Lappe neigte lächelnd den Kopf. »Aber du bist ein Weißer«, sagte er, »und du verachtest, wie alle deine Brüder, die armen, schmutzigen Bewohner der Finnmarken.«
Robert lachte hell auf. »Ich und jemand verachten!« rief er. »Das gibt es bei uns zu Hause nicht. Wir schätzen den Mann nach seinem Verdienst, aber nicht nach seiner Hautfarbe.«
Der junge Lappe seufzte tief. »Dann möchte ich, daß unser Gebiet an deine Heimat stieße, Bob. Hier sind wir nur geduldet wie die Tiere der Wüste, da man sie nicht töten darf.«
Robert schwieg. Er dachte an das heidnische Opfer hoch oben auf den Felsenbergen der äußersten Eismeerregion, an das steinerne Götzenbild und die Blutstropfen auf seinem abschreckenden Antlitz, er glaubte plötzlich den feinen Wohlgeruch wieder zu atmen und sah die braunen Gestalten, wie sie sich vor dem Bilde Jubinals tief verneigten und dann das sonderbare Abendmahl aus den Herzen der Opfertiere empfingen – –
Dabei hatte er das »Tiermer« gehört, er wußte es jetzt genau.
Schweigend ritt er mit seinem Begleiter weiter. Der breite Westfjord schimmerte schon von weitem herüber, als er zu dem jungen Lappen begann: »Bist du ein Christ, Helge?«
Derselbe mißtrauische Blick von vorhin streifte ihn wieder. »Wir sind alle Christen, Herr«, antwortete der Bursche.
»Auch der Stamm, mit dem ich hierher kam?«
»Auch der. Wo trafst du übrigens meine Brüder?«
»Am Eismeer«, antwortete Robert. »Hoch oben im Gebirge.«[305]
»So, so. Rastete der Stamm an dieser Stelle?«
»Einige Tage lang. Ich konnte mit niemand sprechen und weiß also nicht, warum. – Aber sage mir doch«, fügte er hinzu, um den Gegenstand des Gesprächs zu wechseln, »sage mir doch, wie dein Rentier heißt, Helge.«
Der junge Lappe schien einen Augenblick zu zögern, dann aber heftete er den Blick auf Roberts Gesicht und antwortete ruhig: »Das Tier heißt ›Jubinal‹.«
»Jubi –«
Robert ließ den Namen unvollendet. Er besann sich zur rechten Zeit, daß es gefährlich und undankbar sein würde, die Geheimnisse der armen Nomaden auszuplaudern. »Es kam mir wieder so vor, als hätte ich auch dies Wort schon einmal gehört«, sagte er nur. »Vielleicht heißen viele Tiere so.«
»Sehr viele«, war die einsilbige Antwort.
Wieder stockte das Gespräch, und Robert wandte seine ganze Aufmerksamkeit dem Westfjord zu. Da sah er an langen Stangen am Ufer die Millionen getrockneter Fische in der Luft hängen und überall die arbeitenden Männer, welche die reichliche Beute in Sicherheit brachten.
In den Buchten lagen zu Hunderten die Fischerboote und weiter draußen die Jachten, die den Ertrag des Fanges nach Tromsö bringen sollten. Robert sah sehnsüchtig nach den schlanken Fahrzeugen mit dem weißen Bug und den weißen, glänzenden Segeln. »Helge«, sagte er, »kennst du keinen von den Kapitänen?«
Der Lappe nickte. »Kenne sie alle, Herr. Sind die Krämer von den Ansiedlungen in den Schluchten und an den Fjords, jeder fuhrt sein eigenes Schiff.«
Robert machte ein erstauntes Gesicht. »Krämer?« wiederholte er. »Und diese Männer sind gleichzeitig auch Seeleute?«
»Ja. Seefahrer, Großhändler, Gaardbesitzer, Krämer und Viehzüchter, alles zugleich. Hier ist nur der etwas wert, der die rauhe Gegend und das rauhe Wetter in jeder Weise auszunutzen versteht. Sonst könnte er sich nicht ernähren.«
Robert fühlte sich ziemlich enttäuscht. »So hat also wohl jeder dieser Krämer-Kapitäne seine Schiffsbesatzung fix und fertig in Knechten und Lehrjungen dastehen?« rief er verächtlich.
»Du sagst es, Herr!« antwortete der Lappe.
»Und fremde, wirkliche Matrosen werden nicht geheuert?«
»Auf diesen Jachten, nein. Du mußt dich in Bergen nach[306] einem Kapitän umsehen. Dort gibt es welche aus aller Herren Länder.«
Robert atmete auf. »Helge, wüßtest du eine Gelegenheit, bald dahin zu kommen?« fragte er den jungen Lappen.
Der zuckte die Achseln. »Müssen sehen, Herr«, antwortete er.
Robert begriff nicht, weshalb der junge Mensch plötzlich so verändert und schweigsam erschien. Helge hatte offenbar anfangs großes Gefallen an ihm gefunden, und jetzt war er fast abweisend geworden. Als sie das Ziel erreicht hatten und die Rentiere an einen Baum gebunden waren, näherte er sich Robert. »Du bleibst an meiner Seite, Herr!« sagte er leise, aber im Ton eines Befehls. »Begleite mich, ich habe mit den Männern dort zu sprechen.«
Dabei deutete er mit der Rechten auf eine Gruppe von Lappen, die auf langen Holzbänken die gedörrten Fische zu einzelnen Haufen schichteten und bei dieser Arbeit laut sangen oder sprachen, während sich der salzige, unangenehme Geruch weithin bemerkbar machte. »Wir reiten in einer Viertelstunde zurück«, fügte er hinzu.
Robert schüttelte den Kopf. Etwas in ihm sträubte sich gegen diesen Ton. »Ich bleibe am Strand«, sagte er, »und zwar um womöglich mit einem der Schiffer zu sprechen.«
»Das verbiete ich!« beharrte der Lappe.
»Du? – Mit welchem Recht?«
»Ich zwinge dich dazu! – Du bist ein Gast im Zelt meines Vaters, du bist ein Bettler, den das Meer an unseren Strand geworfen hat, das vergiß nicht.«
Roberts Blut schoß heiß in seine Wangen. Das Wort »Bettler« nahm ihm wieder einmal seine ganze Besonnenheit. Ehe sich der Lappe versah, brannte auf seinem Gesicht ein Schlag, der ihn fast zu Boden geworfen hätte. »Nimm das von dem Bettler!« rief der junge Matrose zornig. Er stand mit blitzenden Augen und geballten Fäusten vor seinem Gegner, der zwar wütend wie ein gereiztes Raubtier aussah, aber keinen Versuch machte, die Ohrfeige zurückzuzahlen. »Bist du auch noch ein Feigling dazu?« rief er.
In diesem Augenblick berührte die Hornspitze einer langen Pfeife von hinten seine Schulter, und als er sich umsah, bemerkte er einen älteren Mann in Schiffertracht, der mit spöttischer Miene den ganzen Auftritt beobachtet hatte.
»Schlagen sich zwei junge Narren auf offener Heerstraße!« sagte er spöttisch lachend.
»Der Lappe hat mich beleidigt!« rief Robert errötend, »Er hat[307] mich einen Bettler genannt, weil ich schiffbrüchig an diese Küste geworfen wurde und auf der Wanderung vom Eismeer hierher notgedrungen das Brot seines Stammes essen mußte. Ist das gut und gerecht, Herr?«
Der Mann antwortete nicht. Seine blauen, klugen Augen forschten in dem Gesicht des Lappen. »Warum hast du das getan, Helge?« fragte er.
Der junge Rentierhirt schwieg.
Der Norweger lächelte schlau. »Du bist also am Nordkap gestrandet?« wandte er sich zu Robert. »Als Walfischfänger natürlich? Und da oben trafst du die Lappen?«
»Ja, Herr.«
»Wir kennen hier keine Herren, Junge. Ich bin der Patron Gulbrandson, das genügt. – Und du, Schlingel«, redete er den anderen an, während sich sein breiter Mund zum Grinsen verzog, »du fürchtest, daß dieser schlagfertige junge Seebär wohl ausplaudern könnte, was höchstwahrscheinlich da oben in der Eiswüste passiert ist, nicht wahr? Oder denkst du, daß deine schmutzigen Gesellen am Nordkap, wo kein Baum wächst und kein Leben gedeiht, – zu Jesus Christus gebetet haben, he?«
Helge sah mit mißtrauischem Blick auf. »Wir sind alle Christen, Patron Gulbrandson«, antwortete er verbissen.
»Aha! Dachte wohl, daß ich den Nagel auf den Kopf getroffen hätte«, lachte der Norweger. »Ist nicht angenehm, für Götzendienerei und Heidenkram vor Gericht gerufen zu werden und in das Gefängnis zu wandern, wie? Kann mir das lebhaft denken, und kein Jubinal und kein Tiermer schützt davor, wenn's herauskommt. Aber würdest du denn hingehen und wie ein altes Weib ausschwatzen, was du gesehen hast, Bursche, wie?« wandte er sich an den erstaunten Robert, der jetzt erst den Zusammenhang der Dinge vollständig begriff.
Eine Handbewegung antwortete ihm. »Nein, niemals!« rief der junge Matrose, »ich würde niemals den Verräter spielen.«
Patron Gulbrandson lachte. »Du gefällst mir«, nickte er. »Willst sicherlich eine Heuer annehmen, nicht wahr? Möchtest nach Bergen fahren, denke ich.«
»Ja, ach ja! In das Lager der Lappen gehe ich nicht wieder zurück, und sollte ich hier verhungern müssen. Nehmen Sie mich mit nach Tromsö, Patron.«
Der Norweger rauchte in großen Wolken. »Kennen hierzulande[308] gar kein ›Sie‹,« brummte er. »Ist vielleicht dänische und deutsche Sitte, wir mögen es nicht. Nennt einer den andern ›du‹, und wenn's der Amtmann von Tromsö selber ist. Aber du gefällst mir, Junge, habe dir's ja schon gesagt, ist Mut in dir und eine frische Art, mag dich leiden, mit einem Wort. – Meine Jacht geht morgen nach Tromsö unter Segel, und wenn du mitwillst, so komm an Bord, ich erlaube es. Aber vorher noch Frieden mit diesem Burschen hier. Der Mensch soll nicht im Zorn scheiden, und wäre es auch von einem gelben, schmutzigen Lappen.«
Da wandte sich Helge plötzlich ab und rannte wie ein Hase in Sprüngen zu den Rentieren, deren Halfter er durchschnitt und sich auf den Rücken des einen schwang.
Mit einem wilden, gellenden Schrei jagte er in das Gebirge zurück. Wie der Blitz schoß ihm Tiermer, das ledige Ren, auf den Fersen nach.
»Fort ist er!« sagte Olaf Gulbrandson. »Kenne sich einer aus bei den Lappen. Sie sind von ihren Tieren so wenig zu trennen, wie von ihren alten Heidengöttern, und wenn bis zum jüngsten Tage von unserem Herrn und Heiland gepredigt werden würde.«
Er hatte das mehr für sich als zu seinem jungen Begleiter gesprochen. Jetzt erst sah er, daß Robert kreidebleich dem dahinjagenden Hirten nachblickte. »Nanu?« rief er, »was ist denn los, Junge? Siehst ja aus wie ein altes Weib, das im Gebirge einem Höhlengeist begegnet ist!«
Robert gab ganz verstört den erstaunten Blick des Patrons zurück. »Leb wohl«, sagte er, »ich muß fort, ich darf mich nicht länger auf halten, Patron. Da oben bei den Lappen ist noch ein Gefährte von mir, ein alter Neger, den ich nicht verlassen darf!«
Er wollte sich rasch abwenden, aber Olaf Gulbrandson hielt ihn am Arm zurück. »Du bist nicht gescheit, Junge«, rief er, »glaubst du etwa, daß es dir möglich wäre, zu Fuß über die Fjellen zu laufen?«
»Ich muß, und wenn es noch so schwer sein sollte. Sie könnten den Alten ermorden.«
»Pah! Das fällt ihnen nicht ein. Sie bewachen ihn, bis er auf einem Schiff sitzt und der Stamm ins Innere des Landes zurückgeht. Wie konntest du Helge aber auch von dem Baalsdienst seiner Genossen erzählen?«
»Das habe ich nicht getan!« rief Robert lebhaft. »Du darfst mir nicht solche Gedankenlosigkeit zutrauen, Patron! Ich wußte noch[309] nicht einmal, was der Lappe dachte, als er schon aus einigen Andeutungen zusammengesetzt hatte, daß ich – nun, meine Schuld ist es nicht. Aber dem Neger darf nichts geschehen, Patron Gulbrandson. Bitte, laß mich fort, hörst du!«
»Das tue ich nicht, Junge, du läufst in dein Verderben hinein, blind und toll wie ein Verrückter. Du kennst ja den Weg gar nicht, fünf Stunden müßtest du marschieren, auch wenn es dir gelänge, dich zurechtzufinden, also gib den Plan auf. Der Neger wird nicht ermordet, ich, Olaf Gulbrandson, stehe dir dafür.«
Robert schüttelte den Kopf. »Willst du mir wirklich raten, meinen Gefährten im Stich zu lassen und selbst hier in Sicherheit zu bleiben, während sein Schicksal von der Großmut einiger Lappen abhängt, – Patron Gulbrandson, willst du das wirklich?«
Der Schiffer runzelte die Stirn. »Sind alle Grünschnäbel in Deutschland so vorlaut, alten Leuten derartige Fragen zu stellen, Bursche?«
Robert wandte sich ab. »Leb wohl, Patron, ich danke dir nochmals für dein freundliches Anerbieten, aber ich darf nicht. Wenn ich mit Mongo wieder hierher zurückkomme, wird deine Jacht längst die Anker gelichtet haben. Glück auf die Fahrt.«
Er grüßte und lief ohne weiteres fort, den Spuren der beiden galoppierenden Rentiere nach. Olaf Gulbrandson schob die Pelzmütze in den Nacken, rauchte wie ein Fabrikschornstein und sah ihm sprachlos nach. Erst als Robert seinen Blicken zu entschwinden drohte, faßte er sich.
»Hallo, Junge«, rief er mit gewaltiger Stimme, »hast du denn den Teufel im Leib? Ich will dir helfen, dir Leute mitgeben, hörst du? Komm zurück, Schlingel!«
Robert stand unschlüssig still, als er aber den Norweger mit langen Schritten nachkommen sah, kehrte er um und ging ihm entgegen. »Sprichst du im Ernst, Patron Gulbrandson?« fragte er. »Sonst halte mich nicht auf; es würde nichts nützen.«
Der Norweger war ganz außer Atem. »Ich scherze nie, Junge«, antwortete er, »aber am allerwenigsten in ernsthaften Dingen. Du sollst ein paar Kerle haben, die den Weg kennen, und Brot und Fleisch auf die Wanderung, sonst könntest du nicht lebend in das Lappenlager kommen. Wart einen Augenblick!«
Sein gellender, langgezogener Pfiff rief aus einem der Boote zwei Männer herbei, die in ledernen Kleidern, mit schweren[310] Stiefeln und Pelzmützen an Land kamen, begleitet von mehreren ganz kleinen, schlanken Hunden, wie sie zum Vogelfang zwischen den Klippen verwendet wurden. Es waren »Quäner«, Mischlinge von Lappen und Weißen.
Olaf Gulbrandson schien diese Leute in seinem Lohn zu haben, denn er befahl ihnen mit kurzen Worten, den nötigen Proviant aufzupacken und den jungen Matrosen in das Lappenlager zu führen. Heimlich flüsterte er dabei noch einige Worte, die Robert nicht verstand.
Die Vogelfänger gingen zu einer Bretterhütte am Strand und kamen dann sehr bald zurück, auf den Schultern trugen sie eine Art Lederranzen und in den Händen lange, eisenbeschlagene Stöcke. So ausgerüstet machten sie sich mit Robert auf den Weg, und alle drei marschierten in die Steinwüste hinein.
Patron Gulbrandson sah ihnen mit zufriedenem Lächeln nach. »Ist ein frischer Junge«, murmelte er, »könnte ein Norweger sein, einen so festen Willen hat er. Wird sich durchsetzen, wird den Schwarzen befreien, und sollte es blutige Köpfe kosten.«
Er kehrte zu den arbeitenden Lappen zurück, während die drei anderen ohne viele Worte ihres Weges zogen. Auch die Quäner waren überzeugt, daß dem Neger kein Leid geschehen werde, und diese dreifache Versicherung beruhigte Robert einigermaßen. – Es war Nacht, als er mit seinen beiden Begleitern das Lager der Lappen erreichte.
Die Rentiere grunzten in ihrer eigentümlichen Weise, die Zelte lagen in dunklen Umrissen da, und alles war totenstill. Robert teilte geräuschlos die Vorhänge der luftigen Behausung, in der Mongo und er während der letzten Nacht geschlafen hatten, er tastete am Boden und untersuchte mit Händen und Füßen den ganzen kleinen Raum.
Vergebens, – es war niemand darin.
Ein eisiges Grauen überlief seine Glieder. Wo sollte er jetzt den Alten suchen?
Leise flüsternd teilte er seine Entdeckung den beiden Quänern mit. »Wollen wir Lärm machen, das ganze Lager in Aufruhr bringen, mit Gericht und Geistlichkeit drohen?« fragte er.
Ein Zischen wie ein halblautes, verächtliches Lachen traf sein Ohr. »Schau her«, flüsterte einer der Vogelfänger, »hier ist das Mittel, den Verlorenen wiederzufinden, allerdings nur, wenn du irgendeinen Gegenstand hast, der mit ihm in Berührung gekommen[311] ist, den er getragen hat oder worauf er lag. Gibt es dergleichen?«
Er zog bei diesen Worten die beiden kleinen, wieselähnlichen Hunde aus den Taschen seiner weiten Lederjacke hervor und setzte sie sorgfältig auf den Boden. »Sind keine Felle im Zelt?« fragte er.
»Das wäre das beste.«
Robert unterdrückte einen Freudenruf. »Hier! Hier!« antwortete er, »aber werden die kleinen Dinger imstande sein, eine Spur zu verfolgen?«
Die Quäner antworteten nicht. Sie rieben nur mit den Rentierfellen die Schnauzen der beiden kleinen Tiere, dann folgte der leise bestimmte Befehl: »Such, Freia! Such, Thor!«
Die Hunde gehorchten sofort. Sie schnupperten eine Zeitlang am Boden und wandten sich dann wie auf Verabredung dem eingezäunten Platz zu, wo die Rentiere gefangen gehalten wurden. Dort gingen sie spürend und suchend im Kreise herum.
»Sven«, flüsterte einer der Vogeljäger, »gib mir die Flasche. Wir werden noch meilenweit wandern müssen.«
Der andere reichte ihm das Verlangte. »Weshalb, Steen Norrick?« fragte er.
»Das wirst du sehen, Sven. Aha, es geht schon weiter.«
Die Hunde hatten sich während seiner letzten Worte in Bewegung gesetzt und liefen statt einem der Zelte vielmehr dem Ausgang des Tales zu. Über eine Viertelstunde lang gingen die drei Männer schweigend den Tieren nach, bis endlich Robert seine Unruhe nicht länger zügeln konnte. »Ich bitte euch«, sagte er, »wohin gehen wir? Die Hunde laufen ja direkt ins Gebirge hinein.«
Steen Norrick pfiff leise. »Du kannst vielleicht ein Schiff steuern oder ein Segel am obersten Top festmachen, Freund«, sagte er, »aber von der Jagd verstehst du nichts. Überlasse es nur uns, zu beurteilen, was Thor und Freia leisten können. Diese Hunde laufen nie zu ihrem Vergnügen in der Welt herum, wie es eure tun, sondern sie arbeiten und spüren ihr Leben lang, ganz wie wir selbst. – Nun, was gibt's denn, Freia?«
Die letzten Worte galten der kleinen Hündin, die offenbar die Spur verloren hatte, und nun winselnd zurücklief, um sie noch einmal zu suchen. Aber sooft auch der Faden wieder gefunden wurde, – an einer bestimmten Stelle zerriß er immer aufs neue. Hier konnten die Füße des Negers den Boden nicht mehr berührt haben.[312]
Die Vogeljäger trennten sich. Bei dem schwachen Schein des Mondes nahm der eine das Hündchen Thor unter den Arm und ging mit ihm etwa zwölf bis zwanzig Schritte weiter in den Wald hinein, während Sven, der andere, bei Freia blieb und das Tier in der nächsten Umgebung der Stelle, an der die Spur aufhörte, weitersuchen ließ.
Robert sah stumm dem Treiben der beiden riesigen, schweigsamen Männer zu, die mit ihren derben Gliedern und ihren Hünengestalten einen äußerst zuverlässigen Eindruck machten. Er dachte beschämt an den Patron Gulbrandson. Was wäre wohl aus ihm geworden, wenn sich der erfahrene alte Mann nicht so väterlich seiner angenommen hätte?
»Ruhe«, ermahnte er sich selbst, »Ruhe! Es muß ja der richtige Weg sein. Die beiden Jäger sehen nicht aus, als könnten sie etwas Unüberlegtes tun.«
Er beobachtete abwechselnd die Versuche der Quäner. Während Steen Norrick von Zeit zu Zeit das Hündchen einige Schritte weit vorwärts trug, brachte Sven das seinige an jede Felsspalte, jeden Engpaß und jede Klippe, aber immer noch ohne den geringsten Erfolg, bis endlich Steen Norrick einen halblauten Ruf hören ließ. Der andere Quäner ergriff sofort seinen Spürhund, folgte mit langen Schritten dem Vorangegangenen und machte es Robert schwer zu folgen. Der Jagdeifer hatte offenbar die beiden Vogeljäger ergriffen, daß sie darüber alles andere vergaßen.
»Hast du die Spur gefunden, Steen Norrick?«
Der andere deutete auf das Zwerghündchen. »Von nun an wirds besser gehen«, sagte er. »Behalte Freia nur im Arm, ich bin meiner Sache sicher.«
Schweigend setzte der kleine Zug seine Wanderung fort, bis sich nach etwa fünfzig Schritten die gleiche Szene wiederholte. Jetzt aber war und blieb die Spur verloren.
Die Jäger sahen sich an. »Rentiere!« sagte Sven. »Der Neger sollte reiten und weigerte sich, er fiel herab, wurde weiter geschleift, wieder auf das Rentier gehoben und festgebunden.«
Steen Norrick nickte. »Ja, du hast recht, Sven Böge!« antwortete er. »Gut, so haben wir's leichter.«
Sie pflückten sorgfaltig das spärliche Moos, das auf dem Felsboden wuchs, und rieben wieder die Schnauzen der beiden Hunde. »Such! Such!«
Thor und Freia folgten jetzt den Spuren der Rentiere. Es ging[313] ohne Unterbrechung talauf, talab, immer weiter, und als gegen Morgen der Boden etwas sumpfig wurde, erkannte man deutlich im Dämmergrau des jungen Tages die Spuren der Hufe, die sich auf der feuchten, moorigen Erde scharf abgedrückt hatten.
»Wirklich!« rief Robert, »eure Hunde behalten recht. Wie habt ihr ihnen nur das Spüren beigebracht und wozu braucht ihr es, wenn ihr nur Vögel jagt?«
Steen Norrick lächelte. »Du fragst viel auf einmal«, antwortete er. »Die Fähigkeit des Spürens ist diesen Tieren von Natur eigen. Wir richten sie nur besonders ab auf den Vogelfang, weil sie dazu die geeignete Größe haben.«
»Wieso denn das?« fragte Robert neugierig.
»Nun, da die Alken und Möwen in Felsritzen ihre Nester bauen, so braucht man diese winzigen Hündchen, um sie aufzuspüren. Wohin kein Menschenfuß gelangen und kein Blick dringen kann, da finden Thor und Freia die brütenden Vögel, denen man dann meistens leicht die Eier wegnehmen kann. In vielen Fällen sind auch die alten Tiere zu erreichen, die man ohne solche Hunde nur selten auftreibt.«
Robert staunte. Weiter ging es, immer weiter, obwohl seine Kräfte anfingen nachzulassen. Man war jetzt zehn Stunden ohne Aufenthalt marschiert, und die kleinen Hunde liefen immer noch nebeneinander mit der Nase am Boden vorwärts. Es schien, als sei bis jetzt an kein Ende dieser aufregenden Wanderung zu denken.
Da hob plötzlich Steen Norrick die Hand. Alle drei Männer standen still.
»Ein Ren!« flüsterte der Vogeljäger, »ich höre deutlich das Grunzen.«
Die beiden andern horchten atemlos. Deutlich klang jetzt der leise Ton durch die stille Morgenluft zum zweitenmal herüber.
Es konnte keine Täuschung sein. Hinter einem Gebüsch lagerten die Gesuchten.
Steen Norrick legte den Finger auf den Mund. Dann lockte er durch eine Bewegung seiner Hand die beiden Hündchen zu sich heran, gab jedem aus dem Ranzen ein Stück Fleisch und versenkte sie wieder in seine weiten Jackentaschen.
Dann kamen aus den Brusttaschen der beiden Jäger plötzlich zwei doppelläufige Pistolen zum Vorschein. Mit gespanntem Hahn, den schweren Bergstock in der linken, schlichen die riesigen Nordländer vorwärts, und Robert folgte ihnen.[314]
Helges Stimme tönte sehr bald der kleinen Schar entgegen. Was er aber sprach, das blieb dem jungen Matrosen unverständlich, da es die Mundart der Gebirgslappen war, in der er offenbar mit einem Kameraden sprach. So eifrig auch Robert horchte, den Sinn der Worte verstand er nicht.
Desto besser begriffen jedoch die Vogeljäger. Sie sahen sich lächelnd an, und dann neigte sich Steen Norrick zu Robert herüber: »Der gelbe Schurke hat deinen Freund geknebelt und ihm seit seiner eigenen Rückkehr vom Westfjord nichts mehr zu essen gegeben«, raunte er. »Es ist seine Absicht, den Neger noch eine ganze Tagereise weit in die Wüste zu führen und ihn dort halbverhungert auszusetzen, damit er nie wieder zu den Weißen zurückkehren könne. Jetzt laß mich weiter horchen, aber sei ganz still!«
Robert bezwang mit Mühe seine Erregung. Er wagte jedoch nicht, sich den Anordnungen der beiden Vogeljäger zu widersetzen.
Die Lappen sprachen fortwährend miteinander, und Steen Norrick horchte angestrengt. »Dachte es wohl«, flüsterte er in Roberts Ohr, »dir war das gleiche Schicksal bestimmt. Sobald du dich im Lager wieder blicken ließest, wollte man auch dich in die Wüste führen. Kannst deinem Herrgott danken, daß du die Geschichte von den heidnischen Opfern nicht am Feuer der Lappen erzähltest, sonst wärest auch du jetzt auf dem Rücken eines dieser Tiere von der Insel Kola rettungslos in die Steinwüste gebracht worden, und kein Mensch hätte dein Verschwinden bemerkt, niemand von den Deinen hätte jemals wieder etwas von dir gehört. Werde vorsichtiger, Junge, bevor du wieder die Sitten und Gefahren fremder Länder gegen dich herausforderst!«
Robert antwortete nicht. Das war eine ernste und zugleich milde Lehre, aber sie drang ihm in ihrer Einfachheit tief ins Herz.
Steen Norrick nahm jetzt die Pistole schußbereit und winkte seinem Begleiter, dasselbe zu tun. Wie ein Gespenst aus dem mitternächtlichen Grabe emporsteigt, lautlos und plötzlich, so standen im nächsten Augenblick die Riesengestalten der beiden Vogelfänger vor den entsetzten Lappen, die, ihrer Sache vollständig sicher, sich ganz bequem in das Moos gelagert hatten und bei Branntwein, Brot und Fleisch eine längere Rast hielten, während der unglückliche Mongo auf dem Rücken des Rentiers so von Seilen umschnürt war, daß er kaum atmen konnte und in halber[315] Betäubung dalag. Seinen Bitten um einen Schluck Wasser war mit Hohnlachen geantwortet worden.
Sobald Robert sah, daß die Vogelfänger den Kampf aufnahmen, sprang er mit einem freudigen »Hurra, Mongo, die Hilfe ist da!« – aus dem Gebüsch und drang bis zu dem gefesselten Freund vor.
»Sven Böge!« rief er, »Sven Böge, gib mir dein Messer!«
Der Riese trat, ohne die beiden wie versteinert dasitzenden Lappen aus den Augen zu lassen, näher und überreichte dem jungen Matrosen ein Messer, das bestimmt sein mochte, im Notfall einem Bären den Genickfang zu geben. Robert zerschnitt, so schnell es ging, die Seile und half dem Alten herab.
Helge und sein verbrecherischer Gefährte hatten sich inzwischen einigermaßen gesammelt und waren von ihren Sitzen aufgesprungen. »Was wollt ihr, Steen Norrick und Sven Böge?« fragte mit drohendem Blick der Sohn des Lappenhäuptlings, »weshalb bedroht ihr friedliche Jäger? Setzt euch zu uns und nehmt, was wir euch bieten können.«
Diese Dreistigkeit empörte selbst die ruhigen Nordländer. »Schurken!« rief Sven Böge, während sein Gefährte vor Abscheu auf den Boden spuckte, »elende, gelbe Diebe und Heiden, die ihr seid. Wollt ihr etwa leugnen, diesen Neger hier als Gefangenen in die Wüste geschleppt zu haben, – wollt ihr leugnen, daß oben am Nordkap ein greuliches Zauberwesen getrieben worden ist, ihr Spitzbuben und Heiligtumsschänder?«
»Auf!« befahl Steen Norrick. »Wir bringen euch an Händen und Füßen gefesselt nach der Stadt, angeklagt der Götzendienerei und des Menschenraubes. Da könnt ihr im Gefängnis eure Schandtaten bereuen. Wir beide, mein Vetter und Genosse Sven Böge und ich selbst, werden bezeugen, daß ihr alles dieses eingestanden habt, denn wir haben vorhin eure ganze Unterhaltung Wort für Wort mit angehört.«
Diese Worte änderten plötzlich die ganze Lage, Während sich der zweite Lappe auf die Knie warf und heulend um Gnade flehte, kreuzte Helge die Arme und sah unverwandt in das Gesicht des Vogeljägers. »Geh, Steen Norrick, geh und bringe uns in das Gefängnis, Sohn eines weißen Vaters, dessen Frau – deine Mutter, Steen Norrick! – auch aus dem Stamme der Samelads hervorgegangen ist. Schände den Herd, an dem deine Mutter aufwuchs, schände dein eigenes Mischblut, indem du uns dem Richter preisgibst.«[316]
Die Adern auf der Stirn des Nordländers schwollen, seine Augen glühten, seine Fäuste ballten sich, und schon im nächsten Augenblick krachte ein Schuß, den jedoch Sven Böges plötzlicher, geschickt angebrachter Schlag gegen den Lauf der Pistole unschädlich verhallen ließ. Der Vogeljäger war an seiner verwundbarsten Stelle getroffen, man hatte ihm seine Abstammung vorgeworfen und dadurch seinen Zorn auf das heftigste gereizt.
»Laß mich!« knirschte er, mit Sven Böges kräftigen Armen ringend. »Laß mich, der gelbe Hund soll sterben.«
»Steen Norrick«, sagte mit warnender Stimme der andere, »besinne dich! Hast du vergessen, was der Patron Gulbrandson befahl?«
Der Jäger schien zu erschrecken, wenigstens zögerte er. »Willst du dich von diesen schmutzigen Schuften ohne weiteres kränken lassen?« schrie er.
»Ein Lappe kann mich weder beleidigen noch kränken, Steen Norrick.«
»Das sagt der Sohn einer Frau aus dem Blut der Samelads!« murmelte Helge.
»Die Pest über dich!« – –
Und mit diesen Worten stürzte sich der Nordländer auf den Lappen, den er ohne weiteres zerdrückt haben würde, wenn nicht von anderer Seite plötzlich etwas dazwischen gekommen wäre. Die beiden kleinen Hündchen in den Taschen, durch die ungestümen Bewegungen Steen Norricks in Gefahr gebracht, begannen jämmerlich zu heulen, so daß der Vogeljäger erschrak, als habe ihn eine Schlange gebissen. Den Lappen von sich stoßend, beruhigte er seine Lieblinge, während Sven Böge mit energischem Griff den zweiten Gelben vom Boden emporzog und ihm befahl, die Tiere aufzuzäumen. Nachdem das geschehen war, erhielten Mongo und Robert die Anweisung, sich abmarschbereit zu halten, und das dritte Ren wurde mit Vorräten beladen, bevor es der Nordländer am Zügel ergriff.
»Komm hierher, Helge!« rief er.
Der Lappe gehorchte zögernd. Sein Gesicht war vor Zorn und Furcht aschgrau. Sven Böge packte ihn wie einen Warenballen und untersuchte mit seinen großen Händen jede Falte, jede Tasche, ehe er ihn wieder freigab. Nachdem er auch den zweiten Lappen auf Schußwaffen abgetastet hatte, trieb der Jäger die Rentiere zum Auf bruch. »Vorwärts!« befahl er. Und dann wandte er sich zu[317] den Lappen: »Daß ihr euch in angemessener Entfernung haltet, ihr Spitzbuben! Wer sein gelbes Gesicht sehen läßt, dem geht es schlecht!«
Ein Zungenschlag brachte die Tiere in Bewegung. Robert und Mongo ritten, während die Vogeljäger zu beiden Seiten gingen. Steen Norrick schien sich seines Zornausbruchs zu schämen, denn er biß die Lippen aufeinander und sprach keine Silbe.
Robert klopfte ihm auf die Schulter. »Wie können wir euch danken?« fragte er. »Ihr habt uns beiden das Leben gerettet.«
Der Nordländer lächelte. »Mach nicht so viele Worte, Fremder«, antwortete er, »oder würdest du in unserer Lage anders gehandelt haben?«
»Nein!« rief mit überzeugender Sicherheit der junge Matrose, »nein, bestimmt nicht!«
Die Vogeljäger sahen ihn wohlwollend an. »Na also!« meinte Steen Norrick.
Und dann ging es im ersten Sonnenlicht des Morgens durch das Gebirge. Die beiden Nordländer schienen keine Müdigkeit zu kennen. Ebenso straff und sicher, wie sie vor gut zehn Stunden aufgebrochen waren, marschierten sie auch jetzt eisern dahin, bis gegen Mittag Rast gehalten wurde. Robert erhob sich neu gestärkt, nahm die leeren Ranzen und Körbe auf den Rücken und überredete die Nordländer, jetzt zu reiten. Er selbst ging an Mongos Seite und erzählte ihm, was er während der Zeit ihrer Trennung erlebt hatte. Der Neger konnte immer noch kein Wort sprechen, aber er drohte gutmütig mit erhobenem Zeigefinger, als ihm der junge Sausewind erzählte, daß er dem Lappen gegenüber ganz ahnungslos die Namen »Jubinal« und »Tiermer« genannt habe.
Robert errötete wieder. »Ich will vorsichtiger werden, Mongo.« sagte er auf englisch, »diese Lehre soll mir nicht verloren gehen.«
»Du junger Spitzbube!« wollte Mongo mit seinem Lieblingsausdruck antworten, aber er brachte nur ein unverständliches Krächzen heraus, so daß alle laut lachten.
In bester Stimmung erreichte der kleine Zug gegen Abend das Ufer des Westfjords. Das Lappenlager hatten die Jäger umgangen, so daß es zu keinem Streit oder Kampf gekommen war.
Roberts erster Blick ging zum Wasser. Er suchte die Wimpel der Jacht, und – – was er im stillen gehofft hatte, das bestätigte sich. Das schlanke Schiff lag noch vor Anker, während Patron[318] Gulbrandson breitspurig und mit der langen Pfeife im Munde auf dem Strandweg stand.
Sein wetterbraunes Gesicht lachte, als er die Ankömmlinge sah. »Hallo!« rief er, »das nenne ich Glück! Habt drei Rentiere erbeutet und einen Neger. Brr, wird der aber in der Stadt Aufsehen erregen!«
Robert streckte voller Dankbarkeit dem Alten seine beiden Hände entgegen. »Du hattest recht, Patron Gulbrandson«, sagte er, »und ich bitte dich wegen meiner unüberlegten Worte um Verzeihung!«
Der Norweger schmunzelte. »Konnte mir denken, was inzwischen geschehen ist«, antwortete er, »kenne die gelben Spitzbuben seit vierzig Jahren aus täglichem Umgang und weiß, was sie wert sind. Haben wohl Ach und Weh geschrien, als die Quäner plötzlich auftauchten, dachten nicht, daß hinterm Berge auch noch Leute wohnen?«
Die beiden Vogeljäger erzählten nun alles, was sich ereignet hatte, und der Patron nickte äußerst zufrieden. »Wolltet gern mit nächster Gelegenheit nach Tromsö, ihr beiden?« fragte er, mit der Pfeifenspitze zugleich auf Robert und den Neger deutend.
Mongo verstand ihn nicht, aber Robert antwortete an seiner Stelle und sah unwillkürlich dabei voll Sehnsucht hinaus auf den Fjord, wo die hübsche Jacht vor ihren Ankerketten schaukelte.
»Würdest du uns wohl an Bord des ›Heimdal‹ mitnehmen, Patron Gulbrandson?« fragte er. »Der amerikanische Konsul in Bergen – –«
»Soll sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern«, schloß brummend der Alte. »Denke wohl, daß Olaf Gulbrandson der Mann ist, ein paar schiffbrüchigen Seeleuten zu helfen, ohne daß es ihm gleich jemand bezahlen müßte. Könnt an Bord gehen, der Schwarze und du, euch vom Steuermann etwas Vernünftiges zu essen geben lassen und euch in den Hängematten aufs Ohr legen. So, ihr wißt nun Bescheid!«
Er wehrte alle Dankesäußerungen ab und schritt langsam zu den Arbeitern an der Holzbank hinüber, wo er einem Lappen befahl, die drei Rentiere wieder in das Lager seiner Brüder zurückzuführen. Dann trat er in die Hütte der beiden Quäner, in der offenbar verschiedene Abschlüsse und Rechnungen ins reine gebracht wurden, denn die Jacht hatte ihre volle Ladung an getrockneten Fischen und Federn schon übernommen, das sahen[319] die beiden Freunde, als sie an Bord kamen, auf den ersten Blick. Man wartete also nur auf den Patron, um die Anker zu lichten.
Robert und Mongo aßen mit bestem Appetit die seltsame Suppe, die ihnen der Steuermann vorsetzte, nämlich Hafergrütze mit getrockneten Pflaumen und kleinen Heringen, das norwegische Nationalgericht. Sie lachten dabei heimlich, und der Neger schüttelte sich sogar ein wenig, aber später glich ein tüchtiges Stück Pökelfleisch mit Klößen alles wieder aus, obwohl jegliches Gemüse, das hier in der Polarzone den Wert einer seltenen ausländischen Frucht gehabt hätte, an Bord des »Heimdal« vollständig fehlte. Man kennt in diesen Breiten nicht einmal den Anbau der Kartoffel, die während des zu kurzen, heißen Sommers lang ins Kraut schießt, aber keine Knollen ansetzt.
Nach dem Essen taten Robert und Mongo wie ihnen gesagt worden war: sie suchten die langentbehrte Ruhe und schliefen bald wie die Bären, ohne zu bemerken, daß an Deck die Anker gelichtet wurden und der »Heimdal« flink wie ein Delphin durch die Wogen dahinschoß.
Erst gegen Morgen erwachte Robert und glaubte zu träumen, als er den Seegang fühlte und die Wellen klatschend an das Schiff schlagen hörte. Er schloß nochmals die Augen, um sich der schmeichelnden Empfindung wieder hinzugeben, doch als ihm dann die Erinnerung an die Bilder der letztvergangenen Tage langsam zurückkehrte, sprang er aus seiner Hängematte heraus, um womöglich an Deck ein wenig zu helfen und die Gastfreundschaft des »Heimdal« nach Kräften zu vergelten. Er konnte sich auch nicht länger enthalten, einmal wieder in die Masten zu klettern und sich da oben in freier Luft vom Wind schaukeln zu lassen.
An Bord des Schiffes waren außer dem Patron und dem Steuermann nur noch drei Matrosen, lauter Hünengestalten, schweigsam wie die Vogeljäger und offenbar ebensowenig wirkliche Seeleute wie ihr Kapitän selbst. Robert konnte überall unaufgefordert zugreifen, er fand Arbeit genug für mehr als einen Mann.
Olaf Gulbrandson sah mit zufriedenem Lächeln, daß sich sein junger Gast nützlich zu machen suchte. »Hör zu, Junge!« sagte er, »was du verzehrst, das schenke ich dir, und was du verdienst, das bezahle ich. – Den Schwarzen laß nur in seiner Hängematte bleiben, damit er wieder zu Kräften kommt, ehe er eine neue Heuer annimmt.«
Und so geschah es dann. Robert half an Deck, während der[320] ›Heimdal‹ vier Tage lang durch die Sunde und Fjorde und endlich durch die Straße von Tromsö segelte, um am Morgen des fünften Tages an der hölzernen Landungsbrücke festzumachen.
Während die geladenen Fische und Federn auf ein größeres, nach Bergen bestimmtes Schiff des Patrons übernommen wurden, sollte die Jacht zurückfahren und den Arbeitern auf den Lofoten eine neue Partie Salz und Lebensmittel bringen. Olaf Gulbrandson überwachte in Tromsö selbst die Verladearbeiten, aber er wollte nicht wieder an die Fischplätze zurück kehren, sondern persönlich seine Waren in Bergen verkaufen und Robert und den Neger dorthin mitnehmen. Mongo half jetzt tüchtig, die Federsäcke und Ballen trockener Fische aus dem Raum heraufzubefordern, er hatte sich gut erholt und konnte sogar nach einer einförmigen Negermelodie ein englisches Lied singen, in das die Norweger mit einfielen, ohne zu wissen, welchen Sinn die Worte hatten.
Robert lachte lustig, sooft er das wunderliche Quartett des Schwarzen und der drei norwegischen Matrosen mit anhörte. Gewandt, wie er war, übersetzte er endlich die Strophen ins Dänische, so daß nun in zwei verschiedenen Sprachen gesungen wurde, was auf Deutsch etwa folgendermaßen lautet:
»Neger auf dem Land – Sehen, das Schiff kommt in,
Der Kap'tän kommt an Land – Mit der Hand am Kinn.
Kaufmanhsschiff ahoi, Kaufmannsschiff ahoi, –
Gib die Taler mir.«
Dabei fiel Ballen auf Ballen und Sack auf Sack in den Raum der ›Ellen Gulbrandson‹, wie das Schiff zu Ehren der verstorbenen Frau des Patrons genannt worden war. Schon nach wenigen Tagen konnte die Reise weitergehen, und zwar nicht, wie Robert geglaubt hatte, auf dem offenen Meer, sondern durch ein verschlungenes Labyrinth von Wasserstraßen, kleinen und großen Buchten, Engpässen und Stromschnellen zwischen den Felsen, immer in Sicht der Küste und in einer Umgebung, wie man sie sich großartiger kaum vorstellen konnte.
Als das weite Wasserbecken des Hafens, rings umschlossen von glatten, steilen Felsen, sich vor ihnen öffnete, als Robert endlich wieder die Masten vieler Schiffe aus aller Herren Länder zum Himmel ragen sah, da hüpfte ihm das Herz vor Freude.
Hier war das Leben wieder wie sonst. Überall sah man Menschen[321] auf der Straße, man erkannte Lastfuhrwerke und Equipagen, kurz, man war von den letzten Ausläufern der Kultur wieder ganz zu ihr zurückgekehrt, wie denn auch die Berechnung des Patrons eine zurückgelegte Strecke von zweihundert Meilen nachwies.
Diesen weiten Weg hatte die »Ellen Gulbrandson« in zwölf Tagen gemacht. Alles, was der Patron unternommen hatte, war vom Glück begünstigt worden und daher seine Stimmung sehr gut. Er schlug mit der flachen Hand auf Roberts Schulter und sah ihn freundlich an. »Junge«, sagte er, »bleib bei mir, du bist gerade so einer, wie ich es gern habe, einer der seine Kräfte fühlt und sie gebrauchen will. Schlag ein, Bob! Im Sommer auf der Küstenfahrt zwischen Bergen und den Lofoten, im Winter zu Hause am Baalsfjord, wo meine Speicher stehen und wo die erhandelten Waren an die Fischer verkauft werden. Kannst hineinwachsen in mein Geschäft, Junge, kannst mit der Zeit ein Gaardbesitzer sein, ja, und kannst sogar später einmal meine Enkelin heiraten, wenn du ein gemachter Mann bist, der seine Schiffe auf dem Wasser und seine Pachthäuser an Land besitzt. Freilich zählt das Püppchen jetzt erst fünf Jahre, aber es ist auch noch ein weiter Weg vom Leichtmatrosen bis zum selbständigen Patron und Kaufmann.«
Robert hatte anfänglich ernsthaft zugehört, dann aber lachte er laut. Der Gedanke, von seiner späteren Frau zu sprechen, war doch wirklich urkomisch. Wie konnte der vernünftige Mann solche Scherze machen?
»Nimm es um Gottes willen nicht übel, Patron Gulbrandson«, antwortete er endlich, »aber das, was du sagtest, ist zu lustig, ich kann mir nicht helfen.«
Der Alte verzog freundlich den breiten Mund. »So lache doch ruhig«, sagte er. »Wer lacht, der sündigt nicht. Aber unser Handel ist gemacht, was?«
Robert schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht, Patron«, antwortete er, »ich kann nicht, und wenn du mir goldene Berge versprichst. Ich bin dir großen Dank schuldig, ich werde niemals vergessen, was du mir und dem alten Neger getan hast. aber mich in ein Haussperren lassen, das kann ich nicht.«
»Dummes Zeug das! Alle Menschen leben in Häusern, du auch!«
»Nein, Patron, ich nicht. Ich bin der einzige Sohn meiner Eltern, ich hätte zu Hause in Deutschland ein sicheres, ruhiges Leben[322] haben können, lief aber lieber heimlich in dunkler Nacht davon, um frei zu sein, um ein Seemann zu werden. Nun weißt du, warum ich nicht bei dir bleiben kann!«
Der Alte schien nicht so recht mit sich im reinen, ob er hier tadeln oder loben sollte. Er wiederholte nur: »Davongelaufen?«
»Ja, Patron Gulbrandson.«
»Dann willst du also jetzt auf einem Hamburger Schiff heuern, um deine Eltern aufzusuchen und sie um Verzeihung zu bitten?«
Robert errötete. »Das kann ich noch nicht, Patron«, antwortete er. »Ich kann nicht mit leeren Händen zurückkommen, und da bisher alles immer wieder verloren ging, was ich zusammengebracht hatte, so muß ich erst einmal eine gute Reise hinter mir und einige hundert Taler in der Tasche haben, bevor ich heimkehre. Wirklich, ich hatte überall Unglück!«
Olaf Gulbrandson hob mahnend den Finger. »So ganz unverdient, Junge?« fragte er. »Du sollst Vater und Mutter ehren, auf daß dir's wohl ergehe und du lange lebest auf Erden. Hast diesen Satz ganz vergessen, he?«
»Bestimmt nicht, Patron, aber – von der See lassen kann ich nicht.«
Der Alte wandte sich ab. »Nun, nun«, brummte er, »habe dir nichts zu befehlen, mußt deine eigene Haut zu Markte tragen. Segen wird's niemals bringen, darauf darfst du dich immerhin fest verlassen. Unrecht Gut gedeiht nicht.«
Als er aber später im Boot an einen der großen amerikanischen Dreimaster heranfuhr, da dachte er doch im stillen: »Schade, daß der Bengel so hartnäckig ist. Ich hätte ihn gern mit mir nach Hause genommen. Wirklich schade!«
Mit dem Kapitän des Amerikaners verabredete er dann eine Heuer für Robert und für den Neger, schenkte jedem noch einen neuen Anzug und brachte sie in seiner Jolle an Bord. »Vorher aber schreibst du an deine Eltern«, ermahnte er den Jungen, »ich selbst will den Brief auf die Post geben.«
Robert gehorchte und schilderte nun alles, was ihm inzwischen begegnet war, ebenso bat er sie, ihm nach San Franzisko, seinem nächsten Bestimmungsort, eine Antwort vorauszuschicken. Zuletzt versprach er, bald zurückzukehren und schloß mit der Bitte, ihm seinen unüberlegten Jugendstreich zu verzeihen.
Patron Gulbrandson versenkte den Brief in die Tasche seiner weiten Lederjacke, dann zahlte er beiden Seeleuten auf Heller und[323] Pfennig, was sie während der Herreise verdient hatten, und schüttelte ihnen zum letztenmal die Hand. »Lebt wohl! Lebt wohl!« –
Mongo dankte ihm immer wieder für die Rettung von einem schrecklichen Tode, bat ihn, die beiden Vogeljäger zu grüßen und es den Sohn des Lappenhäuptlings nicht entgelten zu lassen, daß er ihn so heimtückisch überfallen und in die Wüste geschleppt habe, – – Robert hielt immer noch die Rechte des Nordländers. Der Abschied wurde allen schwer. »Könntest ja bei mir bleiben, Junge!« sagte Olaf Gulbrandson noch einmal.
Aber Robert schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht, Patron!«
»Nun, so behüt dich Gott, Wildfang!«
Die Jolle stieß ab, und einige Minuten später war sie im Gewirr der vielen Fahrzeuge verschwunden.
Zwei Tage darauf lichtete der ›Stern von San Franzisko‹ die Anker, und mit lustigem Matrosengesang begann die neue Fahrt, einer ungewissen Zukunft entgegen. Was sie bringen würde, das wußte nur Gott.
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