[229] Karen war des Glaubens, Christian erwarte von ihr, daß sie sich um ihr Kind kümmere. Sie hatte insgeheim ihrer Mutter geschrieben; die Witwe Engelschall antwortete nicht.
Christian hatte von dem Kind nicht einmal gesprochen. Er war nicht darauf gefaßt, bei Karen Fügsamkeit zu finden; ihr ganzes Verhalten gab nichts davon zu erkennen.
Aber in ihrem Bett grübelte sie, ob Christian es erwarte, und was mit dem Kind geschehen sein mochte. Ein glasiges Klirren war bisweilen hörbar. Es kam von den Perlen. Sie langte nach ihnen, vergewisserte sich, daß sie da waren. Dann breitete sich ein verschlagen-wohliges Lächeln über ihre Züge.
Christian war seit drei Tagen nicht aus den Kleidern gekommen. Er schlief im Sofawinkel ein. Seit dem Morgen war formlose Unruhe in ihm.
Isolde Schirmacher, die die Suppe für Karen brachte, weckte ihn durch geräuschvolles Eintreten. Er stellte Stühle zurecht, räumte Bücher vom Tisch, legte die karierte Decke darauf und öffnete ein Fenster. »Heute ist Sonntag,« sagte er.
»Ich mag keine Suppe,« murrte Karen.[229]
»Wenn ich aber un hab se extra für Sie jekocht,« sagte Isolde Schirmacher weinerlich; »un Schweinsfrikassee außerdem. Sie mögen immer alles nich.«
»Friß dein Zeug selber,« erwiderte Karen und sah gehässig in die Luft.
Die Schirmacher trug die Suppe wieder hinaus.
»Mach doch das Fenster zu,« wimmerte Karen; »wozu denn immer das Fenster spannweit auf; es ist einem ja kalt.«
Christian schloß das Fenster.
»Möcht bloß wissen, warum sie die Suppe hinausgetragen hat,« begann Karen nach einer Weile; »das wär ihr gerade recht, wenn sie sich allemal meine Portion in den Wanst stopfen könnte. Ich Hab Hunger.«
Christian ging in die Küche und holte selbst die Suppe. Er setzte sich aus Bett und hielt den Teller in beiden Händen, während sie ihn langsam auslöffelte. »Heiß,« ächzte sie und stemmte den Hinterkopf gegen das Kissen; »mach das Fenster auf, daß 'n bißchen Luft reinkommt.«
Er öffnete das Fenster. Karen sah ihm mit dumpf staunendem Blick nach. Seine Geduld war ihr unergründlich, und es reizte sie, ihn so weit zu bringen, daß er aufmuckte und sie zurechtwies.
In der Nacht verlangte sie zwanzig Dinge und widerrief, was sie eben verlangt, in erbittertem Ton zwanzigmal. Er blieb immer gleich freundlich. Es machte sie rasend; sie hätte schreien mögen. »Herrgott, was bist du denn für ein Mensch?« kreischte sie ihm ins Gesicht und schüttelte die Fäuste.
Christian fand demgegenüber kein Wort.
Um zwei Uhr kam Doktor Voltolini. Die Assistentin, die Karen auf Ruths Bitte untersucht, hatte zu regelmäßigen Besuchen nicht Zeit, und da sie Voltolini kannte, hatte sie es befürwortet, daß er die Behandlung fortsetze.
Karen verweigerte fast auf alle seine Fragen die Antwort. Ihr Haß gegen Ärzte ging auf Erfahrungen zurück, die sie als Prostituierte gesammelt.[230]
»Ich weiß nicht recht, wie ich mich stellen soll,« sagte Doktor Voltolini zu Christian, der ihn bis zur Stiege begleitete; »es ist ein unbegreiflicher Trotz in ihr; wär es nicht, um Ihnen gefällig zu sein, ich hätte schon längst verzichtet.« Er hatte eine tiefe Sympathie für Christian gefaßt und beobachtete ihn oft mit erregter Verwunderung. Christian bemerkte es nicht.
Er machte Karen Vorwürfe.
»Ei was,« fertigte sie ihn ab, »die Doktoren sind Schwindler und Beutelschneider; sie spekulieren bloß auf die Dummheit der Leute. Ich will nicht, daß er mich anrührt. Ich will nicht, daß er mir den Kopf auf die Brust legt, damit ich seine Glatze riechen kann, oder an mir herumklopft hinten und vorn und 'ne Visage aufsetzt wie 'n Scharfrichter. Zum Leben brauch ich ihn nicht und zum Sterben erst, recht nicht.«
Christian schwieg.
Karen kauerte sich zusammen; sie hatte Schmerzen heute. Eine Säge wurde zwischen ihren Rippen hin und her gezogen. Sie fuhr fort: »Möcht bloß wissen, warum du dich auf die Medizin versteifst. Erklär mir das doch. Ich Hab dich nie nach was gefragt, aber das möcht ich wissen. Was freut dich denn an der Doktorei? Was kann dir denn das sein?«
Christian war überrascht von dem dringenden Ton und dem Glanz in ihren Augen. Mit schwerfälligen Argumenten suchte er sie zu belehren. Er sprach wie zu einer ihm Gleichgestellten, mit Achtung und Artigkeit. Karens Augen wurden glänzender und glänzender. Sie verstand nicht ganz den Sinn seiner Rede, aber sie hatte den Kopf weit aus dem Bett gebeugt und lauschte atemlos.
Christian sagte, daß es nicht die Medizin gewesen sei, die ihn angelockt, sondern die Betätigung mit Menschen. Da sei es naheliegend gewesen, etwas zu wählen, wobei ihm gewisse schon erworbene Kenntnisse den Weg abkürzen konnten. Zur Zeit, als er sich dazu entschlossen, habe er noch praktische Pläne[231] und Vorstellungen gehabt; die habe er jetzt nicht mehr. Er habe geglaubt, es könne ihm zur Bestreitung seiner Lebensbedürfnisse dienen; er sehe aber jetzt, daß er sich getäuscht habe, und daß er unfähig sei, mit geistiger oder seiner Hände Arbeit Geld zu verdienen. Daß er zu dieser Einsicht gelangt, sei noch nicht lange her. Er habe neulich den Studenten Jacoby in dessen Wohnung besucht und ihn nicht angetroffen; da sei gerade das Kind der Mietsfrau von einer Leiter gestürzt und regungslos liegengeblieben. Er habe es ins Zimmer getragen, mit Spiritus eingerieben, das Herz behorcht und sei eine Weile bei ihm gesessen. Als es dann wieder munter geworden und er sich zum Gehen angeschickt, habe ihm die Mutter ein Zweimarkstück in die Hand drücken gewollt. Er habe Mühe gehabt, der Frau nicht ins Gesicht zu lachen. Weshalb er sich geschämt, sei schließlich nicht einzusehen, aber er habe sich dermaßen geschämt, daß ihm schwindlig geworden sei. Und dann habe er sich gesagt: Das kannst du nicht, das kannst du nun und nimmermehr.
Während er dies erzählte, wurde ihm bewußt, daß er sich gegen Karen zum erstenmal über sich äußerte. Es fiel ihm nicht schwer; der Grund lag in der feierlichen Aufmerksamkeit, mit der sie ihm zuhörte und die ihr Gesicht veränderte. Es verjüngte sich. Ein Wohlgefühl durchflutete ihn, eine eigene, sogar über die Haut sich ausbreitende Freude. Er hatte eine solche Freude noch nicht kennengelernt. Es war ein neues Gefühl.
Mit freierem Ausdruck fuhr er fort zu sprechen, gelöster und offener noch; das Studium an sich sei ihm gleichgültig; es sei für ihn ein Mittel zu etwas anderm. Wohin es ihn führen werde, wisse er nicht; was die Zukunft anlange, habe sich in letzter Zeit seine Unklarheit vermehrt. Er habe, wie gesagt, etwas Bestimmtes von sich erwartet, nämlich, daß er in einen Beruf würde treten können wie die meisten jungen Leute; aber er habe sich in seiner Erwartung getäuscht. Trotzdem wisse[232] er, daß er im wesentlichen nicht fehlgegangen sei; er übe sich; jeder Tag bereichere ihn; er käme jetzt den Menschen ganz anders nahe; es werde aller Flitter und Aufputz von ihnen genommen. So ein Krankensaal, so ein Wartezimmer in der Klinik, so ein Betäubter auf dem Operationstisch, so ein Spital mit Hunderten von Leidenden, da gebe es keinen Betrug mehr, da packe einen die Wahrheit an, da begreife man vieles, was man vorher nicht begriffen, da könne man in der Welt lesen wie in einem Buch. Brustkranke Kinder, skrofulöse Kinder, Kinder, die mit großen Augen in den Tod schauen, wer das nicht gesehen habe, der lebe gar nicht richtig. Und wo sie alle herkamen und wo sie alle hingingen, und was sie zueinander redeten, die Mütter, die Väter, dies Gewimmel, und jeder einzelne wieder für sich wunderbar interessant. Grausiges schrecke ihn nicht mehr, keine Wunde, keine aufgeschnittene Brust; er sei schon kalt; sei sogar willens, sich für den Dienst in den ostpreußischen Leprabaracken zu melden; es zwinge ihn hinunter, immer weiter hinunter in die Menschheit; er könne nicht satt werden; nur hinunter, hinunter, es gebe ja immer noch Gräßlicheres, noch größere Qual, und das müsse er in sich hineintun, sonst habe er keinen Frieden. Später werde er noch andre Wege finden; an den Kranken, wie gesagt, übe er sich nur; die Leiber seien eins, die Seelen seien ein zweites; immer wenn etwas Heimliches und Verborgenes sich für ihn entschleiert habe, werde ihm leicht ums Herz.
Die Arme auf den Bettrand gestützt, vorgebeugt wie über eine Brüstung, mit gierigem Staunen starrte ihn Karen an. Sie verstand und verstand auch nicht, verstand den Sinn und nicht die Worte, jetzt wieder die Worte und nicht den Sinn; nickte, grübelte, verzog den Mund, lachte lautlos, wie irr, hielt den Atem zurück, ahnte ihn, ahnte Christian, diesen noblen, schönen fremden Menschen, der ihr bis zur Stunde rätselhaft gewesen, ahnte ihn, wußte ihn und kam sich vor wie in Schmiedeglut. Daß man schweigen mußte, daß man zugeriegelt[233] war, daß alles wie Klotz und Stein in einem lag, daß man nicht die Worte hatte, nicht ein einziges, daß man nicht einmal sagen konnte: du Mensch, komm her! Er war ja von Fleisch wie sie, und alles Fleisch an ihr war aufgelockert: sie spürte Dank, wie sie sonst Verzweiflung, Müdigkeit, Schimpf und Haß gespürt, spürte Dank als aufschießende, durch eine Wildnis schlagende Flamme, ein Drängen, ein wehes Jubeln, und doch wieder Verzweiflung dann. Daß man so zu war, so entsetzlich zu!
Mit befremdender Eile ging Christian fort. Karen rief Isolde Schirmacher herein und gab ihr Urlaub bis zum Abend. Sie stand auf und zog sich an. Langsam, mühsam; sie konnte sich kaum auf den Beinen halten; das Zimmer tanzte, der Tisch hing an der Decke, der Ofen war verkehrt. Aber mit jedem Schritt trat sie sicherer auf, wenngleich die Luft in den Ohren gestockt war. Die Perlenkette vergrub sie im Mieder. Sie wankte die Stiege hinunter; alles war ihr bunt. Für ihn etwas tun! Der Gedanke trieb vorwärts. Sie wollte sich zu einer Droschke schleppen und auf den Zionskirchplatz fahren. Wo ist das Kind? Wo hast dus hingebracht? Und wenn die Alte Geschichten machte, dann ihr an die Gurgel und so lange gedrosselt, bis sie Farbe bekannte.
Für ihn etwas tun! Ihm beweisen, daß es eine Karen gab, von der er noch nicht wußte.
Und sie kroch an den Häusern entlang.
Als sie von einem Schutzmann und einem Arbeiter unter Aufsehen und Zusammenlauf von Neugierigen wieder nach Hause gebracht wurde, mehr getragen als geführt, kehrte Christian eben zurück. Er nahm sie bestürzt in Empfang. Sie war bleich wie Kalk. Man legte sie aufs Bett. Da die Schirmacher nicht da war, klopfte Christian an die Tür der Hofmannschen Wohnung, damit Ruth ihm helfe, Karen zu entkleiden. Sein Blick fiel auf die Schiefertafel, und er las, was Ruth für ihren Bruder aufgeschrieben hatte.[234]
Die formlose Unruhe, die während des ganzen Tags auf ihm gelastet, wälzte sich wuchtiger in sein Gemüt.
Ausgewählte Ausgaben von
Christian Wahnschaffe
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