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[390] Die Unterredung mit Wolfgang Wahnschaffe wirkte auf Lorm durchaus unangenehm. Er hatte die verstimmende Empfindung, daß dieser wohlerzogene junge Herr in aller Naivität der Meinung war, vor dem Schauspieler dürfe er sich in seiner ganzen Rücksichtslosigkeit und Zwecksucht demaskieren. Was lag, vor dem Schauspieler, groß daran? Man gab sich keine Mühe und spielte jovial mit offenen Karten.

Lorm spürte an jenem Abend das Nahen schwerer Krankheit; er war wortkarg, und wenn er sprach, messerscharf.

Es wurde ihm zugemutet, an einer Verschwörung teilzunehmen. Der Plan war, Christian auf einstimmigen Beschluß der Familie in eine Nervenheilanstalt zu sperren.

»Nun, was Nervenanstalt bedeutet, kann ich mir denken,« sagte Lorm, »aber was gewinnen Sie dadurch?«

»Freie Bahn,« war die Antwort; »Beseitigung der lästigen Erstgeburtanmaßungen und -vorrechte. Schimpf und Unglimpf, die von dem Menschen ausgehen, übersteigen jeden Begriff.«

Gewisse Individuen, auch Ärzte, waren zur Zeugenschaft und Hilfe bereit. Aber das Mittel der Internierung war immerhin das äußerste. Sollte es fehlschlagen oder die elterliche Einwilligung nicht zu erlangen sein, so blieb ein andres, für das gleichfalls schon vorgearbeitet war. Es mußte ihm der Boden abgegraben werden, man mußte ihn dazu bringen, die Stadt, besser noch das Land verlassen. Boykott an der Universität, wo Christian allerdings nur noch selten auftauchte, war möglich. Auch versprach es Erfolg, in dem Quartier, wo er wohnte, die Leute gegen ihn einzunehmen; man hatte damit schon begonnen. Nur war nicht allzuviel Zeit; das Übel griff um sich, das schändliche Gerede wurde störender mit jedem Tag. Wenn erst die Gerichtsverhandlung über den Mord kam mit ihrer fatalen Öffentlichkeit, war es zu[391] spät. Er mußte vorher vom Schauplatz verschwinden. Aussichtsvoll war es, wenn Judith zu ihm ging, ihm freundschaftlich, schwesterlich nahelegte, das Feld zu räumen und die Angehörigen nicht zur Gewalt zu reizen, einer von den Gesetzen unterstützten Gewalt. Mißlang es Judith und weigerte er sich, so mußte der Vater heran, um jeden Preis. Er habe an Vater geschrieben, und wenn Einschneidendes nicht in Bälde geschehe, wolle er, in einer Woche etwa, telegraphieren. Überdies seien Freunde hingereist, um den Geheimrat zu raschem Handeln zu veranlassen.

Wolfgang saß da, ein zornbleicher Streber, der sich aufgehalten sieht.

»Was Judith betrifft, so ist sie in dieser Angelegenheit unzugänglich,« sagte Lorm kalt. »Ich werde noch einmal mit ihr sprechen, aber ich fürchte, es wird vergeblich sein. Ich meinerseits halte es für wünschenswert, daß sie zu Christian geht, obschon nicht aus demselben Grunde wie Sie. Aber Judith ist nicht überredbar. Schicksale andrer sind ihr Phantome, sogar das des Bruders. Vor einem Jahr noch konnte sie einen Vorschlag dieser Art mit Leidenschaft zurückweisen; heute steht es wahrscheinlich so, daß sie Christian einfach vergessen hat. Sie spielt und phantasiert ihr Leben so hin. Mir tut es leid, daß ich Christian nicht kenne. Aber Menschen kommen zu mir und sind so lange zu mir gekommen, daß ich die Fähigkeit verloren habe, zu ihnen zu gehen. Damit muß ich mich abfinden, es ist ein Übel für sich.«

Wolfgang wunderte sich über diese Worte und ward frostig. Er fragte Lorm, ob er glaube, daß Judith seinen Besuch freundlich aufnehmen würde. Lorm bejahte es. Danach hatte das Gespräch ein Ende; sie drückten einander mit höflicher Gleichgültigkeit die Hand.

Lorm wagte es nicht, Judith von der Zusammenkunft mit Wolfgang zu erzählen. Er hatte Angst vor ihrem Verhör, Angst, daß sie seine Sympathie für Christian spüren könne,[392] Angst, in ihr Puppendasein eine Wolke zu bringen. Doch aus seiner Welt raubte sie nach und nach alles Licht. Die Beschränkungen im Haushalt wurden so schlimm, daß die Dienstleute sich bei ihm beschwerten. Sie litten Hunger. Bäcker und Fleischer konnten die Bezahlung ihrer Rechnungen nur erhalten, wenn sie mit dem Gericht drohten. Die Briefe, die sie an Lorm richteten, unterschlug Judith, denn sie fing jeden Morgen die Post ab. Er wußte es. Eines der Mädchen, das sie nach einem häßlichen Streit davongejagt, hatte es ihm verraten. Er machte Judith keinen Vorwurf. Auch die Ausgaben für seine leiblichen Bedürfnisse begann sie zu verringern, und er mußte sich in Restaurants und Weinstuben schadlos halten. Dafür wuchsen die Summen, die sie für Kostüme, Mäntel, Hüte und Antiquitäten verschwendete, ins Ungemessene. Sie kaufte alte Truhen und Schränke, die sie dann auf den Dachboden stellen ließ; chinesische Vasen, Renaissancedecken, Elfenbeinkästchen, geschliffene Gläser, Leuchter aus getriebenem Metall, alles kunterbunt und wahllos, nach Augenblickslaune; alles stand oder lag ohne zu schmücken, ohne zu dienen, um sie herum wie in einem Laden; bisweilen schenkte sie ein oder das andre Stück in großmütiger Anwandlung einer von jenen Frauen, die ihr gefällig nach dem Mund redeten, und deren Gesellschaft sie deshalb nicht entbehren konnte. Hinterher bereute sie ihre Freigebigkeit und behandelte die Betreffende schlecht, als wäre sie von ihr betrogen worden. Trotz der Unzahl der Gegenstände merkte sie es sofort, wenn einer fehlte oder nicht an seinem Ort war, verdächtigte jeden, der das Zimmer betreten hatte, und ruhte nicht eher, als bis sie des Verlorenen wieder habhaft geworden war. In ihrer Garderobe hingen Dutzende von Gewändern, Hüten, Tüchern, die sie nie am Leibe getragen, außer bei der Anprobe und beim Kauf. Es genügte ihr, sie zu besitzen; mochten sie altmodisch und von Motten zerfressen werden; sie besaß sie, und das genügte.[393]

Lorm wußte es. Er verübelte es ihr nicht. Er erhob keine Einsprache. Er ließ sie gewähren. Er sah nicht oder wollte nicht die augenscheinlichen Folgen seiner unbegrenzten Fügsamkeit sehen, ihre Entartung, ihre Verwilderung, ihre Entherzung. Sie war für ihn immer noch die Frau, die alles geopfert hatte, um in sein einsames und unfrohes Leben zu treten. Er hatte seine schmerzhaft bescheidene Seele zu dauernder Dankbarkeit verurteilt und glaubte nicht das Recht zu haben, sich zu beklagen. Er, der so viele von sich gestoßen, gegen so viele hart gewesen war, so viel echte und tätige Liebe mißachtet hatte, dessen leisester Wink nicht bloß Befehl, sondern Entzücken von tausend Lauschenden und Wartenden war, duldete Erniedrigung und Vernachlässigung, duldete und schwieg wie zum Sühneentgelt und wich nicht in beharrlicher Treue.

Im Theater zitterte man in diesen Tagen vor den Ausbrüchen seiner Gereiztheit. Auch Emanuel Herbsts philosophische Ruhe vermochte wenig über ihn. Er reiste zu Gastspielen nach Breslau, Leipzig und Stuttgart. Seine Wirkungen waren tiefer, als sie seit Jahrzehnten einem Schauspieler beschieden gewesen. Man spürte die Wende, Wende einer Zeit, Vollendung eines Menschen. Das Publikum, zur Erfassung des Phänomens erst befähigt in der Bindung durch den Geist, ahnte Letztmaligkeit und war in der Leidenschaft seines Beifalls erschüttert wie von der tragischen Scharlachglut einer untergehenden Sonne, deren Versinken Unglück bedeutet.

Er kam nach Hause und legte sich krank hin. Nach einer gründlichen Untersuchung wurde das Gesicht des Arztes sehr ernst. Er forderte eine Pflegerin. Judith war im Konzert, die Hausdame versprach, es der gnädigen Frau zu melden. Als Judith zurückkehrte, setzte sie sich ans Bett, war erstaunt, schmollte ein wenig und sprach mit Lorm wie mit einem Papagei, der sich weigert, die üblichen Phrasen zu plappern. Die Pflegerin wurde von der Hausdame aufgenommen.[394]

»Nun, mein Möpschen,« sagte Judith am andern Morgen, »bist du noch nicht gesund? Soll ich dir ein Breichen kochen lassen? Hast wohl bei den Schwaben da unten zu viel Guti-Guti gedampft?«

»Möpschen« lächelte, langte nach der Hand der Frau und küßte sie.

Erschrocken zog Judith ihre Hand zurück. »Pfui,« rief sie aus, »willst du das gleich lassen, du schlimmer Bub! Dein Geliebtes am Ende gar noch anstecken? So etwas! Das darf Möpschen erst, wenn man weiß, was ihm fehlt, und wenn es ungefährlich ist. Verstanden?«

Für den Nachmittag dieses Tages hatte sich Lätizia angesagt. Sie kam in Crammons Begleitung. Der Herzlichkeit in Judiths Begrüßung war brennende Neugier zu gleichem Teil beigemischt. Sie sahen sich an, die beiden Frauen, die sich seit der Mädchenzeit nicht gesehen. Wo bist du gestrandet? Wo du? fragten die Augen. Schmeichelworte überstürzten sich. Crammon gerann zu einer trüben Materie.

Nach einer Viertelstunde erschien das Mädchen und meldete, der Chauffeur des Grafen Rochlitz sei draußen; der Graf warte unten im Wagen. »Er soll heraufkommen,« befahl Lätizia; »nicht wahr, du erlaubst doch?« wandte sie sich an Judith, »ein alter Freund von mir.«

Der Graf folgte dem Geheiß. Er war charmant und erzählte Episoden vom Rennen.

Abermals nach einer Viertelstunde kam die Gräfin-Tante und mit ihr Ottomar und Reinhold. Es war vereinbart gewesen, daß sie Lätizia abholen sollten. Alle diese drängten sich in Judiths Salon und sprachen durcheinander.

Crammon sagte zu Ottomar, dem er in herablassender Weise manchmal seine Anschauungen und Gefühle vermittelte: »Als ich in Tunis war, erwachte ich eines Morgens von heftigem Stimmenlärm. Ich dachte sofort an einen Aufstand der eingeborenen Bevölkerung und stürzte aus dem Bett.[395] Aber es waren nur zwei ältere nußbraune Damen, die vor meinem Fenster eine freundschaftliche Unterhaltung pflogen. Es ist immer so bei den Frauen. Mit einem Minimum von Ursache bringen sie es zu einem Maximum von Getöse. Sie retten beständig das Kapitol. Ich glaube übrigens, daß die Römer, die ja bekanntlich die hanebüchenste Nation der Erde waren, ein Volk von Maulhelden und Säbelraßlern, mit dieser hübschen Fabel von den Gänsen einen ziemlich ungalanten Hintersinn verknüpft haben. Ansonsten standen sie in der Beurteilung weiblicher Natur auf der Stufe von mutierenden Tertianern. Beweis: die Geschichte von Tarquinius und der Lukretia. Ein haarsträubender Unsinn. Zehnpfennigromantik. In meinem Elternhaus hatten wir einen Weihnachtskalender, da war die Begebenheit in Verse gesetzt und illustriert. Dieser Katarakt von Züchtigkeit hatte mir ganz verkehrte Begriffe von grundlegenden Lebensverhältnissen eingeimpft, und es dauerte Jahre, bis ich den Schwindel durchschaut hatte.«

Ottomar sagte: »Ich gebe Ihnen alle preis, bloß Lätizia nicht. Sehen Sie mal hin, wie sie sich bewegt, wie sie den Kopf trägt. Sie ist immer die Auserlesene. Sie macht jedes Beisammensein von Menschen festlich. Ich finde, sie ist wie ein Sinnbild des schönen Augenblicks. Sie wird nie altern, und was sie tut, ist nur wie ihr Traum. Ihre Handlungen haben keine Folge, nicht einmal Wirklichkeit, und sie erwartet auch keine von ihnen.«

»Sehr tief, sehr fein,« entgegnete Crammon seufzend, »aber der Himmel behüte Sie davor, mit einem solchen Feenwesen praktische Wirtschaft zu versuchen.«

»Soll man auch nicht, darf man auch nicht,« sagte der junge Mann überzeugt.

Crammon erhob sich und ging zu Judith. »Ist Edgar Lorm nicht zu Hause, gnädige Frau?« fragte er. »Kann man zu ihm? Wir haben uns lange nicht gesehen.«[396]

»Edgar ist krank,« antwortete Judith mit zusammengezogenen Brauen, als habe sie Grund, sich durch diese Tatsache beleidigt zu fühlen.

Ein Stillschweigen entstand. Alle spürten Unbehagen. Und Crammon sah, wie wenn es ein neues Gesicht wäre, Judiths hervorspringende Backenknochen und durch Schminke beschädigte Haut, den süchtig verpreßten Mund mit bitteren Falten, den flatternden Blick, die unsteten Hände. Es war etwas Verdorbenes an ihr und um sie, von Krampf und Spielwut Herrührendes, von gelockerten und morschen Geweben, eine Heiterkeit, die Grimm war, eine Belebtheit, die an knarrende Gliederpuppen mahnte.

Lätizia hatte vergessen, von Christian zu sprechen. Erst auf der Straße fiel ihr der Zweck des Besuches ein. Sie machte Crammon Vorwürfe, daß er sie nicht erinnert habe. »Es verschlägt nichts,« sagte Crammon, »ich will morgen wieder hin, und du kannst ja mitkommen. Ich will Lorm sehen. Mir ahnt nichts Gutes. Da ist Unheil im Zug.«

»Ach, Bernhard,« klagte Lätizia, »du unkst die Sonne um ihren Schein und die Rosen um ihren Geruch.«

»Nein, ich weiß nur, daß sich das Gesicht der Welt verändert, ohne daß ihrs merkt, ihr armen, verkauften Seelen,« antwortete Crammon mit erhobenem Finger.

Und er ging zu Borchardt, wo er köstlich zu speisen gedachte; Henkersmahlzeit nannte er es jedesmal.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 390-397.
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