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[238] Um acht Uhr abends klopfte Christian abermals an Ruths Tür. Niemand öffnete. Er wunderte sich.

Er wußte, daß der Schlüssel unter der Strohmatte lag, wenn alle fortgegangen waren. Er hob die Matte auf; der Schlüssel war da. Er ging ins Zimmer zurück.

Karen schien zu schlafen. Ihr Gesicht glich einem Stück Kreide. Der strohige Haarwust, ein lodernder Helm, stach grell aus dem Weiß.

Sie hatte sich, nachdem sie eine Weile starr gelegen war, selbst entkleidet und war stumm ins Bett geschlüpft.

Immer wieder horchte Christian gegen die Wand, ob nicht Stimmen und Geräusche aus der Hofmannschen Wohnung kämen. Es blieb still. Als zwei Stunden verflossen waren, trat er mit der Kerze in der Hand auf den Gang: der Schlüssel lag noch unter der Matte.

Ihm war, als vernehme er irgendwo in der Luft ein Klagen.[238] Er hielt sich nicht für befugt, aufzusperren und in die Wohnung zu dringen, aber nachdem er einige Zeit unschlüssig gestanden, steckte er den Schlüssel ins Schloß und öffnete die Tür.

Das öde Zimmer hauchte ihm Melancholie entgegen. Er stellte die Kerze auf den Tisch; sein Blick fiel auf den offen liegenden Brief des Agenten Hofmann. Er zögerte, ihn zu lesen. Er glaubte Schritte zu hören und lauschte. Das Gefühl, der Brief werde Ruths Ausbleiben erklären, bestimmte ihn, nach ihm zu greifen, und er las.

Da war freilich kein Zweifel mehr, dünkte ihm. Sie hatte den Vater noch bei jemand in der Stadt vermutet und hatte sich auf den Weg gemacht, um ihn an der Ausführung seines Entschlusses zu verhindern. Der Betreffende wohnte wahrscheinlich in der Prenzlauer Allee, und Michael, als er die Nachricht auf der Schiefertafel und dann den Brief gelesen hatte, war ebenfalls dorthin geeilt.

Trotzdem der Gedankengang plausibel schien, blieb Ungewißheit in durcheinanderflutenden Bildern. Fragend glitt sein Auge über die Möbel und Wände, mit scheuer Zärtlichkeit streiften seine Finger über die Bücher auf dem Tisch, die Ruth unlängst berührt hatte. Er verließ das Zimmer, schloß die Tür, versteckte den Schlüssel unter der Matte und ging in Karens Wohnung zurück.

Er verlöschte das Licht und legte sich auf das Sofa. Diese Nächte des verkürzten und horchenden Schlafs nahmen ihn stark mit. Seine Wangen fielen ein; die Nase wurde spitz, die Augenlider entzündeten sich, das Gehirn war gespannt wie eine Trommel.

Das Haus, in jene tückische Erstarrung versunken, die sein Kennzeichen Nacht für Nacht war, stellte sich ihm als ein gerippehaftes Monstrum dar, bestehend aus zahllosen Wänden, zahllosen Betten, zahllosen Türen, umhüllt von einer übelriechenden Finsternis. Trotzdem liebte er es: er liebte die abgescheuerten Stufen der Treppe; er liebte die Merkmale[239] der Verwitterung an Mauern und Pfosten; er liebte das Feuer, das in den Herdlöchern brannte und das er in den Wohnungen beim Vorübergehen sah; er liebte das abgemergelte Weib, das in einer Stube einen Säugling keifend beruhigte; er liebte das vielfältig Trostlose der ineinander gezahnten Existenzen; er liebte die kleinen, verwelkten, rußbedeckten Blumenstöcke an einem Hoffenster, die gelben Äpfel auf den Simsen, die Papierschnitzel im Hausgang, den Küchenabfall sogar, den schmutzige Mädchen in Trögen vors Tor trugen.

Während sein inneres Schauen an der Strohmatte hing und dem Schlüssel, der darunter lag, an dem Brief des Agenten Hofmann und den Büchern und Heften auf dem Tisch, dem Kattunkleidchen am Nagel und dem Laib Brot auf der Anrichte, formte sich aus alledem die Gestalt Ruths und trat daraus hervor wie aus Elementen, von denen sie geschaffen worden.

Er entsann sich eines Besuchs im Warenhaus mit ihr, wo sie sich billige Handschuhe gekauft hatte. Im Menschengewühl war er an ihrer Seite durch die Räume gegangen, und er erinnerte sich des stillen Entzückens in ihrem Gesicht, mit dem sie die Gebirge von schneeweißer Wäsche und bunten Seidenstoffen betrachtet hatte; die Spitzen, die Hüte, die Gürtel, die Kostüme, alles, was ein junges Geschöpf bezaubern und verführen muß. Aber ihr Genügen war dieses eigne stille Entzücken, mit dem sie sagte: es ist da; gut, daß es da ist. Kein Langen und Verlangen, nur Entzücken darüber, daß es da war.

So ging sie auch unter den Menschen umher, ohne Langen und Verlangen; empfing den festlichen Lichterglanz der illuminierten Läden, den Reichtum, der aus Palästen prahlte, den Taumel der Vergnügungen, der diese Stadt durchfieberte, wenn sie ihrer Arbeit vergessen wollte; so wies sie die Lockungen zurück, das Gift von tausendfachen Betäubungen, wies zurück, was über das Maß und die Kraft ging, warf[240] ihre Jugend über die Welt, stand in schamhafter Ergriffenheit inmitten.

Er war eines Tages dabei gewesen, als sie mit dem Studenten Lamprecht stritt, der demagogische Grundsätze entwickelte. Sie hatte eine reizend plauderhafte Art, zu disputieren, dabei waren ihre Ansichten äußerst entschieden. Man hatte von der Tat und vom Opfer gesprochen, und Ruth sagte, sie könne den Unterschied zwischen beiden nicht sehen, es gäbe Fälle, wo sie verschwistert seien oder gar ein und dasselbe. Schließlich rief sie aus: »Alle Hindernisse besiegt doch nur der Geist; er umschließt die Tat und das Opfer.« Als ihr der Partner entgegenhielt, daß der Geist doch verkündet werden müsse, und daß dies schon wieder Tat sei, sagte sie mit heißen Wangen: »Muß man ihn wirklich verkünden? Dann nenn ich ihn nicht mehr so. Herzensdienst ist besser als Mund- und Händedienst.«

Da sah Christian, obschon mit dem Lächeln dessen, der überlegen bleibt, weil er sich nie in Streitfragen mischt, daß ihm diese Stimme unentbehrlich geworden war, dieses Auge, das erglühte, glühende Gefühl, die schwingende, tieferfahrene, tiefjunge Seele. Sie gab ihn sich selbst. Sie war die Schwester und der Freund. Er wußte sich durch sie. Sie war der Mensch. Kein Schlaf wollte sich einstellen. Beständig kam sie in der Dunkelheit schattenhaft und fand den Mut nicht, ihn anzureden. Er schreckte bisweilen empor, und sein Herz klopfte schnell. Einmal sah er sie körperlich vor sich. Er hörte ein stehendes Flüstern, bei dem es ihn kalt überlief. Er stand wieder auf und zündete Licht an. Karen stöhnte.

Er trat an ihr Bett. »Wasser,« murmelte sie.

Er brachte ihr Wasser, und während sie trank, beugte er sich liebevoll über sie. Ihre Augen blickten ihn groß und klagend an. Sie waren naß.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 238-241.
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