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[410] Als er nach Hause kam, lag Lenore in verfrühten Wehen. Philippine empfing ihn mit den Worten: »Es gibt Familienzuwachs, Daniel.« Und sie schlug ein rohes Gelächter auf.

»Schweig, Kröte!« herrschte Daniel sie an; »seit wann hat sie Schmerzen? Warum holst du nicht die Hebamme?«

»Kann ich's Kind allein lassen? Schimpf einen nicht so,« erwiderte Philippine mürrisch und drohend. Sie ging fort und holte die Hebamme. Nach einer halben Stunde kehrte sie mit der Frau zurück. Es war Frau Hadebusch.

Daniel war unangenehm berührt. Er wollte fragen und Widerspruch erheben, Frau Hadebusch kam ihm mit ihrer alten Zungengeläufigkeit zuvor. Grinsend, knicksend, augenverdrehend und auf alle Weise schöntuend, berichtete sie, daß ihr[410] Ehegespons vor drei Jahren das Zeitliche gesegnet habe und daß sie sich und ihren armen Heinrich, den Idioten, als Geburtshelferin schlecht und recht ernähre. Sie schien sich schon mit Lenore ins Einvernehmen gesetzt zu haben, denn als sie ins Zimmer trat, wurde sie von dieser wie eine Bekannte begrüßt.

Während Daniel ein paar Minuten mit Lenore allein war, fragte er entrüstet: »Wie kommst du denn zu dem lästerlichen Weib?«

Sanft und arglos antwortete Lenore: »Sie ist halt eines Tages dagewesen und hat mir zugeredet. Sie hat von dir geschwärmt und hat mir erzählt, daß du bei ihr gewohnt hast, und da hab ich gedacht: es ist ja gleich, welche es ist, und hab sie bestellt.«

Mit Mühe sprach sie zu Ende. Ihr Gesicht, weiß wie Papier, spannte sich im Ausdruck ungeheurer Qual. Sie langte nach Daniels Hand und umklammerte sie so stark, daß ihm vor Angst kalt wurde.

Als sie zu stöhnen begann, wandte er sich ab und drückte die Fäuste gegeneinander. Frau Hadebusch trug einen Kübel voll heißen Wassers herein. »Hier hat kein Mannsbild was zu tun!« kreischte sie mit freundlicher Gesichtsverzerrung, packte Daniel bei der Schulter und schob ihn durch die Tür.

Die kleine Agnes stand im Flur und sagte: »Vater.«

»Bring das Kind zu Bett,« schrie Daniel Philippine an.

Der Inspektor trat aus der Küche. Er hielt ein irdenes Näpfchen, in welchem sich Suppe befand, die man ihm aufgehoben hatte und die er sich selbst überm Herdfeuer gewärmt hatte. Er ging auf Daniel zu und sagte mit bebendem Kinn: »Unser Herrgott schütze sie und verfahre gnädig mit ihr!«

»Laß das, Vater,« antwortete Daniel ungeduldig. »Unser Herrgott regiert mit Vorbehalten, die mich toll machen.«

»Willst der Agnes nicht Gutnacht sagen?« fragte Philippine in unwirschem Ton aus der Kammer.[411]

Er ging hinein. Das Kind schaute ihm furchtsam entgegen. Je mehr es zum Menschen heranwuchs, je größer wurde seine Scheu vor diesem Kind. Vollends unerträglich war ihm stets das Beisammensein Lenores mit dem Kind gewesen. Ergründen hatte er das Gefühl nicht können. Er wußte nur so viel, daß er Lenore nicht mehr eigenlebend sah, wenn das Kind mit seinen großen Gertrudsaugen und dem gebogenen Lenorenmund daneben war, sondern daß sie sich plötzlich in die Schwester jener andern verwandelte, daß sie nur noch Schwester war. Und dies empfand er als etwas Verhängnisvolles.

Aus Agnes' großen Kinderaugen blickten ihn beide Schwestern an, zu einem einzigen Wesen verschmolzen, und ein vorauswissendes Entsetzen beschlich ihn. Schwestern! Das Wort klang auf einmal feierlich in seinen Ohren, voll dunkler Beziehung, mythisch groß.

»Schlaf, Kindla, schlaf, da draußen stehn zwei Schaf, ein schwarzes und ein wei–ißes ...« plärrte Philippine. Wunderlich, wie viel Bösartigkeit in ihrem Singsang lag.

Daniel hielt es in der Wohnung nicht aus und irrte bis weit über Mitternacht in den Straßen herum. Immer, wenn er den Entschluß faßte, heimzukehren, mußte er daran denken, daß ihm Frau Hadebusch in den Weg treten würde, und da hätte er sich lieber aufs Pflaster legen und warten mögen, bis ihm jemand Kunde zutrug, wie es mit Lenore ging.

Quelle:
Jakob Wassermann: Das Gänsemännchen, Berlin 88-911929, S. 410-412.
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