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[122] Christian und Crammon waren eine Woche lang bei Klementine und Franz Lothar von Westernach in der Steiermark. Klementine hatte Crammon des Bruders wegen gerufen, der vor einiger Zeit tief verstört von einem Aufenthalt in Ungarn zurückgekommen war.

Crammon und Franz Lothar waren alte Freunde. Der diplomatische Beruf hatte den offenen und schmiegsamen Menschen zurückhaltend und spröde gemacht; er nahm den Beruf ernst, obwohl er ihn nicht liebte. Eine hypochondrische Gemütsverfassung hatte sich schon frühzeitig in ihm entwickelt.

Christian faßte Sympathie für ihn. Wenn er ihn so trüb vor sich hinstarren sah, fühlte er sich versucht, ihn zu fragen. Klementine, in ihrer leer plaudernden Manier, gab Crammon Verhaltungsmaßregeln, zu denen dieser die Achseln zuckte.

Sie sagte, sie habe an ihren Vetter, den Baron Ebergeny, geschrieben, auf dessen Gut in Syrmien Franz Lothar als Gast geweilt hatte. Der Baron aber, ein halber Bauer, hatte ihr keine Aufklärung von Belang zu geben vermocht; er hatte nur angedeutet, daß er und Franz Lothar an einem der letzten Tage von dessen Anwesenheit bei einem Scheunenbrand in Orasje, einem Dorf in der Nähe des Guts, zugegen gewesen, und daß bei diesem Brand viele Menschen ums Leben gekommen seien.[122]

Aus Franz Lothar selbst war nichts herauszubringen. Er schwieg beharrlich. Je mehr sich die Schwester um ihn bemühte, je finsterer schloß er sich zu. Mochte sein, daß Crammon eines Blickes, eines Tones fähig war, der sein erstarrtes Inneres traf und es löste; an einem Abend geschah das Unerwartete. Es erwies sich, daß eben jener Scheunenbrand die Ursache der krankhaften Melancholie geworden war.

Klementine hatte sich nach ihrer Gepflogenheit bald zur Ruhe begeben. Crammon, Christian und Franz Lothar saßen stumm beieinander. Plötzlich, kein äußerer Vorgang bot den Anlaß hierzu, bedeckte Franz Lothar das Gesicht mit den Händen, und ein Schluchzen brach aus seiner Brust. Crammon beschwichtigte ihn, streichelte ihm über die Haare, ergriff ihn bei den Händen; umsonst, das Schluchzen wurde zu einem Weinkrampf, der den Körper in Stößen erschütterte.

Christian saß unbeweglich da. Es wurde ihm bitter in der Kehle, denn er spürte das Triftige und die Seelenwahrheit in dem Ausbruch von Schmerz mit unerwarteter Stärke.

Jäh, wie der Krampf begonnen, endete er. Franz Lothar erhob sich, ging mit seinen ziehenden Schritten auf und ab und sagte: »Ihr sollt hören, was da war.« Danach setzte er sich wieder und erzählte.

Im Dorf Orasje stand eine abendliche Tanzunterhaltung bevor. Es gab keinen Saal, und wie in solchen Fällen üblich, wurde die große gedielte Scheune eines Bauern hergerichtet. Zahlreiche Lampen wurden aufgehängt und die Holzwände mit Laub und Blumen geschmückt. Dem Brauch gemäß erhielten die ringsum auf den Gütern wohnenden Herrenfamilien Einladungen zu dem Fest; ein reitender Bote überbrachte sie mündlich und feierlich.

Franz Lothar bat seinen Vetter, den Ball der Bauern mit ihm zu besuchen. Seit langem war ihm viel Rühmens gemacht worden von dem Bilde, das sich dabei entfaltete; die schneeweißen Gewänder der Männer, die derb und malerisch[123] bunten der Frauen, die nationalen Tänze, die urtümliche Musik, all dies versprach Vergnügen und Kenntnis neuer Sitten.

Sie wollten erst zu einer späten Stunde hinüberfahren, wenn das Tanzen schon begonnen hatte; Bekannte aus ihrem Kreis, zwei junge Komtessen und deren Bruder, hatten die Absicht gehabt, sich ihnen anzuschließen; sie gingen aber dann vor ihnen hin, weil die jungen Damen am Ball teilnehmen und keinen Tanz versäumen mochten. Die ältere von ihnen, Komtesse Irene, verehrte Franz Lothar herzlich und seit langem.

Einige Tage vor dem Ball waren die Mädchen von Orasje mit den Burschen in Zwistigkeiten geraten. Beim Kirchgang hatte ein Bursche einer siebzehnjährigen Schönen, die ihn ihre Abneigung zu deutlich hatte merken lassen, eine lebendige Maus auf die entblößte Schulter gesetzt. Schreiend lief das Mädchen zu den Gefährtinnen, die sich um sie scharten und eine aus ihrer Mitte an die Burschen schickten mit dem Verlangen, der Missetäter solle Abbitte leisten.

Dies wurde verweigert; unter Lachen und Spott, aber die Mädchen wollten den mutwilligen Streich nicht leicht nehmen, sie wiederholten ihre Forderung schroffer, und als sie zum zweitenmal abgewiesen wurden, faßten sie den Beschluß, die Burschen von Gradiste zum Ball einzuladen, mit denen die von Orasje seit vielen Jahren in Feindschaft lebten. Sie wußten, welche Beleidigung sie damit den ihren zufügten, aber sie bestanden darauf, die Übermütigen zu bestrafen, und obwohl sie gewarnt wurden, auch von ihren Müttern und Vätern, obwohl stumme und laute Drohungen aller Art ihnen hätten Furcht einflößen müssen, verblieben sie bei ihrem Willen.

Die Burschen von Gradiste natürlich jubelten und triumphierten über den billigen Sieg; am Abend des Tanzfestes waren sie vollzählig und schön angetan zur Stelle, brachten sogar ihre eigne Musikkapelle mit. Von den jungen Männern von Orasje aber erschien nicht ein einziger. Sie zogen in der[124] Dämmerung unheimlich still durch die Straßen des Dorfs und waren dann für eine Weile verschwunden.

Die Alten von Orasje, die Verheirateten, saßen im Hof an Tischen, plauderten, nicht so aufgeräumt wie sonst an solchen Abenden, denn sie spürten die rachebrütende Stimmung ihrer Söhne und fürchteten sie, tranken Wein und lauschten der Musik. In der Scheunenhalle waren über dreihundert junge Menschen versammelt; die Luft war schwül, und die Tanzenden waren in Schweiß gebadet. Plötzlich, während eines Csardas, wurden die beiden Scheunentore zu gleicher Zeit von außen zugeschlagen. Die es sahen und hörten, hielten im Tanzen inne. Nun schallte ein widrig-starkes Geräusch in die grellen und jubelnden Töne der Instrumente; es war der Klang von Hämmern, und eine einzelne Stimme rief gellend angstvoll: »Man nagelt die Türen zu!«

Die Musik schwieg. Die Atmosphäre war in einem Augenblick erstickend geworden. Alle starrten versteinert gegen die Türen; ihr Blut gerann bei dem fürchterlichen Pochen der Hämmer. Auch lautes Hin- und Widerreden drang von draußen herein; die Alten erhoben Einspruch, das Streiten wurde zum Lärm, zum wüsten Geschrei, zu einem anwachsenden Heulen, und da begann es auf einmal zu knistern und zu prasseln; vom Schlagen der Hämmer war eine Lampe heruntergefallen, das Petroleum hatte sich entzündet, und die mürbe Bretterdiele hatte wie Zunder Feuer gefangen, das nicht mehr zu ersticken war.

Da war es mit jeder menschlichen Besonnenheit und Haltung zu Ende. Im Nu verwandelten sich die Hunderte in wilde Tiere. Die Burschen warfen sich in rasender Kraft gegen die verschlossenen und vernagelten Tore. Aber die waren aus dickem Eichenholz gezimmert und spotteten der Anstrengung. Die Mädchen stießen irrsinnige Schreie aus, und da der Rauch durch die Fugen und die sternartig ausgesägten Fensterlöcher nicht abziehen konnte, umhüllten sie mit den Röcken ihre Köpfe.[125] Andre schleuderten sich wimmernd zu Boden, und wenn sie von den Hin- und Hertobenden getreten wurden, wanden sie sich in Zuckungen und streckten die Arme über sich. Das trockene Fachwerk stand rasch in lichterlohen Flammen. Hochofenhitze verbreitete sich. Einzelne rissen sich die Kleider vom Leib, Mädchen wie Burschen, und in der Todesangst und Todesqual umschlangen sie sich und raubten, im düstersten Taumel, dem hinschwindenden Leben noch einen Fetzen Fleischeslust.

Diese umschlungenen Paare sah Franz Lothar später mit eignen Augen als verkohlte Überreste zwischen den rauchenden Trümmern. Er langte mit seinem Vetter an, als das Entsetzliche bereits vorüber war. Den Flammenschein hatten sie schon von weitem bemerkt und ihre Pferde zur Eile getrieben. Von den umliegenden Dörfern strömten Scharen von Menschen herzu; Hilfe konnte jedoch nicht mehr geleistet werden, die Scheune war in einem Zeitraum von fünf Minuten niedergebrannt, und alle darin Eingesperrten, mit Ausnahme von fünf oder sechs, hatten den Tod gefunden.

Unter den Opfern befanden sich auch die Komtesse Irene, ihre Schwester und ihr Bruder. Wie schrecklich dies auch war, für Franz Lothar fügte es dem Schrecken des Ganzen nur wenig hinzu. Das Bild der Trümmerstätte, der Anblick der rauchenden Leichen, der Geruch davon, Geruch von Blut und versengten Haaren und verbrannten Kleidern, die glatthäutigen, gefleckten Dorfhunde, die gierig knurrend um den heißen Herd voll gekochten Fleisches schlichen, die medusisch entstellten Züge der Erstickten, die unter den Körpern der Verkohlten unversehrt lagen, der stumme und der laute Schmerz der Mütter, Väter und Brüder, die syrmische Nacht mit Qualm bis an den gestirnten Himmel, das alles schlug ihn nieder wie mit Knütteln, und eine schwarze Verzweiflung nistete sich unlöslich in seinem Gemüte ein.

Daß er sich endlich hatte aussprechen können, war Erleichterung. Er saß am Fenster und blickte ins Dunkel hinaus.[126]

Crammon, Gewölk auf der zerfurchten Stirn, sagte: »Sie können nur mit der Peitsche im Zaum gehalten werden. Was ich bedaure, ist die Abschaffung der Folter. Unsre milde Gesetzgebung soll der Teufel holen.« Damit ging er hin und küßte Franz Lothar auf die Backe.

Christian hatte eine Empfindung von Kälte und Starrheit im Rücken.

Für den nächsten Morgen war die Abreise bestimmt. Crammon trat ins Zimmer zu Christian, der so in Gedanken verloren war, daß er den Gruß des Freundes nicht erwiderte. »Was treibst du, Mensch!« rief Crammon aus und musterte ihn; »hast du in den Spiegel geschaut?«

Christian war in diesen Tagen ohne seinen Diener, sonst hätte der Mißgriff nicht geschehen können: er trug zu einem lichtgrauen Anzug einen Schlips von derselben Farbe.

»Ich bin sehr zerstreut heute,« sagte Christian mit halbem Lächeln und band den Schlips wieder auf, um ihn durch einen andern zu ersetzen. Er brauchte hierzu dreimal soviel Zeit wie gewöhnlich. Crammon schritt ungeduldig auf und ab.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 122-127.
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