23

[251] Der Agent Hofmann hatte von Bremerhaven aus einen Abschiedsgruß an seine Kinder geschrieben. Der Postbote hatte die Karte in die Türfuge gesteckt, und Christian las sie.[251]

Bei ihrem Vater konnte also Ruth nicht sein; das war nun Zweifellos; eine Gewißheit, die erschreckte. Wo war sie also? Und wo war Michael?

Er ging zum Hausverwalter und sprach mit ihm über das Verschwinden der beiden. Es wurde die Anzeige bei der Polizei gemacht.

Er wußte die Namen von Familien, wo sie Stunden erteilt hatte. Er ging zu ihnen, aber nirgends vermochte man ihm Aufschluß zu geben. Er ging in die Anstalten, die sie besucht, zu Freunden und Freundinnen, mit denen sie verkehrt hatte; überall traf er Verwunderung, Kopfschütteln, Ratlosigkeit. Man nannte ihm neue Wege, neue Menschen. Der und der, die und die hatte sie da und dort zuletzt gesehen; die Spur verlor sich. Er war von morgens bis abends auf der Suche nach Spuren; sie verloren sich, kaum, daß er sie aufgegriffen. Die Sorge und das bestürzte Fragen zog Kreise.

Die Wache bei Karen hatte er Isolde Schirmacher und der Witwe Spindler überlassen.

Am Abend des fünften Tages kehrte er müde heim. Botho Thüngen und der Student Lamprecht hatten ihm bei den Nachforschungen geholfen. Alles war vergeblich gewesen. War eine Hoffnung entstanden, so hatte sie der nächste Schritt zunichte gemacht.

Und wo war Michael?

Christian stieg die Treppe hinan. Die Gasflamme im Halbstock brodelte. Am Geländerpfeiler hockte quiekend das weiße junge Kätzchen. Christian bückte sich und hob es auf seine Hände. Es begann leidenschaftlich zu schnurren, schmiegte sich dicht an seinen Rock, und er streichelte das seidenweiche Fell, von dem Wohlbehagen auf seine Hand überströmte.

Den Schlüssel, der unter der Strohmatte gelegen, hatte er im Einverständnis mit dem Hausinspektor in Verwahrung genommen. Am andern Morgen sollte er ihn abliefern, da eine behördliche Kommission erwartet wurde.[252]

Er schloß die Tür auf und trat in die finstere Stube. Muffige Luft umfing ihn. Jeder Hauch von Ruth war verweht. Ruth, kleine Ruth, mußte er denken, und in dem Maß, wie er sich innerlich zu einem Gefühl sammelte, hörte die Finsternis auf, unnatürlich und störend zu sein.

Er setzte sich an den Tisch. Das durch den Türspalt fallende Licht ließ ihn die Bücher und die Hefte seiner kleinen Freundin gewahren. Er ging hin und machte die Tür zu. Erst jetzt war er imstande, sich Ruth mit jener Lebhaftigkeit zu vergegenwärtigen wie in der ersten schlaflosen Nacht nach ihrem Verschwinden. Sie trat nicht nur aus der Dunkelheit hervor wie damals, sondern sie sprach auch zu ihm.

Sie heftete ihre munteren, köstlich lachenden Augen auf ihn und sagte in einem Ton, dessen Ernst sich in schroffem Widerspruch zu dem Ausdruck der Augen befand: »Nein, niemals, nimmermehr.«

Was bedeutete dieses Nein, Niemals, Nimmermehr? Worauf bezog es sich?

An die Fensterscheiben drängte sich Nebel. Das Kätzchen schmiegte sich zärtlicher in seinen Arm; das weiße Fell war ein unbestimmt schimmernder Fleck. Die lebendige Kreatur, geformt und atmend, blutwarm und liebend, verhinderte ihn, sich einem immer schwerer hinunterziehenden Schmerz völlig hinzugeben.

Auf einmal gewahrte er, vor sich ausgebreitet, eine Landschaft. Es ist ein Weg mit hohen Pappeln im Herbstlaub, ein breiter Schlammweg, alles schwarzer Morast, rechts Heide bis ins Unendliche, links Heide bis ins Unendliche; die schwarzen, dreieckigen Silhouetten einiger Hütten, durch deren Fenster vom Feuer her ein rotes Licht scheint; da und dort Tümpel schmutzigen, gelblichen Wassers, die die Luft widerspiegeln und in denen Stämme vermodern; das Ganze in der Dämmerung mit einer weißlichen Luft darüber, und von fern eine rauhhaarige Figur, der Hirt; und eine Anzahl eiförmiger[253] Massen halb Wolle, halb Schlamm, die gegeneinander stoßen und einander verdrängen: die Herde. Mit Mühe und Unwillen schreiten sie dahin auf dem schlammigen Weg, bis zum Bauernhof, einigen Moosdächern und Stroh und Torf zwischen den Pappeln. Der Schafstall: dunkel; die Tür weit offen wie der Eingang zu einer dunkeln Spelunke. Durch die Spalten der Planke dringt das Licht der Luft von hinten durch. Die Karawane von Wollklumpen und Schlamm verschwindet in dieser Höhle, und der Hirt und eine Frau mit einer Laterne schließen die Türe.

Wie kam es, daß ihm die sichtbar-unsichtbare Anwesenheit Ruths die Vision dieser Landschaft gab? Er hatte eine solche Landschaft, soweit er sich erinnern konnte, nie gesehen. Wie kam es, daß etwas so Beschwichtigendes und etwas so Aufwühlendes, Sehnsucht und Furcht, von der Landschaft ausging wie kaum von einem Schicksal, einem Antlitz, einer Gestalt? Und wie kam es, daß das Nein, Niemals, Nimmermehr als ein geheimnisvoller Sinn darin enthalten war, eine Mitteilung wie in einem Bilde?

»Ruth, kleine Ruth.«

Die Betrübnis drang Christian in Mark und Bein.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 251-254.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Christian Wahnschaffe
Christian Wahnschaffe (2)
Christian Wahnschaffe (2); Roman in Zwei Banden
Christian Wahnschaffe Band 1
Christian Wahnschaffe Band 2
Christian Wahnschaffe: Roman