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[47] Judith fuhr mit Lätizia nach Homburg, und sie gingen in die Modeläden. Die Reiche kaufte, was ihr nur irgend Lust erregte, und von Zeit zu Zeit wandte sie sich an die Freundin mit den Worten: »Willst du das? Würde dich das freuen? Probier's doch mal an! Steht dir reizend!« Auf einmal sah sich Lätizia mit Geschenken überhäuft, und wenn sie sich nur mit einer Miene sträubte, war Judith gekränkt.

Dann gingen sie über den Markt; Lätizia war nach Kirschen genäschig; als sie zu der Öbstlerin trat, kam ihr Judith zuvor, begann mit dem Weibe zu feilschen, weil ihr die Kirschen zu teuer erschienen, und da das Weib auf dem Preis beharrte, zog Judith die Freundin herrschsüchtig mit sich fort.

Sie fragte Lätizia: »Wie findest du meinen Bruder Christian? Ist er nett mit dir?« Sie ermunterte die Offenherzige, gab ihr Ratschläge und wußte von den vielen Abenteuern zu[47] erzählen, die Christian mit Frauen gehabt. Die Freunde Christians hatten sie oft mit Berichten darüber unterhalten.

Als aber Lätizia, durch so unverstellten Anteil in Sicherheit gewiegt, ihr Gefühl für Christian errötend bekannte, stumm und dankbar, mit niedergeschlagenen Augen, mit süßen halben Worten, verzog Judith spöttisch den Mund, warf den Kopf in den Nacken, und ihre Miene zeigte den ganzen Hochmut einer Familie, die sich ein Geschlecht von Königen dünkte.

Lätizia spürte, daß sie sich hatte fangen lassen. Sie nahm sich nun besser in acht, und es hätte der Warnungen Crammons nicht bedurft.

Crammon gab ihr weise Lehren. Er suchte ihr einen heilsamen Schrecken vor den Frischlingen einzuflößen, um sie für die älteren Jahrgänge empfänglich zu stimmen, die allein einem Weibe Schirm und Verlaß böten. Er war durchaus nicht so fein und so listig, wie er es zu sein glaubte.

Bei all seiner jesuitischen Zwecksucht fühlte er, daß ihm an diesem Geschöpf ein Etwas naheging, wogegen keine Verstellung half. Unbequemes Spiel der Gedanken! Sollten Ammenmärchen von der Blutmahnung wahr werden? Dann fort aus dem verhexten Kreis!

Lätizia lachte ihn aus. Sie sagte: »Ich lache bloß, weil ich lachen will, Crammon, und weil heute der Himmel so blau ist, verstehen Sie?«

»O Nymphe,« seufzte Crammon; »ich bin ein armer Sünder.« Und er schlich von dannen.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 47-48.
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