[330] Fürst Wiguniewski schrieb an Cornelius Ermelang nach Vaucluse in Südfrankreich:
Sie scheinen in Ihrer petrarkischen Einsamkeit die Welt verloren zu haben, da Sie sich so angelegentlich nach unserer Diva erkundigen. Ich dachte Sie noch in Paris; ich dachte, Sie hätten Eva Sorel dort gesehen, denn sie ist erst vor wenigen Tagen zurückgekehrt; zurückgekehrt wie ein mit Ruhm und Beute beladener Sieger nach einem Feldzug von drei Wochen; haben Sie nicht wenigstens aus Zeitungen erfahren, in welches Hochfieber des Enthusiasmus sie die internationale Gesellschaft neuerdings versetzt hat?
Ihre Nachfrage klingt besorgt, und der Grund ist mir verständlich, obgleich Sie sich nicht darüber äußern. Wie kurz auch das Beisammensein während Ihres Petersburger Aufenthalts mit ihr war, so müssen Sie doch mit Ihrem für das Innere der Menschen geschärften Blick die Verwandlung wahrgenommen haben, die mit ihr vorgegangen ist. Ich schwanke, ob ich sagen darf, es sei eine beunruhigende Verwandlung, da sie ja gewiß dem Gesetz ihres Wesens unterliegt. Schmerzlich ist das Schauspiel nur für uns, die wir den Anfang und den Aufstieg kennen, für zehn bis zwölf Menschen in Europa, denn was uns als das schönste Erlebnis unsrer Jugend ergriffen hat, war die Süßigkeit, der Glanz, das sternhaft Unbeschwerte an ihr. Sie war zeitlos;[330] sie war in jedem Augenblick das Geschenk des Augenblicks, doch Ihnen muß ich nicht schildern, was und wie sie war; Sie wissen es. Es fragt sich, ob es erlaubt ist, zu tadeln oder zu klagen, wenn eine Entwicklung nicht unsrer Erwartung entspricht; das Wirkliche und Gewordene enthält wahrscheinlich den triftigeren und weiseren Sinn, wie sehr wir auch widerstreben. Man will immer zu viel und sieht und begreift infolgedessen zu wenig. Man sollte mehr Demut haben.
Es ist eine Tatsache, daß sie die öffentliche Meinung in unserm Land beschäftigt und aufwühlt wie kaum ein andrer Mensch. Man ist beständig darüber unterrichtet, wer in ihrer Gunst steht und wer in Ungnade gefallen ist; der Luxus, mit dem sie sich umgibt, setzt die verrücktesten Fabeln in Kurs und übersteigt alles, was wir in dieser Beziehung erlebt haben. Ihre monatlichen Einkünfte beziffern sich auf Hunderttausende, ihr Vermögen wird heute schon auf zwanzig bis dreißig Millionen Rubel geschätzt. Zweimal wöchentlich kommt für sie ein Eisenbahnwaggon mit Blumen aus der Riviera und zweimal einer aus der Krim. Über das Schloß, das sie am Meer bei Yalta bauen läßt, werden Einzelheiten bekannt, die an Tausendundeine Nacht gemahnen; in vier Wochen soll es schon fertig sein; großartige Festlichkeiten sind für den Einzug geplant; zu den Geladenen zähle auch ich. Man spricht von nichts anderm als von diesem Schloß; die Parkanlagen sollen einen Flächenraum von fünf Quadratmeilen bedecken; nur durch verschwenderischen Aufwand von Kosten und Arbeitskräften konnte das Ganze in der kurzen Zeit eines Jahres hergestellt werden. Den Mittelbau, heißt es, krönt ein Zinnenturm, von dessen Plattform man einen grandiosen Blick über das Meer genießt und der nach dem Muster des Turms der Signoria zu Florenz errichtet ist. Eine goldene Wendeltreppe mit kostbar emailliertem Geländer führt im Innern empor, und jedes Fenster gibt einen sorgfältig gewählten Ausschnitt südlicher Landschaft. Als Wandschmuck[331] für einen der Säle wünschte sie sich die noch vorhandenen, von den Engländern noch nicht weggeschafften Malereien von El Hira, der berühmten Ruine in der arabischen Wüste. Ihr diese zu verschaffen, bedurfte es weitläufiger diplomatischer und geschäftlicher Verhandlungen; dann mußte, mit vielen Schwierigkeiten und vielem Geld, eine Expedition ausgerüstet werden, die drei Monate unterwegs war und erst vor kurzem zurückgekehrt ist. Die Reise war so abenteuerlich als gefährlich, und sieben Menschen haben dabei ihr Leben eingebüßt. Als man es Eva mitteilte, schien sie zu erschrecken und die Kühnheit ihres Verlangens zu bedauern; dann sah sie das Bildwerk und war so hingerissen, daß ihr Lächeln fast Befriedigung über die Opfer an Blut ausdrückte. Es liegt hierin keine Übertreibung; so ist jetzt ihr Wesen; diese wunderbarsten aller Hände rühren an die Welt wie an ein Sklavengut, das ihnen und nur ihnen verheißen und verbrieft ist. Ich sah sie selbst eines Tages hingekauert vor den Malereien einer fernen, fremden Zeit; mich erschütterte der Ausdruck, mit welchem sie die Bewegungen der archaischen Figuren betrachtete; es war ein Ausdruck der Abkehr und Grausamkeit.
Ich bin unwillkürlich auf das antike Gemälde und seine Herbeischaffung geraten und bemerke nun, daß ich keinen kürzeren Weg hätte wählen können, um zum Kern dessen zu gelangen, was ich Ihnen erzählen möchte, denn die Vorgänge, die sich in den letzten Tagen abgespielt haben, gehen davon aus. Natürlich konnten nur wenige Menschen den Schleier lüften, hinter dem sie heute noch verborgen sind und vermutlich stets bleiben werden; wer nicht, wie ich, durch eine Reihe günstiger Umstände Einblick gewonnen hat, tappt im Dunkel. Ich muß Sie auch um strengste Verschwiegenheit bitten; ich hinterlege dieses Schreiben, dessen Beförderung Vorsicht erheischte und das der Botschaftskurier mit über die Grenze nimmt, als Urkunde bei Ihnen. Mit seiner Hilfe[332] wird man später einmal die Genesis gewisser Ereignisse bis zu den unscheinbaren Wurzelfasern verfolgen können.
Kaum waren die Malereien von El Hira hierhergelangt, so wurden von französischer Seite Reklamationen wegen Besitzstörung erhoben. Die beweisbaren Anrechte einer Pariser Privatgesellschaft sollten bei den Abmachungen mit den Engländern außer acht gelassen worden sein, und die dortige Regierung überschüttete unser Ministerium mit Noten und Beschwerden. Man beschuldigte sogar den Leiter der Expedition, Andrei Gawrilowitsch Jaminsky, einen kühnen und geistreichen Gelehrten, des offenen Raubes. Die Sache war unangenehm, die Bestürzung groß, der Lärm täuschte unsre Füchse; sie fürchteten, eine Dummheit gemacht zu haben, und spazierten arglos in die Falle. Da die Angelegenheit lächerlicherweise den Himmel der Politik zu trüben schien, war es vor allem wichtig, sie der Kenntnis des Großfürsten Cyrill zu entziehen, der die auswärtigen Geschäfte in der Hand hält und wie eine Spinne im Netz jedes Zittern der Fäden belauert. Dahin zielte die Berechnung; das Spiel hinter den Kulissen verstärkte den Druck und die Eile; die Angst vor dem Zorn des Gewalthabers trieb ergötzliche Blüten in den verantwortlichen Ämtern; der Minister verfügte sich zu Eva Sorel; ihre stolze Erklärung, daß sie alles auf sich nehmen wolle, sich getraue, die üblen Folgen von den Beteiligten abzuwenden, stieß auf Zweifel und Unglauben, und man erinnerte an Vorgänge ähnlicher Art, bei denen später die tückische Ahndung doch nicht ausgeblieben sei. Man bedrängte sie ernstlich, die Wandgemälde wieder auszuliefern; sie trotzte, stritt um ihr Recht, wurde hartnäckig, und als man nun die Torheit beging, Andrei Jaminsky verhaften zu lassen, für den sie lebhaftes Interesse gefaßt hatte, drohte sie, den Großfürsten zu benachrichtigen, der in Zarskoje Selo weilte, und setzte damit die Gemüter in neuen Schrecken. Jetzt war für die Anstifter der schickliche Zeitpunkt gekommen. Plötzlich[333] trat Ruhe ein; der Sturm war beschwichtigt. Was war aber sein verborgener Anlaß gewesen? Eingeweihte raunen von einem unheimlichen Handel. Mich dünkt, ihr Wissen reicht nicht weiter als das meine. Ich sitze nah genug am Webstuhl und kann das Schiffchen in seinem Hin- und Herlauf studieren. Es webt schlimme Gewebe, das darf ich wohl behaupten. Wann hätten nicht die Zauberkünste einer Kurtisane dazu gedient, Völker zur Schlachtbank zu treiben? Sie meinen, das zwanzigste Jahrhundert sei zu fortgeschritten für Kabalen im Stil der Mazarin und Kaunitz? Ich bin dessen nicht so sicher. Sie meinen, die großen Erschütterungen und Umwälzungen nützten die Entschlüsse und Willensakte kleiner Menschen nur zum Schein, und Schuld und Anklage werde wesenlos, wenn man den Gang des Schicksals begriffen habe? Aber wir begreifen ihn ja nicht; wir sind Menschen, wir müssen richten, wie wir leiden müssen, und weil wir leiden müssen. Der unheimliche Handel drehte sich um den Bau von Festungen an unsrer polnischen und wolhynischen Grenze. Aus unbekannten Gründen hatte sich der Großfürst bis jetzt dagegen gesträubt; seit einigen Tagen geht die Rede von einer Staatsanleihe; seinen starren Sinn dem Projekt geneigt zu machen, konnte bloß einem einzigen Menschen gelingen. Wozu noch Worte? Man schaudert bei den Gedanken eines Zusammenhangs zwischen fünftausend Jahre altem Wandschmuck und den Fangstricken moderner Kabinettsränke; zwischen der bedungenen Hingabe eines unvergleichlichen Leibes, Zierde der Schöpfung, und der Aufrichtung von Festungsmauern und Kasematten. Die Komödie ist herzzerreißend.
Ich bin noch nicht am Ende. Es knüpft sich an diese Begebenheiten der Tod von Andrei Gawrilowitsch Jaminsky. Ich deutete schon an, daß Eva merkbare Sympathie für ihn an den Tag legte. Der Mut und die Energie, die er beim Zug in die Wüste bewiesen hatte, sein Geist, nicht zuletzt seine[334] äußeren Vorzüge bestachen sie; sie war fasziniert und zeichnete ihn auf alle Weise aus. Da es eine Schranke für sie nicht gibt und ihr Tun immer zu den letzten Schütten führt, hatte sie auch hier keine Bedenken; Jaminsky wurde ein Glück zuteil, von dem er vielleicht nicht einmal zu träumen gewagt hatte, und das ihm das Gleichgewicht geraubt zu haben scheint. Es füllte ihn zum Überfließen, es machte ihn verrückt; in einem Freundeskreis, beim Wein natürlich, kam er ins Schwatzen und prahlte mit seiner Eroberung. Zu spät erkannte er seine Verirrung; was in jedem andern Fall eine verächtliche Charakterschwäche gewesen wäre, in diesem war es ein Verbrechen; zu spät beschwor er die Ohrenzeugen, zu vergessen, zu schweigen, ihn als Lügner und Bramarbas zu betrachten; es fruchtete nicht, daß er sie einzeln aufsuchte und einzeln beredete; der Stein war im Rollen; wo das diskrete und geargwöhnte Verhältnis höchstens die stumme oder geflüsterte Neugier gereizt hatte, wurde das Verkündete allgemeiner Gesprächsstoff; die Sühne ließ nicht auf sich warten. Ihr Vollstrecker war Fjodor Szilaghin.
Nicht leicht ist es, die Rolle zu beurteilen, die Fjodor Szilaghin gegenwärtig im Leben Evas spielt. Bald scheint er Wächter zu sein, bald Verlocker; man weiß nicht, will er ihr gefallen und sie gewinnen, oder ist er nur der Söldling und Argus seines finstern Herrn und Freundes. Ich glaube, daß selbst Eva darüber im Unsichern ist; sein enigmatisches Wesen, das meisterlich Versteckte, undurchdringlich Treulose, wirkt auf mich wie ein sichtbares Symbol von Evas Verdunkelung und Unrast. Daß er im Einverständnis mit ihr gehandelt hat, als er es unternahm, Jaminsky zu bestrafen, leidet keinen Zweifel; aber ob es ein gemeinsam verabredeter Plan war, eine Forderung von ihrer oder von seiner Seite, ob sie in der Enttäuschung nachgiebig gegen ihn oder im Zorn rachsüchtig für sich war, ob er für ihre Ehre oder für die Ehre seines Herrn eintrat, das alles getraue ich mich nicht zu entscheiden.[335] Genug, es geschah. Die Tat schwebt in einem Halblicht und wird mit ziemlich abstoßenden Einzelheiten geschildert. Jaminsky speiste am Mittwochabend der vergangenen Woche in Gesellschaft mehrerer Freunde in einem Nebenzimmer bei Cubat auf der großen Morskaja. Kurz vor zwölf Uhr wurde die Tür aufgerissen, und vier junge Leute, bis über die Nase in ihre Pelze gehüllt, drangen ein. Drei von ihnen umstellten Jaminsky, einer drehte die Lichter ab, gleich darauf krachte ein Schuß, und ehe sich Jaminskys Freunde von ihrer Bestürzung erholt hatten, waren die vier wieder verschwunden. Jaminsky lag blutüberströmt auf dem Boden. Szilaghin war mit Bestimmtheit unter den vier Männern erkannt worden.
Das Verwegenste aber ereignete sich erst später. In dem Tumult, der unter den Gästen des Restaurants entstanden war, hatte man den Erschossenen vergessen. Man schrie nach der Polizei, lief, drängte, fragte, indessen fuhr eine Mietsdroschke am Eingang vor, zwei Männer entstiegen ihr, schoben sich durch die Menge in das Zimmer, wo der Tote lag, hoben ihn auf und trugen ihn an den stumm gaffenden Menschen vorüber in den Wagen. Niemand hinderte sie; sie verschwanden mit dem Leichnam im Wagen, dieser jagte den Newskij hinab bis zur Palastbrücke, dort hielt er, die beiden schleppten die Leiche ans Ufer und warfen sie in die Newa, mitten in die treibenden Eisschollen.
An demselben Abend befand ich mich mit du Caille, Lord Elmster und einigen hiesigen Künstlern bei Eva. Sie war berückend und von einer Heiterkeit, bei der man das Gefühl hatte, man dürfe keinen Atemzug davon verpassen. Ich entsinne mich nicht mehr, wie das Gespräch auf Himmelserscheinungen und Sonnensysteme kam; eine Weile wurde in der üblichen leichten Art die Möglichkeit erwogen, ob auch andre Planeten von Menschen oder menschenähnlichen Wesen bewohnt seien; da sagte Eva: »Ich habe gelesen, und die[336] Fachkundigen haben es mir bestätigt, daß der Saturn zehn Monde besitzt, zehn Monde und einen feurig glühenden Ring, der in Purpur und Violett den ungeheuren Körper des Sterns umgibt. Der Planet selbst, heißt es, sei noch eine unabgekühlte Lava; aber auf den zehn Monden könnte Leben sein, könnten Geschöpfe wie wir existieren. Denkt euch eine Nacht dort; denkt euch die düstere Glut des Muttergestirns; der purpurne Regenbogen, der ewig am Firmament steht und es fast bedeckt; die zehn Monde umeinander, übereinander spielend, so nah vielleicht, daß die Geschöpfe sich verständigen können, von Welt zu Welt sich fühlen: was für Möglichkeiten, was für eine Vision von Glück und Schönheit!« So oder ähnlich sprach sie. Einer von uns erwiderte, man könne sich ebensogut vorstellen, daß Mond gegen Mond im Kampfe läge; trotz aller Wunder des Himmels, so wie hier Land gegen Land; die Erfahrung gebe zu befürchten, daß nirgends im Universum die beweglich Geschaffenen durch Himmelswunder an Raub und Gewalttat verhindert würden. Sie aber sagte: »Zerstört mir meinen Glauben nicht; laßt mir das Paradies vom Saturn.«
Und sie wußte, sie mußte es wissen, daß eben in dieser Stunde Jaminsky, den sie geliebt hatte, einen häßlichen und meuchlerischen Tod starb.
Es ist schwer, Demut zu haben.
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Christian Wahnschaffe
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