16

[54] Er liebte nicht die Erinnerung an unangenehme Vorfälle.

Er liebte es auch nicht, von Vergangenem zu sprechen, gleichviel, ob es angenehm war, davon zu sprechen oder nicht. Er kehrte nicht gern um auf einem Weg, den er ging, und wo Umkehr notwendig war, wurde er bald müde.

Er liebte nicht Menschen, die geistig angestrengte Züge hatten, oder solche, die von Büchern und Wissenschaft redeten. Er liebte nicht bleiche, hektische, krampfhafte Menschen und solche, die viel stritten und ihr Recht behaupteten. Fand er bei jemand eine der seinen entgegengesetzte Meinung, so lächelte er höflich, als ob er auf einmal derselben Meinung wäre. Es war ihm auch peinlich, wenn man ihn um seine Meinung geradezu befragte, und ehe er sich auf ein Wort verpflichtete, schreckte er nicht davor zurück, sich unwissend zu stellen.

War er in großen Städten gezwungen, durch die Proletarierviertel und Armenquartiere zu fahren oder zu reiten, so beschleunigte er die Geschwindigkeit, preßte die Lippen zusammen, sparte den Atem, und vor Unmut bekamen seine Augen einen grünlichen Glanz.

Eines Tages hatte ein bettelnder Krüppel auf der Straße seinen Mantel mit Fingern angefaßt. Als er nach Hause kam, schenkte er den Mantel seinem Diener. Schon als Kind hatte er sich geweigert, an Orten vorüberzugehen, wo zerlumpte Leute saßen, und wenn jemand von Elend und Not erzählte, hatte er das Zimmer verlassen, voll Abneigung gegen den Erzähler.

Er liebte nicht, von Funktionen des Leibes zu sprechen oder[54] zu hören, von Schlaf, Hunger oder Durst. Der Anblick eines schlafenden Menschen war ihm widerwärtig. Er liebte nicht, Abschied zu nehmen oder solche, die lange fortgewesen waren, umständlich zu begrüßen. Er liebte Kirchenglocken nicht, Betende nicht und nichts, was mit Frömmigkeit zu schaffen hatte. Selbst dem gemäßigten Protestantismus seines Vaters stand er ohne Verständnis gegenüber.

Es war keine Forderung, die er auszudrücken wußte, aber instinktiv ertrug er nur die Gesellschaft von gut angezogenen, sorglosen und klar übersehbaren Menschen. Wo er Geheimnisse spürte, verborgene Leiden, ein verdunkeltes Gemüt, Hang zu Grübeleien und äußere oder innere Kämpfe, wurde er frostig unnahbar und mied den Betreffenden. Daher sagte Frau Richberta: »Christian ist ein Sonnenmensch und kann bloß im Sonnenlicht gedeihen.« Sie hatte von früh an einen Kultus daraus gemacht, alles Trübe, Verzerrte und Schmerzliche von ihm fernzuhalten.

Auf ihrem Schreibtisch lag, nach einem Gipsabguß in Marmor gearbeitet, Christians Hand; eine große, nervige, feingegliederte, zu packen fähige, geschonte und ruhige Hand.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 54-55.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Christian Wahnschaffe
Christian Wahnschaffe (2)
Christian Wahnschaffe (2); Roman in Zwei Banden
Christian Wahnschaffe Band 1
Christian Wahnschaffe Band 2
Christian Wahnschaffe: Roman