[522] In der Nacht bemächtigte sich Daniels eine tiefe Erregung. Er verließ das Haus, und trotz der Finsternis und des fallenden Schnees ging er weit vor die Stadt, merkte die Nässe, die Kälte und den Wind nicht.
Er lauschte in sein Inneres, hielt letzten Rat mit sich und schaute oft, als flehe er um Erleuchtung, zum schwarzen Himmelsgewölbe empor. Schwärzer noch dünkte ihn das Morgen, in Bangigkeit verlor er sich, und es trieb ihn zu den Gräbern.
Erst auf dem Weg zum Kirchhof bedachte er, daß das Tor in der Nacht zugesperrt sein mußte, dennoch ging er weiter.[522] Lange suchte er nach einer Stelle an der Mauer, wo er hinüberklettern konnte. Endlich fand er eine, klomm hinauf, schürfte sich die Hände wund, sprang in schneebedecktes Strauchwerk hinab und irrte mit beklommener Brust über das stürmische, öde Gefilde. Als er dann vor Gertruds Grab stand, überwältigte ihn das Gefühl der Stunde, Stimmen waren im Sturm, Grauen und Erinnerung wollten ihn schier zu Boden reißen, aber vor Lenores Grab wurde es ruhig in seiner Brust, auch öffneten sich plötzlich in der Tiefe des Horizonts die Wolken, und ein Mondstrahl zitterte hindurch.
Spät, der Morgen war schon nahe, kam er heim.
Acht Tage darauf holte er Dorothea von Siegmundshof ab.
Sylvia und Dorothea kamen ihm durch eine beschneite Allee entgegen. Sie gingen Arm in Arm, und Sylvia lächelte zu Dorotheas Geplauder. Sie schienen in gutem Einverständnis, das Bild konnte nicht täuschen, und Sylvia sagte auch, als sie mit Daniel allein war, daß sie Dorothea liebgewonnen. Ihrem Frohsinn könne niemand widerstehen, und mit den Kindern werde sie selber zum Kind.
Trotzdem betrachtete Sylvia Daniel, und wenn Dorothea dabei war, auch diese bisweilen mit einem schnellen, forschenden, sonderbar unsicheren Blick.
Es war ein sonniger Dezembertag, als Daniel und Dorothea Hochzeit hielten.[523]
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