Die achtundfunfzigste Fabel.

Wie einer ein Esel solt schreiben leren.

[295] Wo man die ganze welt durchsiht

Und anmerkt, was darin geschiht,

So findt man gwislich gnug zu sehen

In allen hendeln, die geschehen,

Wie daß groß reichtum wird gar ser

Vorgezogen der zucht und er,

Und übers recht get hoch die gwalt,

Wird oft misbraucht in rechts gestalt.

Als wo geneigt die oberkeit,

Die untertan aus haß und neit,

Ob sie gleich haben keine schult,

Dennoch sie gerne strafen wolt,

So brichts vom zaun ein heillos sachen

Und denkt, wie sie die groß mög machen,

Mit glerten worten fein staffiert

Und nach irm willen appliciert,[295]

So muß mans underm billchen schein

Oft laßen recht und billich sein.

Dermaßen war dermal ein könig,

Dem war ein frommer undertenig,

Drumb er im stets gehorchen must.

Zu dem sprach er: »Hör, was du tust!

Da hab ich einen esel jung,

Der ist vorwar nach meim bedunk

Alln eseln und alln andern tieren

Mit singen, kurzweil und hofieren

Vil zu verstendig und zu gschickt;

Drumb laßt versuchen, obs einst glückt:

Weil du bist weis und hoch gelert

Und hast vil leut zum besten kert,

Ob dus am esel auch versuchtst

Und in die schrift auch leren muchtst,

Daß er still säß, wurd züchtig, bendig,

Erfaren und der schrift verstendig,

So hetst began ein große tat,

Desgleich kein mensch gesehen hat.

Drumb wir dir jetzt ernstlich gebieten,

Woltst dich derselben arbeit nieten

Und solcher mü dich underwinden.

Und leßtu dich nit willig finden

Und bist nit zu der sach geflißen,

Soltu daneben das auch wißen,

Daß dirs gelangen wird zum schaden,

Zu schwerer straf in ungenaden.«

Er antwort: »Gnediger könig hoch,

Eurem fürstlichen bfelhen noch

Wil ich ganz gern diß grobe tier

In disciplin nemen zu mir,

Mit aller arbeit halten drob;

Weils aber ist so wunder grob,

Tumsinnig, auch noch jung von jarn,

Muß ich bedingen diß zuvorn

Und erstlich machen disen bscheit:

Ich darf dazu ein lange zeit.[296]

Wenn ichs recht underweisen sol,

Zehn ganzer jar bedörft ich wol.«

Der könig sprach: »Die zeit ist lang;

Doch wenn du mir die sach zu dank

Ausrichtst, wie ich dir jetzt sag nu,

So nim dir zehen jar dazu.«

Damit nam er den esel an.

Da ward er blacht von jederman,

Und kamen all sein freund daher,

Fragten, wie er so nerrisch wer,

Sich solcher arbeit understünd,

Weil daß man doch kein esel fünd,

Auch keinr nie wer auf erden gwesen,

Der schreiben kunt het oder lesen:

Er wurd besten mit allen schanden,

Daß er sich des het understanden.

Er sprach: »Ir freunde, schweigt nur still!

Mein meinung ich euch sagen wil.

Weil solchs zu tun unmüglich ist,

Hab ich dasselb getan aus list.

Weil ich im sonst nicht mocht entkummen,

Hab mir dest lenger aufschub gnummen.

Die zeit wird sich vil dings begeben:

Wer weiß, wer zehen jar mag leben?

In dem vil waßers abhin rinnt:

Wer weiß, wen man denn lebend findt?

Leicht stirbt mein herr, oder das tier,

Oder wird die zeit sein leicht an mir;

Wenn von den dreien eins geschicht,

So bin ich los, die sach entricht.«

Man sol in schweren, großen fellen,

In sachen, die sich seltzam stellen

Und schedlich ausgeng möchten gwinnen,

Sich bdenken und recht wol besinnen,

Damit kein fortgang werd gesucht,

Der am end schaden brengen mucht.

Denn diß beschließen alle weisen,

Sagen, daß der sei hoch zu preisen,[297]

Der große sach ein weil aufhenkt,

Fein langsam mit der zeit bedenkt

Und dennoch allen fleiß anwendt.

Die han gwonlich ein beßer end

Denn die, welch schnell und unbewagen,

Doch listig werden angeschlagen;

Die werden gmeinlich übereilt,

Denn allzu bhend hat oft gefeilt.

Quelle:
Burkard Waldis: Esopus. Erster und zweiter Theil, Band 2, Leipzig 1882, S. 295-298.
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