[318] Auf der Reise nach Schottland, zu Macpherson, hielt sich Crammon einen Tag in Frankfurt auf. Er benachrichtigte Christians Mutter, die ihn freundlich dringend zu sich bat.[318]
Es war Ende Juni. Sie saßen auf einem von Geißblatt überwucherten Balkon des Hauses beim Tee. Frau Richberta hatte befohlen, jeden andern Besuch abzuweisen. Das Gespräch plätscherte eine Weile in oberflächlichen Wendungen hin, von vielen Pausen unterbrochen. Nur von Christian wollte Frau Richberta etwas erfahren, denn sie hatte, seit er Christiansruh verlassen, nichts mehr von ihm gehört und hoffte, durch Crammon eine Kunde zu erhalten. Aber Judiths Scheidung und ihre bevorstehende Wiederverheiratung mit Edgar Lorm, Ereignisse, die zu berühren ihr Stolz sich sträubte und über die sie doch nicht völlig schweigen durfte, weil sie einen Mitwisser und Kronzeugen vor sich hatte, mußten vorher wenigstens erwähnt werden.
Sie fand die Anknüpfung nicht, und Crammon, übelwollend und in knorrigem Trotz, obgleich äußerlich glatt, erkannte ihre Verlegenheit, ohne ihr entgegenzukommen.
»Warum wohnen Sie im Hotel, Herr von Crammon?« fragte sie; »Wahnschaffeburg hat ein Anrecht auf Sie, und es ist nicht hübsch, daß Sie uns links liegen lassen.«
»Gönnen Sie einem alten Landstreicher seine Freiheit, gnädigste Frau,« antwortete Crammon; »außerdem würde es mir Herzweh machen, wenn ich diesem Zauberschloß nach vierundzwanzig Stunden schon den Rücken kehren müßte.«
Frau Richberta knabberte an einem Biskuit. »Alles besser als Hotel,« versetzte sie; »Hotel ist immer ein bißchen trübselig; je luxuriöser, je trübseliger eigentlich. Und das Vornehmste ist es auch nicht. Tür an Tür mit irgendeinem, ich bitte Sie. Und die Geräusche. Aber schließlich, was ist heutzutage noch vornehm. Das kommt aus der Mode.« Sie seufzte. Jetzt glaubte sie die Brücke schlagen zu können und gab sich einen Ruck. »Was sagen Sie übrigens zu Judith?« fuhr sie mit gleichmäßig hohler Stimme fort. »Eine beklagenswerte Verirrung. Schon die Ehe mit Imhof war ja keine first-class-Angelegenheit und hat mir nie gefallen wollen; aber[319] das! Ich kann keinem meiner Bekannten in die Augen sehen. Dieses Kind, von dem man bloß fürchten mußte, daß es zu hoch hinaus wollte, dessen Prätensionen gar keine Zügelung vertrugen, wirst sich einem Komödianten an den Hals. Und zu all dem Peinlichen noch die Extravaganz mit dem Vermögensverzicht. Unfaßlich. Mit rechten Dingen geht das nicht zu, Herr von Crammon. Hat sie sich denn klargemacht, was es bedeutet, von einer mehr oder weniger beschränkten Gage leben zu müssen? Unfaßlich.«
»Seien Sie beruhigt, gnädigste Frau,« antwortete Crammon, »Edgar Lorm ist ein Mann von fürstlichem Einkommen; ein großer Künstler.«
»Ach, Künstler,« unterbrach ihn Frau Richberta ziemlich ungeduldig und mit geringschätziger Geste, »das sagt mir nichts. Ja, man bezahlt sie; man bezahlt sie bisweilen sehr gut. Aber es sind lusche Leute. Fortwährend auf der Kippe. Ich bin nicht für die Kippe. Es ist ja jetzt üblich, viel Geschichten mit ihnen zu machen, sogar in unsern Kreisen. Ich habe das nie begriffen. Judith wird ihre Torheit bitter zu büßen haben, und für mich und Wahnschaffe ist es eine schwere Enttäuschung.« Sie seufzte wieder und streifte Crammon mit einem scheuen Seitenblick, bevor sie anscheinend gleichgültig fragte: »Hatten Sie in der letzten Zeit Brief von Christian?«
Crammon verneinte.
»Wir sind seit zwei Monaten ohne jede Nachricht,« fügte Frau Wahnschaffe hinzu. Ein abermaliger scheuer Blick auf Crammon belehrte sie, daß er ihr den gewünschten Aufschluß nicht geben konnte. Er war in diesem Moment nicht genug Herr seines Mienenspiels, um zu verbergen, was sein geheimer Kummer seit langem war.
Ein Pfau stolzierte unter dem Balkon vorüber, öffnete sein Rad, das in der Sonne prachtvoll leuchtete, und schrie widerwärtig.[320]
»Man hat mir erzählt, er sei mit dem Sohn des Försters abgereist,« sagte Crammon und zog die Brauen so weit in die Höhe, daß sein Gesicht einer mittelalterlichen Teufelsfratze glich. »Wohin er gegangen ist, darüber könnte ich nur Vermutungen äußern. Ich halte mich hierzu nicht für befugt, gnädigste Frau. Möglich, daß sich unsre Pfade kreuzen. Wir haben uns im besten Einvernehmen getrennt. Möglich, daß wir uns genau so wiederfinden.«
»Mit dem Sohn des Försters, davon weiß ich,« murmelte Frau Richberta. »Seltsam immerhin. Es ist eine Beziehung neuesten Datums, wie?«
»Allerneuesten Datums, jawohl. Ich kann mir keinen Vers darauf machen. Ein Försterssohn ist ja an sich nichts Besorgniserregendes, aber man müßte doch wissen, was für eine Art Attraktion da im Spiele ist.«
»Ich habe manchmal schlimme Gedanken,« sagte Frau Wahnschaffe leise, und die Haut um ihre Nase wurde fahl. Sie beugte sich jäh nach vorn, und in ihren sonst so leeren Augen entstand eine düstere und angstvolle Glut, die Crammons Meinung über die innere Beschaffenheit der Frau auf einmal veränderte.
»Herr von Crammon,« begann sie mit einer heiser, ja krächzend klingenden Stimme, »Sie sind Christians Freund. Sie haben mich glauben gemacht, daß Sie es sind. So handeln Sie auch als Freund. Gehen Sie zu ihm; ich erwarte es von Ihnen; säumen Sie nicht.«
»Was an mir liegt, soll geschehen,« erwiderte Crammon. »Es war ohnehin meine Absicht, ihn aufzusuchen. Ich gehe für zehn Tage nach Dumbarton, von dort dann zu ihm. Ich werde ihn finden. Grund zur Beängstigung ist nicht vorhanden, gnädigste Frau. Noch immer bin ich der Meinung, daß Christian unter dem Schutz einer besondern Gottheit steht, aber ich gebe zu, man muß von Zeit zu Zeit Nachschau halten, ob der betreffende Engel seinen Posten auch ordentlich versieht.«[321]
»In jedem Fall werden Sie mir schreiben,« sagte Frau Wahnschaffe, und Crammon versprach es. Sie nickte ihm zu, als er sich verabschiedete, die Glut in ihren Augen erlosch, und alleingeblieben versank sie in stumpfes Brüten.
Crammon verbrachte den Abend mit einigen Bekannten in der Stadt. Er kam spät ins Hotel und saß noch eine Weile in der Halle, unbeweglich, unnahbar und aus dem Anblick Vorübergehender schweigsamen Menschenhaß nährend. Dann musterte er die Tafel, auf welcher in kleinen Blättchen die Namen der Gäste geschrieben standen. Was tun die Leute hier? fragte er sich; wie wichtig das aussieht: Rentier Max Ostertag nebst Gattin; warum gerade Ostertag? warum Max? warum nebst Gattin?
Erbittert ging er die Treppe zu seinem Zimmer empor. Erbittert und weltmüde wanderte er in dem langen Korridor auf und ab. Vor sechs oder sieben Türen links und rechts standen je zwei Paar Stiefel, ein Paar Herrenstiefel, ein Paar Damenstiefel. Dieses Gepaartsein der Stiefel erregte allmählich seine Wut. Er erblickte darin eine prahlerische und schamlose Zurschaustellung ehelicher Begebenheiten. Denn das Eheliche und offiziell Gestattete erkannte er am Bau und Wuchs der Stiefel. Er glaubte ihnen eine mißgelaunte und überlang dauernde Zusammengehörigkeit anzumerken, eine breite, von der Wucht der Renten verursachte Getretenheit, eine niedrige Gesinnung, einen selbstgerechten Dünkel.
Er vermochte dem Anreiz nicht zu widerstehen, Verwirrung unter ihnen anzurichten. Er spähte umher, ob ihn niemand belausche, nahm ein Paar Männerstiefel, gesellte es zu den Frauenstiefeln an einer andern Tür und fuhr in dieser Tätigkeit fort, bis kein Paar seine frühere Gesellschaft mehr hatte. Sodann begab er sich zur Ruhe mit der angenehmen Empfindung, die etwa den Verfasser eines Lustspiels erfüllen mag, wenn es ihm gelungen ist, seine Figuren in unwahrscheinliche und kaum entwirrbare Verknüpfungen zu bringen.[322]
In der Frühe wurde er durch den Lärm heftigen und endlosen Wortwechsels aufgeweckt, der aus dem Korridor hereinschallte. Er hob den Kopf, horchte befriedigt, schmunzelte träg, dehnte sich, gähnte geräuschvoll und genoß das Stimmengezeter wie eine erbauliche Morgenmusik.
Ausgewählte Ausgaben von
Christian Wahnschaffe
|
Buchempfehlung
Die Ausgabe enthält drei frühe Märchen, die die Autorin 1808 zur Veröffentlichung in Achim von Arnims »Trösteinsamkeit« schrieb. Aus der Publikation wurde gut 100 Jahre lang nichts, aber aus Elisabeth Brentano wurde 1811 Bettina von Arnim. »Der Königssohn« »Hans ohne Bart« »Die blinde Königstochter« Das vierte Märchen schrieb von Arnim 1844-1848, Jahre nach dem Tode ihres Mannes 1831, gemeinsam mit ihrer jüngsten Tochter Gisela. »Das Leben der Hochgräfin Gritta von Rattenzuhausbeiuns«
116 Seiten, 7.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.
456 Seiten, 16.80 Euro