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[35] Wolfgang Wahnschaffe erzählte unterwegs von seinen Angehörigen; von Judith, seiner Schwester, von seinem älteren Bruder Christian; von seiner Mutter, die die schönsten Perlen in Europa besaß; »in ihrem Schmuck sieht sie aus wie eine indische Göttin,« sagte er; von seinem Vater, den er einen liebenswürdigen Mann mit Hintergründen nannte.

Crammon hätte gern Einleuchtenderes erfahren über das Leben und die Vorgeschichte einer dieser reichgewordenen Bürgerfamilien, die der alten Aristokratie den Rang abliefen. Es interessierte ihn als ein Stück Neuland, eine Welt, die noch in Knospen stand und die zu fürchten war.[35]

Sein schlaues Fragen brachte ihn nicht weiter, aber etwas andres kam zutage. Da war ein Bruder, dem der Bruder im Wege war; versteckte Bitterkeit über unbegreifliche Bevorzugung; Zweifel, Kritik und Spott; ein Wort der Mutter, das sie zu einem Fremden gesprochen: »Sie kennen meinen Sohn Christian nicht, das Schönste, was unser Herrgott je erschaffen hat?«

Billig, fand Wolfgang, billig, ein Pferd im Stall zu rühmen, das man nicht zum Derby schickt, weil man es für zu edel und kostbar dazu hält. Warum denn billig? fragte Crammon, belustigt von dem feudalen Gleichnis, warum Stall, warum Derby, was er damit sagen wolle?

Nun, damit sei ein Bursche gemeint, der noch nichts bewiesen, nichts geleistet habe mit seinen dreiundzwanzig Jahren; dürftig durchs Examen geschlüpft sei; kein Lumen, in keiner Beziehung. Ausgezeichnet gewachsen, das müsse ihm der Neid lassen; elegant im Auftreten, ein Gesicht wie Milch und Blut, wie man so sage; von bestrickendem Wesen, ohne allen Zweifel, so bestrickend, daß kein Mann und kein Weib ihm widerstehen könne; aber kalt wie eine Hundeschnauze und glatt wie ein Fisch; und maßlos verwöhnt, maßlos hochmütig, als ob die ganze Welt eigens für ihn gemacht sei.

»Sie werden ihm schon auch hereinfallen,« schloß Wolfgang; »alle fallen herein.« Das klang beinahe nach Haß.

Es war ein regnerischer Oktoberabend, als sie in Waldleiningen eintrafen. Das Haus war voller Gäste.

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Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 35-36.
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