Vierter Auftritt

[396] Miß Cœurne. Gerardo.


MISS CŒURNE sechzehn Jahr, in halblangem Kleid, offenem, blonden Haar, einen Strauß roter Rosen in der Hand, spricht mit englischem Akzent, Gerardo klar in die Augen sehend. Ich bitte, schicken Sie mich nicht fort.

GERARDO. Was soll ich denn anders mit Ihnen tun? Ich habe Sie, weiß der Himmel, nicht gebeten, hierherzukommen. Sie sind ungerecht, mein Fräulein, wenn Sie mir das übelnehmen wollen, aber morgen abend muß ich singen! Ich gestehe Ihnen offen, ich glaubte diese halbe Stunde für mich zu haben. Ich habe eben noch extra den Auftrag erteilt, niemanden, wer es auch sein möge, zu mir hereinzulassen.

MISS CŒURNE vortretend. Schicken Sie mich nicht fort. Ich habe Sie gestern als Tannhäuser gehört, und ich bringe Ihnen nur diese Rosen.

GERARDO. Und? – – Na? – – Und?

MISS CŒURNE. Mich! – – Ich weiß nicht, sag ich es recht.

GERARDO faßt die Lehne eines Sessels, nach kurzem Kampfe, den Kopf schüttelnd. Wer sind Sie?

MISS CŒURNE. Miß Cœurne.

GERARDO. So – ja.

MISS CŒURNE. Ich bin noch sehr dumm.

GERARDO. Das weiß ich. Aber kommen Sie, mein Fräulein – Sich in einen Fauteuil setzend und sie zwischen seine Knie ziehend. –, sprechen wir ein ernstes Wort, wie Sie es in[396] Ihrem kurzen Leben noch nicht gehört haben und – wie es Ihnen sehr not zu tun scheint. – Ich habe deswegen, weil ich Künstler bin – verstehen Sie mich bitte recht; Sie sind – wie alt sind Sie?

MISS CŒURNE. Zweiundzwanzig.

GERARDO. Sie sind sechzehn, höchstens siebzehn. Sie machen sich einige Jahre älter, um begehrenswerter für mich zu erscheinen. – Nun? – Sie sind noch sehr dumm. Und ich habe in meiner Eigenschaft als Künstler doch wahrhaftig nicht die Pflicht, Ihnen, mein Fräulein, über Ihre Dummheit hinwegzuhelfen! Nehmen Sie mir das nicht übel. – Nun? Warum starren Sie jetzt vor sich hin?

MISS CŒURNE. Ich habe gesagt, daß ich noch sehr dumm bin, weil man das hier in Deutschland bei einem jungen Mädchen hochschätzt.

GERARDO. Ich bin nicht Deutscher, mein Kind, aber trotzdem ...

MISS CŒURNE. Nun? – – Ich bin gar nicht so dumm.

GERARDO. Ich bin auch schließlich kein Kindermädchen! – Der Ausdruck ist falsch, ich fühle es, denn – Sie sind allerdings kein Kind mehr?

MISS CŒURNE. Nein! – Gott sei Dank! – Jetzt nicht!

GERARDO. Aber sehen Sie, mein wertes Fräulein – Sie haben Lawn-Tennis-Partien, Sie haben Skating-Klubs, Sie können radfahren, Sie können mit Ihren Freundinnen Bergpartien machen, Sie können schwimmen, reiten, tanzen. Sie haben jedenfalls alles, was sich ein junges Mädchen wünschen kann. Warum, mein Fräulein, kommen Sie denn dann zu mir?!

MISS CŒURNE. Weil mir das alles abscheulich ist und weil ich es furchtbar langweilig finde.

GERARDO. Da haben Sie recht; das will ich Ihnen gar nicht bestreiten. Ich selber, das muß ich Ihnen offen gestehen, ich kenne das Leben von einer anderen Seite. Aber, mein Kind, ich bin ein Mann und bin sechsunddreißig Jahre alt. Für Sie kommt auch die Zeit, wo Sie Anspruch auf einen höheren Lebensinhalt haben. Werden Sie zwei Jahre älter, dann findet sich gewiß jemand für Sie, und Sie brauchen sich nicht bei mir hier, bei jemandem, der – Sie nicht hergebeten hat und den Sie nicht[397] näher kennen, als wie ihn – das ganze Europa kennt, hinter den Fenstervorhängen zu verbergen, um das Leben von seiner – erhabenen Seite zu kosten.

MISS CŒURNE atmet schwer.

GERARDO. Nun? – Haben Sie aufrichtigen, herzlichen Dank für Ihre Rosen! – Ihr die Hand drückend. Wollen Sie sich für heute damit zufrieden geben?

MISS CŒURNE. Ich habe an einen Herrn noch nie gedacht, so alt ich bin, bis ich Sie gestern auf der Bühne als Tannhäuser gesehen habe. – – Und ich verspreche Ihnen auch ...

GERARDO. Oh, versprechen Sie mir nichts, mein Kind! Was kann mir das gelten, was Sie mir jetzt versprechen wollen? Der Nachteil wäre einzig auf Ihrer Seite. – Sie sehen, ich rede mit Ihnen, wie der liebevollste Vater nicht liebevoller reden kann. Danken Sie Gott, daß Sie mit Ihrer Unbesonnenheit nicht einem andern Künstler in die Hände gefallen sind. Drückt ihr die Hand. Ziehen Sie für Ihr Leben eine Lehre daraus und lassen Sie sich das genügen.

MISS CŒURNE ihr Taschentuch vor dem Gesicht, mehr für sich, aber ohne Tränen. Bin ich so häßlich!

GERARDO. Häßlich? – Häßlich sind Sie doch deswegen nicht! – Sie sind jung und Sie sind unbesonnen! Erhebt sich nervös, geht nach rechts, kommt zurück, legt den Arm um ihre Taille und ergreift ihre Hand. Hören Sie mich, mein Kind! Sind Sie denn darum häßlich, weil ich zu singen habe, weil ich Künstler bin von Beruf! – Da heißt es gleich, ich bin häßlich, ich bin häßlich; ich kann hinkommen, wo ich will! Wenn ich eben auf dem Sprung bin, abzureisen, und morgen abend den Tristan ...! Verstehen Sie mich nicht falsch, aber ich bin, weil ich singe, doch wirklich nicht verpflichtet, Ihnen Ihre Jugendfrische und Ihre Schönheit zu bestätigen. Sind Sie deswegen häßlich, mein Kind? Appellieren Sie an andere Männer, die weniger angestrengt sind! Können Sie mir zutrauen, mein Fräulein, daß ich Ihnen je in meinem Leben so etwas sagen würde!

MISS CŒURNE. Sagen, das nicht, aber denken.[398]

GERARDO. Aber sagen Sie mir doch, bitte, das eine! Fragen Sie nicht nach meinen Gedanken Ihnen gegenüber; die kommen hier in diesem Augenblick nicht im geringsten in Betracht. Ich versichere Sie und bitte Sie, es mir auf mein Wort als Künstler zu glauben, weil ich ehrlich mit Ihnen rede: Ich bin leider ein Mensch, der kein Geschöpf auf dieser Welt, und sei es noch so armselig, leiden sehen kann. Sie musternd, aber mit Würde. Und Sie, mein Kind, Sie tun mir aufrichtig leid; ich kann Ihnen die Versicherung geben, nachdem Sie Ihre Mädchenwürde soweit niedergekämpft, um hier auf mich zu warten. Aber rechnen Sie bitte, mein Fräulein, nur mit meinen Lebensverhältnissen! Rechnen Sie einfach mit meiner Zeit! Es haben mich gestern wenigstens zweihundert, vielleicht dreihundert hübsche, liebenswerte, junge Mädchen in Ihrem Alter in meiner Rolle als Tannhäuser auf der Bühne gesehen. Wenn nun jedes dieser jungen Mädchen dieselben Ansprüche stellen wollte wie Sie? – Was in aller Welt würde dann aus meinem Gesang? – Was würde aus meiner Stimme? – Wohin käme ich denn mit meiner Kunst?

MISS CŒURNE sinkt in einen Sessel, bedeckt ihr Gesicht und weint.

GERARDO auf der Lehne ihres Sessels, über sie gebeugt, freundlich. Sie versündigen sich, mein Kind, wenn Sie darüber weinen, daß Sie noch jung sind. Das ganze Leben liegt vor Ihnen. Gedulden Sie sich. Schätzen Sie sich vielmehr glücklich. Wie gerne begänne unsereiner – auch wenn er als Künstler lebt, gleichviel – alles das noch einmal von vorn! – Seien Sie, bitte, nicht undankbar dafür, daß Sie mich gestern gehört. Erlassen Sie mir dieses traurige Nachspiel. Trage ich die Schuld daran, daß Sie sich in mich verliebt haben? Das tun alle. Dazu bin ich ja da. Mein Impresario verlangt von mir, daß ich mich dem Publikum in dieser Erhabenheit zeige. Das Singen allein tut es nicht. Als Tannhäuser kann ich nicht anders erscheinen. – Seien Sie lieb, mein Kind. Lassen Sie mir die paar Augenblicke, die ich noch habe, für morgen.[399]

MISS CŒURNE erhebt sich, trocknet ihre Tränen. Ich kann es mir gar nicht denken, daß ein anderes Mädchen so würde getan haben wie ich.

GERARDO sie gegen die Tür dirigierend. Ganz recht, mein Kind ...

MISS CŒURNE sich sanft sträubend, unter Schluchzen. Wenigstens nicht – wenn ...

GERARDO. Wenn mein Diener nicht unten stände!

MISS CŒURNE wie oben. – wenn –

GERARDO. Wenn das Mädchen so hübsch und jugendfrisch ist wie Sie!

MISS CŒURNE wie oben. – wenn –

GERARDO. Wenn es mich nur ein einziges Mal als Tannhäuser gehört hat!

MISS CŒURNE mit erneutem Anfall. Wenn es so anständig ist wie ich!

GERARDO auf den Flügel deutend. Dann sehen Sie sich, mein Kind, zum Abschied die Blumen an. Sei Ihnen das eine Warnung für den Fall, daß Sie sich noch einmal versucht fühlen, sich in einen Sänger zu verlieben. Sehen Sie, wie frisch das noch alles ist. Ich lasse sie verwelken, zugrunde gehen oder – schenke sie dem Portier. Und sehen Sie diese Briefe. Nimmt eine Handvoll Briefe aus der Schale. Ich kenne keine der Schreiberinnen; seien Sie ganz außer Sorge. Ich überlasse sie ihrem Schicksal. Was will ich anderes tun! Aber, glauben Sie mir, jede Ihrer liebenswürdigen jungen Freundinnen ist dabei.

MISS CŒURNE bittend. Well, ich will mich nicht ein zweites Mal verbergen. – Ich will es nicht wieder tun ...

GERARDO. Aber meine Zeit, mein Kind! Wenn ich nicht im Begriff wäre, abzureisen! Ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß Sie mir leid tun! Aber in fünfundzwanzig Minuten geht mein Zug. Was wollen Sie denn da noch!

MISS CŒURNE. Einen Kuß.

GERARDO sich hoch aufrichtend. Von mir?

MISS CŒURNE. Yes.

GERARDO sie um die Taille haltend, mit Würde, aber freundlich. Sie entwürdigen die Kunst, mein Kind. Sind Sie wirklich der Ansicht, daß man meine Person deshalb[400] mit Gold aufwiegt? Werden Sie erst älter und lernen Sie etwas mehr Respekt vor der keuschen Göttin hegen, der ich mein Leben und meine Arbeit weihe. – – Sie wissen gar nicht, wen ich damit meine?

MISS CŒURNE. Nein.

GERARDO. Das sehe ich. Ich will Ihnen, nur um nicht unmenschlich zu sein, mein Bild schenken. Geben Sie mir Ihr Wort, daß Sie mich dann verlassen?

MISS CŒURNE. Yes.

GERARDO. Gut. Geht hinter den Tisch, eine seiner Photographien unterschreibend. Versuchen Sie doch, sich für die Oper zu interessieren, statt für die Männer, die auf der Bühne stehen. Wer weiß, vielleicht empfinden Sie doch einen höheren Genuß dabei.

MISS CŒURNE für sich. Ich bin noch zu jung.

GERARDO. Opfern Sie sich der Musik! Kommt nach vorn und gibt ihr die Photographie. Sie sind noch zu jung, aber – es gelingt Ihnen vielleicht doch. Sehen Sie in mir keinen berühmten Sänger, sondern das unwürdige Werkzeug in der Hand eines erhabenen Meisters. Blicken Sie um sich unter den verheirateten Frauen Ihrer Umgebung: Alles Wagnerianerinnen! Studieren Sie seine Texte, lernen Sie seine Leitmotive empfinden. – Das schützt Sie vor Unschicklichkeiten.

MISS CŒURNE. I thank you.

GERARDO geleitet sie hinaus und drückt beim Hinausgehen die Klingel. Er kommt zurück und nimmt den Klavierauszug zur Hand; geht nach links. – Es klopft. Herein!


Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Berlin und Weimar 1969, S. 396-401.
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