Die siebzigste Fabel.

Von der Ameisen.

[107] In sommers hitz, bei warmer sonnen

Ein ameis kam zum külen brunnen,

Der lag dort under einer eschen,

Irn übergroßen durst zu leschen.

Wie sichs bucket, fiels nach der schwer

In brunnen da; on als gefer

Saß auf demselben baum ein taub,

Die nestet doben in dem laub.

Mit iren füßen sie da faßt

Und bricht vom selben baum ein ast;

Der fiel hinab in brunnen bald,

Darauf die ameis sucht enthalt;[107]

Sie kroch heraus, behielt das leben.

In dem sichs weiter tet begeben,

Ein vögler kam, stellt nach der tauben,

Daß er im wald möcht vögel rauben,

Mit fleiß trachtet der tauben nach

Mit stricken an dem baume hoch.

Die ameis ward desselben gwar,

In schuch kroch sie dem vögler dar,

Biß in, daß er den schuch auszohe:

In dem die taub von dannen flohe.

Es lert uns dise ameis klein,

Daß wir all sollen dankbar sein

Denen, die uns han guts getan,

Das gut nicht unvergolten lan,

Und wers nicht tun kan mit der tat,

Ist gnug, daß er den willen hat.


Quelle:
Burkard Waldis: Esopus. Erster und zweiter Theil, Band 1, Leipzig 1882, S. 107-108.
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