17

[296] Edgar Lorm spielte in Karlsruhe. Es war an einem Abend, wo er das Tempo gejagt und seinem Haß gegen Rolle, Stück, Partner und Publikum so deutlichen Ausdruck verliehen hatte, daß nach dem letzten Akt gezischt worden war.

»Ich bin ein armes Luder,« sagte er zu den Kollegen, mit denen er in einem Restaurant zur Nacht speiste. »Ein Komödiant ist ein armes Luder.« Er sah sie alle, die Reihe um, verächtlich an und schmatzte mit den Lippen.

»Man stand in besserem Einklang mit sich selbst in jenen Zeiten, da man unsereinen noch als Wäschedieb fürchtete und die kleinen Kinder mit unsern Namen schreckte. Findet ihr nicht? Oder ist euch wohl in euerm Stall?«

Die Runde schwieg ehrfürchtig, denn er war der berühmte Gast, der volle Häuser machte und vor dem der Direktor und die Rezensenten krochen.

Staub wirbelte in den Straßen, Sommerstaub, als er in sein Hotel ging. Wie öde mir ist, dachte er und schüttelte sich. Aber sein Schritt war leicht und frei wie der eines jungen Jägers.[296]

Als er seinen Schlüssel in Empfang genommen hatte und sich zur Treppe wandte, stand plötzlich Judith Imhof vor ihm. Er zuckte auf und zurück.

»Ich bin bereit, arm zu sein,« sagte sie, fast ohne die Lippen zu bewegen.

»Sie haben hier Geschäfte, gnädige Frau?« fragte Lorm mit Heller, kalter Stimme. »Jedenfalls erwarten Sie den Herrn Gemahl –?«

»Ich habe niemand erwartet als Sie und bin allein,« antwortete Judith, und ihre Augen blitzten.

Er besann sich mit verkniffenem Gesicht, das ihn alt und häßlich machte. Eine Gebärde lud sie ein, ihm zu folgen, und sie traten in das leere Lesezimmer. Eine einzige Flamme brannte über dem mit Zeitungen bedeckten Tisch. Sie ließen sich in zwei Ledersesseln nieder. Judith fingerte nervös an ihrem goldenen Handtäschchen. Sie war im Reisekleid und hatte ermüdete Züge.

»Vor allem: was ist noch zu verhindern an Tollheiten?« begann Lorm das Gespräch.

»Nichts,« erwiderte Judith frostig. »Wenn die Bedingung, die Sie gestellt haben, nur ein Abschreckungsmittel war und Sie sich feig von ihr lossagen im Moment, wo sie erfüllt wird, dann habe ich mich natürlich getäuscht, und ich habe hier nichts mehr zu suchen. Mich mit wohlmeinenden Reden zu verschonen, darf ich Sie ja um der Sache willen bitten, die mir ernst war.«

»Scharf, Frau Judith, und bitter, doch allzu ungestüm,« versetzte Lorm mit ruhiger Ironie. »Ich bin ein abgebrühter Mann, reichlich bei Jahren, und habe zuviel erlebt, um noch mit Romeohitze selbst die köstlichsten Überraschungen, die eine Frau für mich bereit hält, zu begrüßen. Lassen Sie uns über das, was Sie getan haben, wie zwei gute Freunde sprechen, und vertagen Sie das Urteil über mein Verhalten.«

Judith hatte an ihren Vater geschrieben und ihm mitgeteilt,[297] er möge über die jährliche Rente, die er ihr bei ihrer Verheiratung ausgesetzt, anderweitig verfügen; sie habe den Entschluß gefaßt, sich von Felix Imhof scheiden zu lassen und folge einem Manne, dessen ausdrücklicher Wunsch es sei, daß sie auf ihr Vermögen verzichte. Zugleich hatte sie eine notariell beglaubigte Erklärung abgefaßt, die sie bei sich trug, um sie Lorm zu zeigen, und die sie dann erst an ihren Vater schicken wollte. So berichtete sie mit Gelassenheit. Felix hatte bei ihrer Abreise von ihrem Vorhaben noch nichts gewußt. Sie hatte einen Brief für ihn seinem Diener übergeben, das war alles. »Auseinandersetzungen in einer solchen Situation haben keinen Zweck,« sagte sie; »einem Mann, den man verläßt, die Gründe zu nennen, warum man ihn verläßt, das wäre so töricht, als wollte man den Zeiger auf dem Zifferblatt zurückdrehen, damit eine vergangene Stunde wiederkommt. Er weiß, wo ich bin und was ich will, das genügt. Im übrigen ist es keine Affäre für ihn; besser gesagt, es gibt so viele Affären in seinem Leben, daß eine mehr oder weniger nichts ausmacht.«

Lorm saß da, den Kopf weit vorgebeugt, das Kinn auf den Perlmuttergriff seines Stocks gestützt. Seine sorgfältig gescheitelten, noch ziemlich dichten, braunen Haare glänzten von Öl; seine Brauen waren zusammengezogen, in den Falten um die Nase und den zerarbeiteten Mund lag Freudlosigkeit.

Ein Kellner erschien in der Tür und verschwand wieder.

»Sie wissen nicht, was Sie auf sich nehmen wollen, Judith,« sagte Edgar Lorm und wippte leise mit den Füßen.

»So entdecken Sie es mir, daß ich mich danach einrichte,« entgegnete Judith leichtsinnig.

»Ich bin ein Komödiant,« sagte er beinahe drohend.

»Das weiß ich.«

Er legte den Stock auf den Tisch und verschränkte die Finger. »Ich bin ein Komödiant,« wiederholte er, und sein Gesicht wurde maskenhaft; »als solcher bin ich genötigt, die menschliche[298] Natur in ihren extremsten Äußerungen vorzuführen. Das Bestechende beruht in einer auf den engsten Kreis projizierten Leidenschaftlichkeit und Konsequenz, die sich im wirklichen Leben niemals oder nur sehr selten finden. Es ereignet sich daher immer wieder, und diese Täuschung scheint ein verhängnisvolles Gesetz zu sein, daß man meine Person, diesen hier sitzenden Edgar Lorm, mit einem Rahmen umgibt, ungefähr so passend wie ein gotisches Kirchenfenster für eine Miniatur. Die weitere Folge ist, daß mir die Befestigungen und Vernietungen gegen die bürgerliche Existenz fehlen und alle Versuche, mich in ein harmonisches Verhältnis zu ihr zu bringen, kläglich scheitern. Ich zapple unter einer luftleeren Glasglocke. Was ich mache, ist aufgetriebener Schaum. Es soll Menschen mit einem Doppelleben geben; ich habe ein halbiertes, ein gevierteiltes, im Grunde ein erloschenes. Ich verabscheue diesen Beruf. Ich übe ihn aus, weil ich keinen andern habe. Ich möchte Bibliothekar sein, in Diensten eines großen Herrn, der mich ungeschoren ließe; oder Besitzer eines Meierhofs in einem Schweizer Tal. Ich rede nicht von dem, was beim Theater nebenher läuft, an Eklem und Abstoßendem; von dem Narrenzug der Lügen und Eitelkeiten. Auch müssen Sie nicht glauben, daß ich das übliche Klagelied des verwöhnten Mimen absingen will, das aus Selbstüberschätzung und koketter Sucht nach Widerspruch gebraut ist. Mein Leiden liegt etwas tiefer. Der Krankheitserreger, wenn ich so sagen darf, ist das Wort. Mein Leiden stammt vom Wort. Es hat einen mörderischen Vergiftungs- und Entseelungsprozeß in mir verursacht. Was für ein Wort? werden Sie fragen. Nun, das Wort zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mann und Weib, zwischen Freund und Freund, zwischen mir und der Welt. Dasselbe Wort, das zu äußern Ihnen natürlich ist, bei mir ist es schon durch alle Register der Sprache und alle Temperaturen des Geistes gegangen. Sie gebrauchen es wie der Bauer die Sense, wie der Schneider die Nadel, wie ein[299] Soldat seine Waffe. Für mich ist es ein Requisit, ein Scheinding, eine Molluske, ein Schalleffekt, ein tausendfach veränderliches Etwas ohne Umriß und ohne Kern. Ich schreie es, flüstre es, stammle es, krächze es, flöte es, treibe es auf, fülle das sinnlose mit Sinn, werde vom erhabenen zu Boden gedrückt: seit fünfundzwanzig Jahren. Es hat mich zerrieben; es hat mir den Gaumen gesprengt und den Brustkasten ausgehöhlt. Es ist, wenn auch noch so wahr, zuletzt doch unwahr; für mich unwahr. Es tyrannisiert mich, es martert mich, es flackert durch Wände und erinnert an Ohnmacht und unbelohnte Hingabe; es verwandelt mich in eine hilflose Puppe. Kann ich je sprechen: ich liebe, ohne mich bis in die Eingeweide zu schämen? Was bedeutet es nicht alles dies: ich liebe! Was hat es mir nicht alles bedeuten müssen! Immer wieder sieht der vorschriftsmäßig beleuchtete Pappendeckel vom Zuschauerraum wie eine echte Krone aus. Ich bin, genau betrachtet, ein verzweifelter Mensch. Ich bin ein Mensch, der Schiffbruch gelitten hat am Wort. Es klingt wunderlich, aber es ist so. Vielleicht ist der Schauspieler der verzweifelte Mensch schlechthin.«

Judith sah ziemlich verständnislos drein. »Wir werden uns, vermute ich, einander mit Worten wenig quälen,« sagte sie, nur um etwas zu sagen.

Edgar Lorm fand aber die Bemerkung sein und nickte ihr dankbar zu. »Das wäre allerdings ein Zustand, aufs innigste zu wünschen,« entgegnete er in seiner prinzlichen Weise; »denn sehen Sie: Wort und Gefühl, das sind Geschwister. Was zu sagen mich widert, empfinde ich auch verfilzt und schmacklos. Man müßte stumm sein wie das Schicksal. Möglich, daß ich für die wirklichen Erlebnisse schon verdorben bin; ausgelaugt. Ich habe verdammt geringes Zutrauen zu mir und bemitleide die Hand, die sich meiner annimmt. Na, wie dem immer sei,« schloß er und schnellte elastisch auf, »auch ich bin bereit.«[300]

Er streckte ihr die Rechte hin wie einem Kameraden. Entzückt von der Lebhaftigkeit und ritterlichen Anmut der Bewegung, schlug Judith lächelnd ein.

»Wo sind Sie abgestiegen?« fragte er.

»Hier im Hause.«

Unbefangen plaudernd begleitete er sie bis an ihr Zimmer.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 296-301.
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