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[363] Am ersten Abend in Hamburg nahm Crammon eine Loge im Schauspielhaus und lud Christian, Johanna Schöntag und Herrn Livholm, einen der Direktoren des Lloyd, ein. Diesen hatte er im Hotel kennen gelernt, wo er Eva einen Begrüßungsbesuch abgestattet hatte; da er ihm gefallen hatte und er auch eine leidliche Figur machte, hatte er sich seiner bemächtigt, um, wie er es nannte, mittelst eines neutralen Strohmanns harmlose Luft zu erzeugen.

»Es ist im Gesellschaftlichen wie in der Kochkunst,« pflegte[363] er zu sagen; »zwischen zwei schwere, füllige Gerichte muß immer ein schaumiges und den Gaumen bloß oberflächlich reizendes placiert werden; sonst hat die Sache keinen Stil.«

Es wurde ein mittelmäßiges Lustspiel gegeben. Christian langweilte sich, Crammon hielt sich für verpflichtet, eine herablassende und gedämpfte Heiterkeit zu zeigen und versetzte Christian dann und wann einen leichten Stoß in den Rücken, um ihn gleichfalls zu einer Kundgebung von Teilnahme zu ermuntern; Johanna war die einzige, die sich amüsierte, und zwar über einen Darsteller, der eine ernsthafte Rolle zu spielen hatte, aber so albern und gespreizt redete, daß sie bei seinem Auftreten jedesmal ihr Spitzentaschentuch vor den Mund preßte, um ihre Lachlust zu bändigen.

Christian streifte bisweilen das Mädchen mit einem fremden Blick von der Seite. Sie war ihm weder besonders angenehm, noch besonders unangenehm; er wußte nicht, was er aus ihr machen sollte. Diese Empfindung hatte sich nicht verändert, seit er sie, in Evas Gesellschaft, auf der Reise zum erstenmal gesehen.

Sie spürte seinen fremden Blick, und in der untern Partie ihres Gesichts drückte sich, ohne daß ihr Übermut beeinträchtigt wurde, Enttäuschung auf äußerst zarte Weise aus.

Wie hilfesuchend wandte sie sich zu Crammon: »Der Mann ist doch furchtbar komisch, nein?« flüsterte sie, in ihrer charakteristischen Art eine fragende Negation an den Schluß einer Behauptung setzend.

»Der Mann ist unbedingt sehenswert,« stimmte Crammon artig zu.

Da ging die Logentür auf, und Voß trat ins Halbdunkel; in Smoking und Lackschuhen, der Vorschrift entsprechend. Aber niemand hatte ihn erwartet, niemand hatte ihn aufgefordert. Alle sahen ihn erstaunt an; er grüßte, blieb ruhig und ohne Verlegenheit stehen und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Bühne.[364]

Crammon schaute Christian an; Christian zuckte die Achseln. Nach einer Weile erhob sich Crammon und wies mit sarkastischer Höflichkeit auf seinen Platz. Voß schüttelte freundlich ablehnend den Kopf, verfiel aber dann sogleich wieder in die Untertänigkeit des Schulamtskandidaten. Er stammelte: »Ich war im Parkett, schaute herauf; dachte mir: besuchst sie einfach, es macht ja nichts.« Plötzlich ging Crammon hinaus, und man hörte ihn mit dem Logendiener schreien. Johanna war ernst geworden und blickte zerstreut in den Zuschauerraum; Christian hatte in stummer Abwehr die Schultern ein wenig zusammengedrückt; die Leute auf den Nachbarsitzen wurden ungehalten über den Lärm, den Crammon verübte; Herr Livholm spürte nur, daß die Atmosphäre von Korrektheit gestört war; Amadeus Voß allein zeigte Unempfindlichkeit.

Er stand hinter Johanna und dachte: die Haare dieses Frauenzimmers haben einen Geruch, daß einem schwindlig wird. Nachdem der Zwischenaktsvorhang gefallen war, entfernte er sich und kam nicht wieder.

In später Nacht, als er Christian für sich hatte, spie Crammon Wut. »Ich knalle ihn nieder wie einen tollen Hund, wenn er dergleichen noch einmal wagt. Was denkt sich der Mensch? Was sind das für Manieren? Wo ist er aufgewachsen, dieser bebrillte Galgenvogel? Mein ahnungsvolles Gemüt! Ich habe Personen mit Brille immer mißtraut. Warum jagst du ihn nicht zum Teufel? Ich bin im Verlauf meines sündenbeladenen Lebens mit mancherlei Existenzen aneinandergeraten; ich kenne die Creme, ich kenne den Abschaum; aber so ein Bursche ist mir nie begegnet. Beim Zeus, nie! Ich muß Brom nehmen, sonst kann ich nicht schlafen.«

»Ich glaube, du bist ungerecht, Bernhard,« antwortete Christian mit niedergeschlagenen Augen. Sein Gesicht war streng, verschlossen und kalt.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 363-365.
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