11

[232] »Was schreibt denn Benda?« fragte Gertrud zaghaft.

»Denkt euch nur, er geht nach Afrika,« antwortete Daniel mit einer Stimme, als löge er. »Kurios, nicht wahr? Zur Stunde ist er vielleicht schon auf dem Meer.«

Während in seiner Miene die Furcht war, als könnten die sich nähernden Schwestern erraten, was er von dem Inhalt des Briefes verschweigen mußte, las er vor, was er mitteilen durfte.

»Warum liest du denn nicht weiter?« erkundigte sich Lenore, als er abbrach.

Sie beugte sich über den Tisch, um wißbegierig in den Brief zu schauen, dabei verwickelten sich ihre Haare in der Metallverzierung der Hängelampe. Gertrud erhob sich, um sie zu befreien.

Daniel hatte die Hand über den Brief gelegt und schaute Lenore drohend an. Das gefesselte Mädchen, seinem Blick begegnend, kämpfte zwischen Lachen und Verdruß, und es war ihm unbehaglich, ihre Augen so nah vor sich zu sehen.

»Weißt du nicht, daß sich das nicht paßt?« fragte er. »Wir haben vielleicht ein Geheimnis, Benda und ich.«

»Ich hab gedacht, Benda läßt mich grüßen,« erwiderte Lenore und errötete beschämt.

Da hielt Daniel den Brief über den Zylinder der Lampe, wartete, bis er Feuer fing, und warf ihn dann auf den Boden, wo er verbrannte.

»Es ist schon spät, der Vater wartet,« sagte Lenore, als sie in aller Eile gegessen hatte.

»Ich begleite dich hinüber,« erklärte Daniel. Überrascht von so ungewohnter Ritterlichkeit schaute ihn Lenore an. Er blickte finster drein und sie verwunderte sich noch mehr. »Ich kann auch allein gehen, Daniel,« sagte sie ernst; »brauchst dich nicht zu inkommodieren.«[233]

»Inkommodieren, Lenore? Was soll denn das wieder heißen? Bist du auch von der Sorte, die keinen Ton halten kann und das Pedal tritt, wo die Empfindung versagt?«

Lenore schwieg.

»Zieh deinen Mantel an, Daniel,« bat Gertrud im Flur, »es weht ein kalter Wind.«

Sie wollte ihm den Mantel umhängen, aber er warf ihn ärgerlich auf die Truhe.

Schweigend ging er neben Lenore über den menschenleeren Platz.

Sie hatte schon den Schlüssel ins Torschloß gesteckt, da schaute sie bekümmert auf. »Daniel, was ist denn mit dir?« fragte sie. »Wenn ich dich anseh, wird mir angst und bange. Was hab ich denn verbrochen, daß du jetzt immer so häßlich gegen mich bist?«

»Laß das, Lenore, ich bitt dich, laß es sein,« sagte er mit rauher Stimme. Aber der Blick, den sie auf ihn geheftet hielt, war streng und unerbittlich prüfend, so wenig mädchenhaft, so stark und kühn, daß ihm plötzlich weich ums Herz wurde. »Geh noch ein Weilchen mit mir auf und ab,« bat er.

Lange redeten sie nichts, bis endlich Lenore fragte, was er arbeite. Nur zögernd gab er Bescheid, aber auf einmal flammten die Worte. Er sagte, oft sei ihm zumut, als ringe er in der Finsternis mit Kobolden. Was zu tiefst aus der Seele gequollen, sei so schwer an Laut und Zunge und ersterbe ihm in der Mühe um die Form. Ihm könne nichts gedeihen als das Entrückte, das Erdentbundene, dessen Melodie noch in keiner Menschenbrust Widerhall finde. Deshalb erscheine er oft so haltlos und unglücklich ins Schweifen gewiesen, denn je herrischer die Ordnung sei, unter die er Geist und Phantasie gestellt, je verlorener treibe sein leibliches Teil im Chaos der Werktagswelt. Den Himmel trage er nur als Traum in sich, unter den Menschen sei für ihn die Hölle. Und wie tot alles um ihn liege, ein Kirchhof; sein beherztestes Leben[234] werde allgemach zu Schatten und Ungestalt entfleischt, aber daß er grausam sei gegen die Menschen, spüre er wohl, denn jene lebten ja auch, unschuldiger als er und nützlicher.

»Aber du hast doch eine, die dich hält,« wagte Lenore einzuwerfen, »du hast doch Gertrud.«

Darauf antwortete er nicht. Sie wartete, daß er antworten solle, und als sie begriffen hatte, daß er nicht antworten würde, lächelte sie zu ihm hinüber wie mit einem letzten Versuch, ihn zu einer Bestätigung zu bewegen. Dann schwand die Ruhe aus ihren Zügen; jedesmal, wenn sie an einer Laterne vorbeigingen, drehte sie den Kopf zur Seite.

»Sie ist vor Gott dein Weib,« sagte sie endlich leise und mit wundersamer Feierlichkeit.

Daniel horchte bestürzt auf. In den Wind hinein redend, entgegnete er: »Die Oberstimme, Lenore; ein Vogel, der in den Bäumen zwitschert. Vor Gott mein Weib! Aber in den Wurzeln heult der Baß. Ein teuflisches Tremolo; hörst du's?«

Er lachte toll und sein Gesicht war ihr mit gebleckten Zähnen zugewandt, sie aber packte beschwörend seinen Arm.

Da drückte er die Hand wider die Stirn und sagte: »Der Brief, Lenore, der Brief ...«

»Siehst du, ich hab's ja gleich gewußt, Daniel, der Brief. Was steht denn in dem Brief?«

»Das kann ich nicht sagen,« antwortete er, »sonst purzelt mir die süße Oberstimme in den finstern Baß, da wär's um sie geschehen.«

Lenore schaute ihn erstaunt an, so närrisch war er ihr noch nie erschienen.

»Paß auf,« fuhr er fort und legte seinen Arm in den ihren, »ich hab ein Lied komponiert, das geht so.« Und er sang zu Versen von Eichendorff eine Melodie von zarter Schwermut. »Weil jetzo alles stille ist und alle Menschen schlafen, mein Seel' das ewige Licht begrüßt, ruht wie ein Schiff im Hafen.«[235]

Sie standen wieder bei der Haustüre; aus dem Weilchen waren zwei Stunden geworden und Lenore sagte ihm gute Nacht.

Ungern stieg er die Treppe zu seiner Wohnung empor.

Gertrud saß im Vorplatz auf der Truhe. Mit dem Mantel, den er vorhin von sich geworfen, hatte sie ihre Beine bedeckt, der Rücken war an die Mauer gelehnt, der Kopf auf die Schulter gesunken und so schlief sie, ohne bei seinem Kommen zu erwachen. Neben ihr auf der Truhe stand die bis aufs Metall herabgebrannte Kerze und flackerte nur noch mit letzten Zuckungen, welche das Antlitz der Schläferin durch rasch wechselnde Schlagschatten fremdartig leidend machten.

»Vor Gott mein Weib,« murmelte Daniel, und erst, als die Kerze verlöscht war, weckte er Gertrud auf und sie gingen in der Finsternis in die Schlafkammer.[236]

Quelle:
Jakob Wassermann: Das Gänsemännchen, Berlin 88-911929, S. 232-237.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Das Gänsemännchen
Das Gänsemännchen
Das Gänsemännchen
Das Gänsemännchen

Buchempfehlung

Lohenstein, Daniel Casper von

Sophonisbe. Trauerspiel

Sophonisbe. Trauerspiel

Im zweiten Punischen Krieg gerät Syphax, der König von Numidien, in Gefangenschaft. Sophonisbe, seine Frau, ist bereit sein Leben für das Reich zu opfern und bietet den heidnischen Göttern sogar ihre Söhne als Blutopfer an.

178 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon