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[219] Ruth beeilte sich, nach Hause zu kommen. Am Sonntagnachmittag pflegte der Vater ein paar Stunden mit ihr zu verbringen. Sie war überrascht, als sie ihn nicht zu Hause fand. Ein Brief lag auf dem Tisch. »An meine Kinder,« stand auf dem Umschlag geschrieben.

Der Brief lautete: »Geliebte Tochter, mein lieber Sohn! Ich muß euch verlassen. Wann ich euch wiedersehen werde, weiß nur ein Höherer. Mein Entschluß ist fest, ich habe lange um ihn gerungen. Ich bin dem Lebenskampf unter den Umständen, die ihr kennt, nicht mehr gewachsen. Um in Berlin vorwärtszukommen, braucht man eiserne Fäuste und eine[219] eiserne Stirn. Ich bin nicht mehr in dem Alter, wo man brutal über Hindernisse hinwegschreitet. Brotlosigkeit droht. Statt euer Ernährer zu sein, steht mir das Schreckgespenst vor Augen, dir, meine Ruth, zur Last zu fallen, die ohnehin Übermenschliches leistet. Meinem Dasein ein Ende zu machen, ist mir letzthin oft verlockend erschienen. Die Religion sowohl wie die Rücksicht auf das Andenken, das mir in euch bleiben würde, haben mich daran verhindert. Es hat sich ein Mann gefunden, ein Glaubensgenosse, der mir zuredete, mit ihm nach Amerika auszuwandern; er hat sich bereit erklärt, mir das Geld für die Überfahrt vorzustrecken. Er ist hoffnungsvoll und verspricht sich Gelingen. Vielleicht wendet sich das Schicksal endlich doch zu meinen Gunsten; vielleicht nötige ich ihm durch das Opfer, das ich bringe, indem ich euch im Unsicheren und in der Bedrängnis lasse, Erbarmen ab. Dann wird mein erstes sein, euch zu mir zu rufen, darauf könnt ihr bauen. Ich sehe keinen andern Weg, mich vor dem Untergang zu retten. Nur weil ich deine Seelenstärke kenne, liebe Ruth, nur weil ich die unerschütterliche Zuversicht habe, daß ein guter Engel über dir wacht, greife ich zu dem, was mir so bitter ist und so schwer fällt. Ich will nicht denken, darf nicht denken; ihr Unmündigen schutzlos, mittellos, ohne Freunde, ohne Verwandte, Gott wird mirs verzeihen und euch behüten. Keinen Abschied weiter. Es muß sein. Sobald Gutes von mir zu melden ist, schreibe ich. Gib dann auch du sogleich Nachricht. Eingeschlossen fünfzig Mark für das, was vorderhand nötig ist. Mehr kann ich nicht entbehren. Die Miete per November ist bezahlt. Schuster Rösike hat noch sechs Mark fünfzig zu bekommen. Es umarmt euch aus treuem Herzen euer sehr unglücklicher Vater.«

Ruth weinte.

Nach einer Stunde, während der sie still sitzen geblieben war, klopfte es an der Tür. Im Glauben, es sei Michael, öffnete sie. Wenn es doch Christian Wahnschaffe wäre, dachte[220] sie in dem Bedürfnis nach freier Mitteilung und hatte Furcht vor dem Bruder.

Es war weder Michael noch Christian. Vor ihr stand ein ärmlich gekleidetes Kind, ein Mädchen mit einem Hund an der Seite, einem Metzgerhund, groß wie ein Kalb, mit abscheulich glattem, glänzendem Fell, das schwarz und weiß gefleckt war.

Ruth ließ die Klinke nicht los, als sie nach dem Begehr des Mädchens fragte, das ebensogut zwölf wie zwanzig Jahre alt sein konnte. Der Hund starrte böse.

Das Mädchen reichte ihr schweigend einen Zettel. Er war schmierig und mit rohen Schriftzügen bedeckt. Ruth dachte erschrocken: Heute kommt alles Schlimme geschrieben. Sie hatte aber noch nicht gelesen, was auf dem Zettel stand; sie fühlte nur, daß es Schlimmes bedeutete.

Sie schaute einen Augenblick gegen das Gangfenster, das ein Rahmen für ein Bündel schwarzer Fabrikschlöte war. Der unheimliche Hund knurrte ein wenig.

Auf dem Zettel standen, schwer zu entziffern, diese Worte: »Sie müssen auf der Stelle hinkommen zu einem, mit dems übel steht. Er hat ein Gift im Leibe, das bringt ihn um, und er muß Ihnen ein Geständnis machen, vor er abkratzt. Er liegt in der hinteren Stube bei Adelens Aufenthalt, was eine Weinkneipe ist, Prenzlauer Allee 112, Hofgebäude links, Kellerstiege. Kommen Sie gleich mit das Mädchen. Der liebe Gott wirds vergelten. Bitte aus Herzensgrund um Gottes willen.«

So der Zettel.

»Was ist denn los? Was soll ich denn?« hauchte Ruth.

Das Mädchen, als sei es stumm, zuckte die Achseln und wies auf den Zettel.

Voll Ahnung, voll innerer Warnung, voll von dem Schmerz über den Brief und die Flucht des Vaters, voll Grauen vor dem Metzgerhund stammelte Ruth unschlüssig und immer[221] wieder den Zettel betrachtend: »Ich weiß nicht ... ich muß auf Michael warten ... wer ist es denn? Warum nennt er seinen Namen nicht?«

Das Mädchen zuckte die Achseln.

Es dünkte Ruth, daß sie den Hilferuf nicht überhören dürfe. Die blutunterlaufenen Augen des Hundes waren auf sie gerichtet. Niemals hatte sie ein so nacktes Tier gesehen. Sie griff sich mit der Hand an die Stirn und sammelte sich bedrängt. Sie kehrte ins Zimmer zurück und schaute sich bestürzt um, denn es schien ihr sehr einsam und kahl. Sie schlüpfte in ihr Mäntelchen und setzte den Hut auf. Ein Lächeln huschte über die Züge, wie aus Freude, daß sie sich entschlossen hatte. Sie durchflog noch einmal den Zettel. »Bitte aus Herzensgrund um Gottes willen.« Es war klar, was man zu tun hatte.

Den Brief des Vaters hielt sie eine Weile unschlüssig in der Hand, dann legte sie ihn zusammengefaltet auf den Tisch, wo ihre Bücher und Schreibhefte in einiger Unordnung verstreut waren. Sie schloß die Bücher, die offen waren, und schichtete sie aufeinander. Der Hund war lautlos ins Zimmer getrabt und folgte ihr, als sie es verließ. An der Tür hing eine kleine Schiefertafel und, an eine Schnur gebunden, ein Griffel. Ruth schrieb auf die Tafel: »Ich komme bald zurück. Bin in die Prenzlauer Allee gegangen. Warte jedenfalls auf mich. Habe Wichtiges mit dir zu sprechen.« Sie sperrte ab und versteckte den Schlüssel unter der Strohmatte.

Das Mädchen bewahrte eine schläfrige Gleichgültigkeit.

Ruth besann sich am Treppenabsatz, dann pochte sie an Karens Tür. Wenn Christian bei Karen war, konnte sie ihm noch ein paar Worte sagen. Aber es kam niemand, um ihr zu öffnen. Karen schläft, dachte sie, und verzichtete darauf, zu läuten. Als sie hinter dem Mädchen und dem nackten Hund die Treppe hinunterstieg, wurden ihr die neuen Verantwortungen und neuen Aufgaben ihres Lebens bewußt. Aber das[222] Wirre zerteilte sich, und das Schwere verlor seine Gewichte in ihrem jungen und mutigen Herzen.

Im Hausflur zögerte sie ein letztes Mal. Doch gab sie es auf, bei Gisevius nachzusehen, ob Christian dort nicht sei, da sich im Hof zwei alte Weiber mit unflätigen Ausdrücken beschimpften.

Es regnete. Der Sonntagnachmittag in der Stolpischen Straße, mit Novemberhimmel und Arbeitsstille, bleichen Gasflammen in die Dämmerung gestickt und brummendem Lärm aus Wirtshäusern, war in gespenstischer Nüchternheit entfaltet.

»Gehen wir also,« sagte Ruth zu dem Mädchen.

Der nackte Hund trabte zwischen ihnen auf dem nassen Pflaster.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 219-223.
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