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[179] Ruth und Christian traten in eine schlechtbeleuchtete, schlechtriechende Stube. Die Tür zu dem kleinen Vorraum stand offen, ebenso die in ein anstoßendes Zimmer führende, da sich ziemlich viele Leute im Wohnzimmer befanden. Unbekümmert um die fremden Menschen saß Mutter Heinzen an einem runden, mit zahllosen Gegenständen, Feilen, Schachteln, Tintenzeug, sogar ein Paar Schuhen bedeckten Tisch und schälte Kartoffeln. Im Hintergrund, an einem zweiten Tisch, der schmal und massiv war wie eine Hobelbank, waren Joachim Heinzen und ein Lehrling damit beschäftigt, mit Handmaschinen Metallkapseln zu stanzen. Der alte[179] Heinzen lag in einem Korbsessel; der untere Teil seines Körpers war in ein gefranstes schwarzes Tuch gehüllt, das den Blicken die Verstümmelung entzog. Das Gesicht, zurückgelehnt, hager und fast regungslos, mit dicken, violett entzündeten Lidern, einem schütteren Bart und einer scharfen, geraden Nase, zeigte keine innere Beteiligung an den Vorgängen, die sich um ihn abspielten.

Einige tuschelnde Weiber standen ihm zunächst. Etwas abseits bildeten ein Unteroffizier, ein Metzgergeselle mit blutiger Schürze und aufgestreiften Ärmeln, ein Mädchen von der Heilsarmee mit einer blauen Brille und ein Lohndiener in einer Phantasieuniform eine Gruppe. Hinter Christian und Ruth erschien ein Mensch, dessen Kopf mit weißen Binden umwickelt war, die nur einen Spalt für die Augen freiließen, ferner ein furchtsam aussehender Mann, der an Krücken ging, und ein Weib, dessen Gesicht von ekelhaftem Schorf bedeckt war. Andre Gestalten wurden nach und nach auf dem Vorplatz sichtbar.

Niemand traute sich noch in die Nähe des Wundertäters, da drängte sich hastig und keuchend eine Frau ins Zimmer, die ein drei- bis vierjähriges Kind auf dem Arm trug. Das Kind war bleigrau im Gesicht, hatte die Augen in die Winkel verkrampft, und Hals und Glieder waren widernatürlich verdreht. Da die Frau am ganzen Leib bebte und nicht wußte, wohin sie sich wenden sollte, nahm ihr Ruth das Kind ab und trug es zum alten Heinzen hin. Die Leute machten ihr willig Platz. Ihr Gesicht hatte einen Ausdruck strahlenden Wohlwollens.

Joachim Heinzen stand auf, indes der Lehrling eine Partie fertiger Kapseln in einen mit Sägespänen gefüllten Korb warf und diesen schüttelte. Die Hände in die Hüften gestemmt, trat Joachim dicht an den Stuhl seines Vaters heran und verschlang Ruth mit den Blicken. Sein Mund war offen, der Kopf vorgestreckt, alles an ihm verriet höchste Erregung. Ruth[180] hielt dem alten Heinzen das Kind hin und sagte etwas, was wegen des Geklappers der Kapseln unverständlich blieb. Da winkte Joachim drohend zurück, und der Lehrling stellte den Korb zu Boden.

Der alte Heinzen schlug die Augen auf und erhob den rechten Arm. Das war die Heilgebärde, und ein Schweigen entstand, daß man ein Zündholz hätte fallen hören können. Christian beobachtete, mit welcher Hingebung, welcher liebevollen Bewegung Ruth das epileptische Kind dem siechen Mann entgegenhielt; da durchzuckte es ihn, und er fragte sich bestürzt: Glaubt sie denn daran? Ist es möglich, daran zu glauben? In dem Maß, wie seine Bestürzung zunahm, wuchs die Ahnung von etwas Unbekanntem und Unfaßbarem; wie oft in Situationen, die eine außergewöhnliche Empfindung in ihm hervorriefen, mußte er sich einer heimlichen Lachlust erwehren, und er schaute verlegen zu Boden.

Auf einmal ließ Heinzen den aufgehobenen Arm wieder fallen. Er schien beirrt. Er rückte mit Kopf und Schultern und sagte mit matter Stimme: »Es geht nicht heute. Es ist einer da und nimmt mir die Kraft. Es geht nicht.«

Diese Worte machten tiefen Eindruck auf alle. Die Augen begannen zu suchen. Sie glitten von einem zum andern. Köpfe wandten sich, Pupillen liefen unruhig. Es verging keine Minute, da hatten sich die Blicke aller im Zimmer befindlichen Menschen auf Christian gerichtet. Sogar die kartoffelschälende Mutter Heinzen war aufgestanden und starrte ihn an.

Christian hatte Heinzens Worte gehört. Was forderten die Augen der Menschen? Was bedeutete das? Fragten sie? Wünschten sie? Zürnten sie? War etwas an ihm oder in ihm, das sie beleidigte und störte? Doch schienen sie eher scheu und verwundert als gegen ihn eingenommen zu sein. Das zweideutige Lächeln schwebte um seine Lippen, seiner Stummheit altes Siegel; indem er wie um Hilfe bittend emporschaute, begegnete[181] er dem Blick Ruths, und in diesem lag leuchtendes Verstehen und jene silberne, geistige Liebe, die alle ihre Lebensäußerungen durchdrang.

Die Mutter des Kindes stieß einen Schrei aus. »Wie denn, nimmt dir die Kraft?« schrie sie entsetzt; »besinn dir doch. Mann; um Jottes willen, besinn dir doch!«

»Kanns nicht anders sagen,« murmelte Heinzen, »es ist einer da und nimmt mir die Kraft.«

»Und hat er denn die Kraft?« rief das Mädchen von der Heilsarmee in gellendem Ton.

»Das weiß ich nicht,« antwortete Heinzen gedrückt; »möglich, aber ich weiß es nicht.«

Christian trat langsam zu Ruth heran, die noch immer das Kind im Arm hielt, beugte sich und schaute auf das leblose Wesen nieder. In diesem Moment löste sich der epileptische Krampf; Schaum perlte aus dem Mund, ein leises Weinen wurde vernehmbar.

Die Bewegung der Gemüter ergab ein Atemholen wie aus einer einzigen Brust.

In das Schweigen drang Lärm von draußen. Man hatte schon vorher Gelächter und Schimpfen gehört, es verstärkte sich jetzt, und an der Tür zeigten sich Niels Heinrich Engelschall und die rote Hedwig.

Er zerrte die Person ins Zimmer, die betrunken schwankte, mit den Armen fuchtelte und schrill lachte. Von Niels Heinrich vorwärts geschoben, tastete sie mit ausgespreizten Fingern nach einer Stütze; die Menschen, nach denen sie griff, wichen unwillig zurück; Niels Heinrich packte sie an den Schultern und bugsierte sie zu Joachim Heinzen hin, wobei er kicherte; es hörte sich an wie das Gackern eines Huhns. Joachim erschrak und musterte die megärenhaft Aussehende düster und blöde. Sie schlang die Arme schlickernd um seinen Hals, hing sich an ihn und lallte; ihr weitrandiger, schwarzer Hut, auf dem eine grüne Feder wie ein Segel gehißt war, fiel in den[182] Nacken. Joachim suchte sie abzuschütteln, heftete dabei die blöde aufgerissenen Augen auf Ruth, und da sie ihn immer fester umschlang, stieß er sie so roh gegen die Brust, daß sie mit einem Schmerzenslaut zu Boden stürzte und in einer schamlosen Stellung liegen blieb.

Leute eilten schimpfend und protestierend herzu. Einige bückten sich zu der Betrunkenen, die sogleich wieder zu schlickern und zu lallen anfing. Einige ballten die Fäuste gegen Joachim. Mutter Heinzen mischte sich beschwichtigend in den Tumult; Ruth flüchtete zu Christian und ergriff seine Hand. Da geschah das Unheimliche, daß Joachim Heinzen sie beim Arm faßte und sie, über die Breite eines Schrittes ungefähr, zu sich herüberriß. Entweder war es schwachsinnige Eifersucht oder der naiv-brutale Versuch, ihr zu erklären, daß er sich aus der roten Hedwig nichts mache und an dem Auftritt mit ihr schuldlos sei. Mit gläsernen Augen stierte er Ruth an; geiles Grinsen war in seinem Gesicht. Ruth schrie leise, hielt die flache Hand empor und wand sich ein wenig; ihre Lider waren gesenkt, und dies rührte Christian, der ruhig auf den Burschen zutrat und ruhig zu ihm sagte: »Lassen Sie sie los.« Joachim zögerte. »Lassen Sie sie los,« sagte Christian, ohne die Stimme merklich zu erheben. Da ließ er sie los und schnaufte.

Niels Heinrich schien sich ausnehmend gut zu unterhalten. Er machte die Leute, die nicht um die niedergestürzte Trunkenboldin beschäftigt waren, auf die beiden aufmerksam, stieß sein gackerndes Lachen aus und war bemüht, den Idioten anzueifern. »Uf de Beene, Joachim,« rief er ihm zu; »nimm se dir se denn se! feste mang.« Während er aber lachte und hetzte, blieben seine Brauen zusammengezogen, und der obere Teil seines Gesichts war in Finsternis geradezu erstarrt. Er hatte sich in der letzten Zeit ein schmales Kinnbärtchen stehen lassen, das eine rötliche Farbe hatte; es stieg beim Sprechen und Lachen steif auf und ab und verlieh dem Kopf etwas Wachsfigurenhaftes.[183]

Als er sah, daß Christian der lümmelhaften Zudringlichkeit des Burschen Einhalt tat, pflanzte er sich vor ihm auf und sagte mit frecher, schneidender Stimme: »Morjen. Wir kennen uns, sollt ich meenen.«

»Gewiß, wir kennen uns,« antwortete Christian artig.

»Morjen hab ich Ihnen jewünscht,« sagte Niels Heinrich mit unverschämtem Hohn. Das Knebelbärtchen zuckte. Die Finsternis breitete sich von oben her über das ganze Gesicht.

»Guten Abend,« sagte Christian artig.

Niels Heinrich rieb die Zähne. »Morjen!« brüllte er in weißer Wut. Alle im Zimmer Anwesenden fuhren zusammen und hörten auf zu sprechen.

Christian blickte ihn schweigend an. Dann kehrte er sich gelassen zu Ruth und sagte: »Wir wollen gehen, kleine Ruth.« Er ließ ihr mit einer Weltmannsverbeugung den Vortritt; auch grüßte er die Nächststehenden höflich. Es war, als entferne er sich aus einem Salon.

Niels Heinrich starrte ihm mit vorgebeugtem Oberkörper nach, streckte die geballte Faust aus und machte eine Geste wie beim Drehen eines Schraubenziehers.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 179-184.
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