5

[531] »Ich bin eine Verwandte von Daniel, und wir müssen uns duzen,« sagte Philippine zu Dorothea. Dorothea war damit einverstanden.

Jeden Morgen, wenn Dorothea in die Küche kam, erkundigte sich Philippine: »Was hast denn geträumt?«

»Ich war auf dem Bahnhof, es war Krieg, und Zigeuner haben mich fortgeschleppt,« antwortete Dorothea einmal.

»Bahnhof bedeutet unerwarteten Besuch, Krieg bedeutet Zwietracht mit verschiedenen Persönlichkeiten, und Zigeuner bedeuten, daß du's mit leichtsinnigen Menschen zu tun bekommst,« ratschte Philippine im Hochdeutsch ihres Geheimbuchs.

Philippine wußte auch in der Punktierkunst Bescheid; oft saß Dorothea bei ihr und stellte Fragen, z.B. ob der oder der in sie verliebt sei, oder ob die und die den und den liebe; Philippine malte Punkte auf ein Blatt Papier, schrieb die Zahlen daneben, schlug das Verzeichnis auf und teilte die Antwort des Orakels mit.

Binnen kurzem waren die beiden ein Herz und eine Seele. Bei ihren Ausgelassenheiten durfte Dorothea stets auf das Beifallsgelächter Philippines zählen, und wenn Agnes apathisch zuschaute, stieß Philippine sie in den Rücken und fuhr sie an: »Dummes Luder, kannst gar nit 's Maul aufmachen?«

Da schlich Agnes traurig zu ihren Schulheften und saß stundenlang über einer einfachen Rechenaufgabe. Dorothea brachte ihr bisweilen ein Stück Gugelhupf; den wickelte sie ein, steckte ihn in die Tasche und gab ihn am andern Morgen einer Kameradin, aus deren Heft sie die Aufgabe abschreiben durfte.

Der Provisor Seelenfromm hielt Philippine auf der Gasse an und fragte: »Na, wie stehts denn bei euch? Wie macht sich die junge Frau?«[532]

»Joi, wir leben wie Gott in Frankreich,« versetzte Philippine, und ihr Mund dehnte sich bis an die Ohren, »jeden Tag Braten, jeden Tag Kuchen, der Wein steht immer auf'm Tisch, und ein Besuch gibt dem andern die Tür in die Hand.«

»Da muß der Nothafft aber hundsmäßig reich geworden sein,« meinte der Provisor verblüfft.

»Muß wohl so sein, ums Geld sorgt sich keiner mehr bei uns, unsere Frau wenigstens hat alleweil das Portemonnaie voll.«

Der Himmel war blau, die Sonne schien, der Frühling war gekommen.

Quelle:
Jakob Wassermann: Das Gänsemännchen, Berlin 88-911929, S. 531-533.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Das Gänsemännchen
Das Gänsemännchen
Das Gänsemännchen
Das Gänsemännchen