[391] Es war Anfang Oktober, als Daniel den Freiherrn zum erstenmal in seinem Zwergenhaus an der Burg oben besuchte.
Sie hatten sich am Abend in dem Wirtshaus auf der[391] Schütt getroffen, dort aber waren eines Fischessens halber mehr Gäste als sonst gewesen, der Lärm war ihnen unbequem, und sie waren beizeiten aufgebrochen.
Sie gingen schweigend bis zum Rathaus, da sagte Eberhard: »Kommen Sie noch auf eine Stunde zu mir.« Daniel nickte.
In dem winzigen Stübchen zündete Eberhard die sechs Kerzen eines Leuchters an. Daniels verwunderten Blick bemerkend, sagte er: »Mir ist nichts widerwärtiger als Petroleum oder Gas. Das da ist Licht, das andere illuminierter Gestank.«
Eine Weile blieb es still. Daniel hatte sich aufs Kanapee gerekelt.
»Illuminierter Gestank,« wiederholte er plötzlich mit befriedigtem Auflachen; »nicht übel. Das ist eben die neue Zeit. Ich glaube, sie heißen's fin de siècle. Nichts soll blühen mehr, alles wird fabriziert. Die Männer sind Amerikaner, greuelhaft ernüchtert vom Erwerbsrausch, die Weiber verlieren den edlen Eigensinn des Instinkts, die Städte sind zu ungeheuren Dampfmaschinen geworden, alt und jung liegt vor den sogenannten Wundern der Technik auf dem Bauch, als ob es für die Menschheit wirklich etwas zu bedeuten hätte, wenn irgendein Faulenzer in Paris schon beim Frühstück erfährt, daß der Papst gut geschlafen hat, oder wenn eine Gewehrkugel vierzehn Leute hintereinander durchbohrt statt wie bisher sieben. Wer will da noch aus seiner innern Seele schaffen? Es ist wie Wahnsinn und Unzucht.«
»Doch, man kann aus seiner innern Seele schaffen,« sagte der Freiherr, in dessen Gesicht der verdrossene Ausdruck einem angespannten wich, »man kann den unsichtbaren Geist in die Sichtbarkeit bannen.«
Daniel, der noch nicht ahnte, daß der Freiherr gewissermaßen aus einem ganz andern Land und mit einer ganz andern Sprache redete, fuhr fort: »Aller Vorrat von Anteil und Enthusiasmus, den die Nation zu vergeben hat, ist aufgezehrt.[392]
Die altehrwürdigen Werke bestehen in ihrer Gültigkeit, sie werden bestaunt und gepriesen, zeugende und umbildende Kraft haben sie nicht mehr. Sonst gedeiht nur der Hokuspokus, und wer ihm nicht vergibt, dem wird nicht vergeben. Das Leben aber ist kurz, ich spür's an jedem Tag, und hegt man die Pflanze nicht, so welkt sie hin.«
»Es ist nicht nur Hokuspokus,« erwiderte Eberhard, der jetzt völlig verwandelt war, jedoch auch seinerseits die schmerzliche Empörung des Musikers nicht begriff; »sehen Sie, ich habe mit Menschen wenig verkehrt; meine Zuflucht war das Reich der Abgeschiedenen, der unsichtbaren Geister, die in die Erscheinung treten, wenn das gläubige Gemüt nach ihnen ruft. Meine Aufgabe war es, mich zu entsinnlichen, zu entmaterialisieren, dann bekamen die Geister Stoff und Gestalt.«
Daniel richtete sich überrascht empor und sah, was für einen bleichen Blick der Freiherr hatte. Ihm schien, daß sie ganz nah und ungeheuer fern voneinander waren. Er mußte aber seinen Faden weiter spinnen. »Ja, ja, ja,« rief er mit demselben kurzen Auflachen wie am Anfang des Gesprächs, »auch meine Geisterchen verlangen Gläubigkeit und wimmern und klagen um Form und Gestalt. Das haben Sie fein ausgedrückt, Baron.«
»Und haben Sie ihnen gegenüber, den Geistern gegenüber, auch Verzicht geleistet?« fragte Eberhard streng.
»Verzicht? Worauf? Denken Sie, das braucht's bei mir? Ich bin das Widerspiel zu Kronos. Mich fressen meine Kinder, und das bei lebendigem Leibe. Ich beschwöre Geister und geb ihnen Fleisch und Blut, dafür machen sie mich zum Schatten. Es sind rebellische Burschen, sag ich Ihnen, die kein Erbarmen kennen. Ich soll eine zur Gleichgültigkeit erstarrte Bürgerwelt für sie alarmieren. Was mich kränkt und ekelt, soll ich auf die leichte Achsel nehmen; ich soll ihre Hure sein und mich feilbieten; ich soll ihr Krämer sein und[393] für sie schachern. Kampf ist ja was ganz Schönes, und wenn's gegen Feinde geht, kann man sich ins Zeug legen. Aber meine Geisterchen wollen bejubelt und verhätschelt werden, und was sich an Haß in mir aufhäuft, ist vielleicht nur die Wut über das vergebliche Werben. Nein, es ist kein ehrlicher Haß, weil ich nach jedem Lumpenkerl schmachte, der nichts von meinen Geistern wissen will, weil meine ganze Existenz darin besteht, Gehör von denen zu erbetteln, die nicht hören mögen, Liebespfennige bei denen zusammenscharren, die nicht lieben können, weil mir einer oder zwei oder drei nicht genügen, sondern weil ich Tausende haben muß, weil ich nichts bin ohne die Tausende, und mich in Angst und Not verblute, wenn ich mir nicht einbilden kann, die Welt geht nach meinem Schritt und Takt. Den Michel Pfifferling kann ich verachten, der sich besoffen zu seinem Weibe legt und für den der Name Beethoven ein unverständlicher Schall ist; Jason Philipp Schimmelweis macht mich lachen, wenn er mir ins Gesicht schreit: die ganze Kunst ist mir piepe. Aber es steckt doch wieder Menschheit in ihnen, und soweit Menschheit in ihnen steckt, muß ich sie haben, muß sie von mir überzeugen, und wenn sie mir das Herz darüber aus dem Busen reißen. Ist das ein Leben? Einen Kirchhof aus den Gräbern graben und den Leichnamen Atem einhauchen müssen, damit sie tanzen? Und immer mit dem Bewußtsein: dieser Augenblick ist der einzige! Ich bin, ich bin; da steht der Tisch, da brennen die Kerzen, da vor mir sitzt ein Mensch, und wenn ich aufgehört habe zu reden, ist schon alles anders, als ob ein Jahr vergangen wäre, alles unwiederbringlich. Zeigt mir einen Weg zur Menschheit, ihr Menschen, dann glaub ich an Gott.«
Dem Freiherrn wurde es schwül zu Sinn. Er mußte an gewisse aufregende Zusammenkünfte denken, wo man in zitternder Erwartung im Dunkel gesessen war, und dann war eine Stimme aus dem Jenseits gekommen, bei der einem das Mark in den Knochen gefror. Er wagte kaum nach der[394] Stelle hinzusehen, wo Daniel sich befand; die Worte des Musikers verursachten ihm eine tiefe Pein; es lag in ihnen eine Gefräßigkeit, eine Schamlosigkeit und eine Grausamkeit, die ihm Schrecken einflößten.
Beinahe hätte er gefragt: und Lenore? und Lenore?
Aber so sehr er sich, aus seiner Erziehung, seinen Gewohnheiten und Lebensansichten heraus, abgestoßen fühlte, es war da noch etwas anderes, wovor er sich beugte. Er hätte nicht genau sagen können, was es war; es schloß Empfindungen zwischen Furcht und Erschütterung in sich.
Während er darüber nachdachte, vernahm er ein Klirren der Fensterscheibe. Er blickte hin und sah das Gesicht des Herrn Carovius, angepreßt an die Scheibe, so daß die Nase schier plattgedrückt war und die Zwickergläser zwei schillernden Fettflecken auf dem Wasser ähnelten.
Auch Daniel schaute empor; auch er gewahrte das von Ingrimm und Drohung verzerrte Gesicht des Herrn Carovius. Bestürzt sah er den Freiherrn an. Dieser erhob sich und sagte: »Entschuldigen Sie die Störung; ich habe vergessen, den Vorhang herunterzulassen.«
Er ging ans Fenster und ließ den dunklen Vorhang über das Gesicht des Herrn Carovius fallen.
Ausgewählte Ausgaben von
Das Gänsemännchen
|
Buchempfehlung
Die beiden »Freiherren von Gemperlein« machen reichlich komplizierte Pläne, in den Stand der Ehe zu treten und verlieben sich schließlich beide in dieselbe Frau, die zu allem Überfluss auch noch verheiratet ist. Die 1875 erschienene Künstlernovelle »Ein Spätgeborener« ist der erste Prosatext mit dem die Autorin jedenfalls eine gewisse Öffentlichkeit erreicht.
78 Seiten, 5.80 Euro