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[271] Edgar Lorm war daran gewöhnt, ohne Judith zu essen; so fand er es auch heute nicht auffallend, daß sie noch nicht heimgekommen war, und setzte sich allein zu Tisch.

Es wurde aufgetragen: ein Hummer, Kalbsbrust mit Salat und dreierlei Gemüsen, Fasan mit Kompott, ein gefüllter Pfannkuchen, Käse und Ananas. Hierzu trank er zwei Gläser roten Bordeaux und eine Flasche Sekt.

Täglich verzehrte er diese überreiche Mahlzeit mit dem Appetit eines Riesen und dem philosophischen Entzücken des Feinschmeckers.

Als er zum Mokka die schwere Havannazigarre anzündete, hörte er Judiths Stimme. Gleich darauf stürzte sie verstört herein.

»Was ist geschehen, Kind?« fragte er.

»Fürchterlich,« stieß sie hervor und sank auf einen Stuhl.

Lorm erhob sich. »Was ist geschehen, Kind?«

Sie keuchte: »Seit ein paar Tagen fühle ich mich nicht wohl. Der Arzt hat mich untersucht und für schwanger erklärt.«

In Lorms Augen leuchtete es auf. »Ich kann nicht finden, daß es ein solches Unglück wäre,« sagte er, bemüht, seine freudige Überraschung zu verbergen; »im Gegenteil, mir erschiene es als ein Segen. Ich hätte es kaum zu hoffen gewagt. Wahrhaftig, Frau, ich wüßte nicht, was ich dafür zu tun imstande wäre!«

Mit funkelnden Blicken antwortete Judith: »Es wird nie und nimmer sein, nie und nimmer! Unsre Abmachung will[271] ich dir nicht ins Gedächtnis rufen; ich will dir auch nicht die Schuld zuschieben, wenn das Schreckliche bereits eingetreten ist; ich kann es ja noch nicht glauben; ich käme mir wie verhext vor; aber wenn du auf Nachgiebigkeit von meiner Seite rechnest, oder auf weibliche Schwäche, auf das Erwachen gewisser sogenannter Instinkte, so täuschst du dich; es wird nie und nimmer sein. Mein Körper bleibt, was er ist; mein Körper bleibt mir. Ich habe keine Lust, ihn zerstücken zu lassen. Er ist das einzige, was ich noch besitze. Ich will ihn nicht teilen. Ich will nicht, daß ein fremdes Tier aus ihm kriecht. Ich will nicht in neun Monaten um neun Jahre älter werden. Ich will nicht mich oder dich affenhaft wiederholt sehen. Es wird nie und nimmer sein. Mir graust davor. Gib acht, daß mir nicht auch vor dir graust, wenn dir gerade das eine Wonne ist, was ich verabscheue.«

Lorm reckte sich ein wenig, sah sie erstaunt an und schwieg.

Sie ging in ihr Schlafzimmer und sperrte sich ein. Lorm erteilte Weisung, daß man niemand vorlasse, begab sich in die Bibliothek und las bis gegen acht Uhr in einer Schrift über die Bewegungen der Fixsterne. Ost hob sich der Blick aus dem Buch, nicht beschäftigt mit den astralen Geheimnissen, sondern mit sehr irdischen und vielleicht sehr traurigen Dingen. Er stand auf, um an die Tür von Judiths Zimmer zu gehen. Er lauschte und pochte. Judith antwortete nicht. Er kehrte um, aber nach einer halben Stunde kam er wieder, pochte wieder. Sie kannte seine bescheidene Art, um Einlaß zu bitten. Sie antwortete nicht. Die Tür blieb versperrt.

Immer nach Verlauf einer halben Stunde, während welcher er über die Bewegungen der Fixsterne las, kam er wieder und pochte. Er rief ihren Namen. Er sagte, sie möge Vertrauen zu ihm haben und ihn anhören. Um nicht die Aufmerksamkeit der Dienstleute zu erregen, redete er mit gedämpfter Stimme. Er sagte, sie möge ihm seine voreilige Freude nicht verübeln; er sehe seinen Irrtum ein und beklage ihn, nur solle sie ihn[272] hören. Er versprach ihr Geschenke: einen antiken Leuchter, ein Service aus der Königlichen Manufaktur, ein Kleid von Worth; umsonst. Sie antwortete nicht.

Drei Tage verflossen. Eine drückende Stimmung lag auf dem Hauswesen. Lorm schlich durch die Räume wie ein schüchterner Gast. Er demütigte sich so weit, daß er der Hausdame, die allein Zutritt bei seiner Frau hatte und ihr die Speisen brachte, einen Brief für Judith in die Hand drückte. Sie kehrte achselzuckend zurück. Und des Nachts: wieder und wieder rief er sie an, näherte seinen Mund dem Holz der Tür und flehte; keine zornige Regung war in ihm, keine Versuchung, die Faust zu ballen und die Tür zu sprengen. Judith wußte dies. Sie schlug den Fisch.

Sie wußte, was sie wagen durfte. Und sie schlug den Fisch.

Dieser Mann, das Ziel der Bewunderung eines ganzen Volkes, verwöhnt durch Ruhm, durch die Freundschaft der Besten, durch Schicksalsgunst und alle Annehmlichkeiten des Daseins, mit gefürchteter Laune, einem Zucken seiner Brauen selbst über Widerwillige herrschend, er ertrug es nicht bloß, von einer Frau mißhandelt zu werden, die er nach langer Einsamkeit und langem Zaudern zu seiner Lebensgefährtin erwählt hatte, er nahm die Erniedrigung und Beleidigung wie eine Schuldenlast auf sich; ja, er schien danach zu verlangen, müde von Ruhm, Anerkennung, Freundschaft, Gelingen und Herrschen, Ausgleich und Kasteiung suchend, Wollust des Schmerzes und der Umkehrung.

Am dritten Abend wurde er, ziemlich spät noch, von Wolfgang Wahnschaffe telephonisch angerufen. Das Zerwürfnis zwischen Judith und Wolfgang, das seit seinem ersten Besuch bestand, erlaubte Wolfgang nicht, das Haus der Schwester zu betreten.

Er ersuchte Lorm um eine Unterredung an einem neutralen Ort. Der Anlaß, sagte er, sei zwingend. Lorm wollte Genaueres wissen; die in erregtem und bitterem Ton gegebene Antwort[273] war, es handle sich um Christian, es handle sich um ein gemeinsames Vorgehen, um Beschlußfassung, um Verständigung, um Schutzmaßregeln; Gefahr sei von der Familie abzuwenden, haarsträubender Affront sei geschehen.

Hier unterbrach Lorm: »Ich vermute, daß meine Frau in den Angelegenheiten ihres Bruders Christian unzugänglich ist; und ich? Was sollte ich dabei tun? Ich bin durchaus Fremdling.« Auf erneutes Drängen versprach er, sich zur Mittagsstunde des andern Tages in einem Restaurant an der Potsdamer Straße einzufinden.

Kaum hatte er das Höhrrohr niedergelegt, so trat Judith ein, in dunkelgrünem Sammetschlafrock mit Pelzbesatz und langer Schleppe, sorgfältig frisiert, ein heiteres Lächeln auf den Lippen, Lorm beide Hände entgegenstreckend.

Er nahm beide Hände und küßte beide, beglückt.

Sie schlang ihm die Arme um den Hals und sagte, den Mund an seinem Ohr: »Es ist alles wieder gut. Der Doktor ist ein Esel; ich habe dir unrecht getan. Es ist alles wieder gut, sei du auch wieder gut.«

»Wenn du nur gut bist,« erwiderte Lorm, »das übrige ist nicht von Belang.«

Sie schmiegte sich dichter an ihn und schmeichelte mit Augen, Mund und Hand: »Und was ists mit dem antiken Leuchter? Bekomme ich den? Und das Kleid von Worth? Wirst du mirs kaufen? Und das Porzellanservice, bekomme ich es?«

Lorm lachte. »Dafür, daß du mir unrecht getan hast, wie du zugibst, ist der Versöhnungspreis ein wenig hoch,« spottete er, »aber sorge dich nicht, du sollst alles haben.«

Er hauchte einen Kuß auf ihre Stirn; in dieser unsinnlichen Zärtlichkeit lag endgültiges Erlahmen gegen sie, gegen die Menschen, gegen die Welt. Es wurde immer stärker, von Tag zu Tag merklicher und hatte Züge einer Krankheit des Herzens.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 271-274.
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