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[431] In dem stillen kleinen Haus mit den Möbeln aus der Maria-Theresia-Zeit vergaß er das Erlittene wieder. Ein Idyll hob an.

Er begleitete seine beiden frommen Damen in die Kirche, und aus Rücksicht und Gefälligkeit für sie betete er manchmal selbst. Herr, vergib meinen Feinden und führe mich nicht in Versuchung, war sein Hauptgebet. An sonnigen Nachmittagen kam der Fiaker, um die drei zur Fahrt in den Prater abzuholen.[431] Am Abend wurde der Speisezettel für den folgenden Tag festgesetzt, wobei die nationalen und altüberkommenen Gerichte bevorzugt wurden. Dann las er Fräulein Aglaia und Fräulein Constantine, die lautlos andächtig zuhörten, klassische Gedichte vor, einen Gesang aus Klopstocks Messias, oder den Spaziergang von Schiller, oder Rückerts Makamen; noch immer ahmte er Stimme und Tonfall Edgar Lorms täuschend nach. Auch erzählte er unverfängliche Anekdoten aus seiner Vergangenheit, die er ausschmückte und veredelte, so daß sie jedem Töchteralbum Ehre gemacht hätten.

Erst wenn sich die beiden Damen zur Ruhe begeben hatten, zündete er die englische Pfeife an, schenkte ein Glas Kognak ein, hielt ruhige Rückschau und Selbstschau oder vertiefte sich in den Genuß der Schätze seines kleinen Museums, der in vielen Jahren zusammengetragenen Kostbarkeiten.

Kurz vor dem verabredeten Stelldichein mit Franz Lothar von Westernach erhielt er einen Alarmbrief von Christians Mutter.

Frau Richberta teilte ihm mit, daß Christian Weisung gegeben habe, seine sämtlichen Liegenschaften zu verkaufen, Christiansruh, Waldleiningen, das Jagdhaus, die Pferde, die Hunde, die Automobile, die Sammlungen, sogar die kostbare Ringsammlung. Das Unfaßliche sei bereits im Wege, und man habe nicht die geringste Andeutung eines Grundes. Sie befinde sich in ratloser Verzweiflung und bitte Crammon um Aufschluß, bitte ihn, nach Wahnschaffeburg zu kommen. Ob er über Christians Schritt, über Christians Tun unterrichtet sei, was sich denn um Gottes willen mit ihm ereignet habe? Man könne keine Nachricht erhalten, seit Wochen sei er wie verschollen, man tappe im Finstern. Die Familie wünsche natürlich nicht, daß der Besitz in fremde Hände überginge, und werde alles an sich bringen, obschon es sich widrig anlasse, den frechen Überbietungen, Advokaten- und Agentenmanövern, die der von Christian beauftragte Verwalter ins Werk[432] gesetzt, wirksam zu begegnen. Aber allem voran stehe die Sorge um Christian; sie erwarte, daß Crammon ihr in ihrer Not beistehen und die hohe Meinung rechtfertigen werde, die sie von seiner Freundschaft für Christian und Anhänglichkeit an das Haus gefaßt.

Crammon las die Zeilen noch einmal, die vom Verkauf von Christiansruh und der Sammlungen handelten. Er schüttelte lange den Kopf, drückte das Kinn in die Hand, und zwei dicke Tränen rollten über seine Backen.[433]

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 431-434.
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