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[218] Daniel hatte lange gezögert, den Empfehlungsbrief der Frau von Erfft zu benutzen. Da bat ihn Gertrud, zur Baronin Auffenberg zu gehen. »Geh ich dir zuliebe, so rächt sich's an dir,« sagte er.

»Wenn ich dein Weigern verstünde, wollt ich nicht bitten,« antwortete sie erschrocken.

»Dort in Erfft hab ich so viel gewonnen,« sagte er, »so[218] viel Menschenwärme, die mir neu war, daß ich keinen Zweck dahinter setzen mag. Verstehst du jetzt?« Sie nickte.

»Aber Muß ist stärker als Mag,« schloß er und ging.

Die Freifrau nahm sich mit Entschiedenheit seiner Sache an. Am Stadttheater war die Stelle eines zweiten Kapellmeisters frei geworden, und sie bewarb sich für Daniel darum. Man versprach, ihrem Wunsch zu willfahren, doch hinterrücks wurden Ränke gesponnen, und wenn sie mahnte, wurde sie gleißnerisch vertröstet. Sie wunderte sich, eine Feindseligkeit anzutreffen, die sich wie auf Verabredung von allen Seiten gegen den jungen Musiker kehrte. Keiner der Widersacher ließ sich sehen oder hören; es war das erstemal, daß sie handelnd mit der Welt zusammenstieß, und ihre Entrüstung über die Feigheit und Falschheit hatte etwas Rührendes.

Endlich, nach einer langen und für sie demütigenden Unterredung mit dem Allerweltsmakler Alexander Dörmaul, wurde ihr das Engagement Daniels für das nächste Frühjahr zugesagt.

Die Freifrau nahm indessen Stunden bei Daniel. Es war ihr Wunsch, mit dem Bestand guter Klavierwerke vertraut gemacht und über ihre Art faßlich belehrt zu werden.

Es dauerte lange, bis sie sich an seine mürrische Strenge gewöhnt hatte. Ihr war, als zerre er sie aus einem wohlig lauen Bad in kalte Zugluft; sie verlangte nach ihren Dämmerungen zurück, nach ihren Auflösungen, nach ihren wehleidigen Stimmungen.

Einmal wagte sie einen entzückten Ausruf, als er einen fugierten Satz trocken erklärte. Da schlug er den Klavierdeckel unter ihren Händen zu und sagte: »Adieu, Frau Baronin.« Er kam erst wieder, als sie ihn durch einen Brief zu kommen bat.

Verdorbener Saft, vergebliche Mühe, dachte er, ohne doch die menschliche Würdigkeit der Freifrau zu übersehen. Die acht Stunden im Monat waren ihm eine bittere Plage;[219] trotzdem fand er sich mit zwanzig Mark für die Stunde zu hoch bezahlt und sagte es auch. Der Verdacht, daß man ihm ein Almosen reichen wolle, machte ihn im höchsten Grade unliebenswürdig.

Ein Diener erlaubte sich eine freche Vertraulichkeit; da packte er den Menschen am Kragen und schüttelte ihn, daß er blau im Gesicht wurde. Er war sehnig wie ein Jaguar und im Zorn äußerst zu fürchten. Die Freifrau mußte den Diener entlassen.

Einst zeigte ihm die Freifrau ein altertümliches Glas aus Bergkristall, welches schön bemalt war. Indem er es bewundernd anblickte, ließ er es fallen und das Gefäß zerbrach. Er war zerknirscht wie ein Schuljunge, und die alte Dame mußte ihn mit vielen Überredungskünsten beruhigen. Da spielte er ihr zum Dank den ganzen Karneval von Schumann vor, den sie über alles liebte.

Man konnte ihn jeden Vormittag über die Fleischbrücke eilen sehen. Er ging stets rasch; die Schöße seines Mantels flogen. Er hatte stets die Mundwinkel auseinander gezogen und die Unterlippe zwischen die Zähne geklemmt. Sein Blick war zur Erde gerichtet; im dichtesten Gedränge schien er allein zu sein. Die umgebogene Hutkrempe verbarg die Stirn; seine schlenkernden Arme glichen den Flügelstümpfen eines Pinguins.

Wenn er bisweilen stillestand und mit einem horchenden Ausdruck im Gesicht schaute, ohne zu sehen, sammelten sich Gassenjungen um ihn und grinsten. Einmal fragte ein kleiner Knabe seine Mutter: »Sag Mutter, wer ist das uralte Männlein dorten?«

So müssen wir ihn denken, an diesem Punkt seines Lebens, vor den Gewitterjahren seines Lebens; so eilig, so abgekehrt, so mürrisch, so trocken scheinend, so von Phantasie und Begierde durch den engen Kreis seines Werktags gejagt, so jung und so uralt; so müssen wir ihn denken.

Quelle:
Jakob Wassermann: Das Gänsemännchen, Berlin 88-911929, S. 218-220.
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