Neunter Auftritt

[415] Gerardo, Helene Marowa, dann der Hoteldiener.


HELENE blendende Schönheit, zwanzig Jahre, Straßentoilette, Muff; sehr erregt. Ich werde mir von dem Menschen den Weg vertreten lassen! – Er steht wohl unten, damit ich nicht zu dir kann?!

GERARDO ist aufgesprungen. Helene!

HELENE. Du wußtest ja, daß ich noch kommen werde!

DER HOTELDIENER in der offengebliebenen Tür, sich die Backe haltend. Ich habe getan, was ich konnte, Herr Kammersänger, aber die Dame hat mich ...

HELENE. Geohrfeigt!

GERARDO. Helene![415]

HELENE. Ich soll mich wohl insultieren lassen?!

GERARDO zum Hoteldiener. Gehen Sie.


Der Hoteldiener ab.


HELENE legt ihren Muff in den Polstersessel. Ich kann nicht mehr ohne dich leben. Entweder nimmst du mich mit oder ich gehe in den Tod.

GERARDO. Helene!

HELENE. Ich gehe in den Tod! Du zerschneidest mir die Lebensnerven, wenn du dich von mir trennst. Ich bin ohne Hirn und Herz. Einen Tag wie gestern, einen ganzen Tag, ohne dich zu sehen, das überlebe ich nicht mehr. Dazu bin ich nicht stark genug. Ich bitte dich, Oskar, nimm mich mit! Ich bitte dich um mein Leben!

GERARDO. Ich kann nicht.

HELENE. Du kannst, was du willst! Wie wolltest du das nicht können! Du kannst dich nicht von mir trennen, ohne mich zu töten. Das sind keine Worte; ich drohe dir damit nicht; es ist so! Ich weiß es so bestimmt, wie ich mein Herz hier fühle: Ich bin tot, wenn ich dich nicht mehr habe. Deshalb nimm mich mit! Es ist deine Menschenpflicht! Sei es nur auf kurze Zeit.

GERARDO. Ich gebe dir mein Ehrenwort, Helene, ich kann es nicht. – Ich gebe dir mein Ehrenwort darauf.

HELENE. Du mußt es tun, Oskar! Ob du es kannst oder nicht, du mußt die Folgen deiner Handlungen tragen. Ich hänge an meinem Leben, und du und mein Leben sind eins. Nimm mich mit, Oskar! Nimm mich mit, wenn du mein Blut nicht vergießen willst!

GERARDO. Erinnerst du dich an das, was ich dir am ersten Tage in diesen vier Wänden sagte?!

HELENE. Ja, ja! – Was hilft mir das?

GERARDO. Daß von Gefühlen zwischen uns nicht die Rede sein kann?

HELENE. Was hilft mir das! Kannte ich dich denn?! Ich habe ja nicht gewußt, was ein Mann sein kann, ehe ich dich kannte! Du hast es gewußt, daß es so kommen werde! Du hättest mir sonst vorher das Versprechen nicht abgenommen, dir keine Abschiedsszene zu machen. Und was hätte ich dir denn nicht versprochen, wenn du es verlangt[416] hättest! – Mein Versprechen bringt mich um. Du hast mich um mein Leben betrogen, wenn du mich zurückläßt!

GERARDO. Ich kann dich nicht mitnehmen!

HELENE. O Gott, das wußte ich im voraus, daß du das sagen wirst. Das wußte ich ja, als ich hierherkam. Das ist so selbstverständlich! Das sagst du jeder. Und was bin ich Besseres! Ich bin eine von Hunderten. Ich bin ein Weib, wie es Millionen gibt. Das weiß ich ja alles. – Aber ich bin krank, Oskar! Ich bin krank auf den Tod! Ich bin liebeskrank! Ich bin dem Tode näher als dem Leben! Das ist dein Werk, und du kannst mich retten, ohne ein Opfer zu bringen, ohne dir etwas aufzubürden. Warum kannst du es nicht!

GERARDO jedes Wort betonend. Weil mein Kontrakt mich verpflichtet, mich weder zu verheiraten, noch in Begleitung von Damen zu reisen.

HELENE perplex. Wer kann dir das verbieten!

GERARDO. Mein Kontrakt.

HELENE. Du darfst ...?

GERARDO. Ich darf mich nicht verheiraten, bevor seine Gültigkeit abgelaufen ist.

HELENE. Und darfst ...?

GERARDO. Und darf nicht in Begleitung von Damen reisen.

HELENE. Das ist mir unverständlich. – Wen auf der Welt kann das kümmern?

GERARDO. Meinen Unternehmer.

HELENE. Deinen Unternehmer? – Was kommt denn für den dabei in Frage?

GERARDO. Sein Geschäft.

HELENE. Weil es vielleicht – deine Stimme – beeinflussen könnte?

GERARDO. Ja.

HELENE. Das ist doch kindisch! – Beeinflußt es denn deine Stimme?

GERARDO. Nein.

HELENE. Glaubt denn dein Unternehmer an diesen Unsinn?

GERARDO. Nein, er glaubt nicht daran.

HELENE. Das ist mir unverständlich. – Ich begreife nicht, wie ein – – anständiger Mensch einen solchen Kontrakt unterschreiben kann!

GERARDO. Ich bin in erster Linie Künstler und dann bin ich Mensch![417]

HELENE. Ja, das bist du. Ein großer Künstler! Ein eminenter Künstler! Begreifst du denn nicht, wie ich dich lieben muß! Ist denn das das einzige, was du kluger Mensch nicht begreifen kannst! – Alles, was mich jetzt dir gegenüber verachtenswert erscheinen läßt, entspringt doch nur der Tatsache, daß ich in dir den einzigen mir überlegenen Menschen sehe, den ich bis jetzt gefunden, und dem zu gefallen mein einziges Trachten war. Ich habe die Zähne zusammengebissen, um dich nicht merken zu lassen, was du für mich bist, aus Angst, dir langweilig zu werden. Aber der gestrige Tag hat mich in einen Seelenzustand versetzt, den kein Weib erträgt. Wenn ich dich nicht so wahnsinnig liebte, Oskar, du würdest mehr von mir halten. Das ist das Furchtbare an dir, daß du das Weib, das eine Welt in dir schätzt, verachten mußt! Ich bin mir nichts mehr, nichts als ein leeres Nichts. Und jetzt, nachdem deine Leidenschaft mich ausgeglüht hat, willst du mich hierlassen! Du nimmst mein Leben mit, Oskar! Nimm dies Fleisch und Blut, das dir gehört hat, auch noch mit, wenn es nicht umkommen soll!

GERARDO. Helene ...!

HELENE. Kontrakte! Was sind dir Kontrakte! Gibt es denn einen Kontrakt, der sich nicht umgehen läßt! Wozu macht man denn Kontrakte! Gebrauch deinen Kontrakt nicht als Waffe, um mich zu morden! Ich glaube an keine Kontrakte! Laß mich mit dir gehen, Oskar! Du wirst sehen, ob er ein Wort von Kontraktbruch sagt. Er wird es nicht tun, ich kenne die Menschen. Und sagt er etwas, dann ist es immer noch Zeit für mich zu sterben.

GERARDO. Wir haben aber kein Recht aufeinander, Helene! – Es steht dir so wenig frei, mir zu folgen, wie es mir freisteht, eine derartige Verantwortlichkeit auf mich zu nehmen. – Ich gehöre nicht mir selber; ich gehöre meiner Kunst ...

HELENE. Laß mich mit deiner Kunst in Ruhe! Was kümmert mich deine Kunst! – Ich habe mich an deine Kunst geklammert, um von dir beachtet zu werden. Hat der Himmel einen Menschen wie du geschaffen, damit er sich allabendlich zum Hanswurst macht! Schämst du[418] dich nicht, damit noch zu prahlen! Du siehst, daß ich mich darüber hinwegsetze, daß du Künstler bist. Worüber sieht man bei einem Halbgott, wie du es bist, nicht hinweg! Und wenn du ein Sträfling wärest, Oskar, ich könnte nicht anders fühlen! Ich habe ja keine Gewalt mehr über mich! Ich läge vor dir hier im Staube, wie ich hier liege! Ich würde deine Barmherzigkeit erflehen, wie ich es jetzt tue! Ich wäre an dich verloren, wie ich an dich verloren bin! Ich hätte den Tod vor Augen, wie ich ihn vor Augen habe!

GERARDO lachend. Du, Helene, den Tod vor Augen! – Frauen, die so reich wie du für den Genuß des Lebens begabt sind, bringen sich nicht um. Du kennst den Wert des Daseins besser als ich. Du bist glücklich genug organisiert, um das Leben nicht wegzuwerfen. Das tun andere – Halbmenschen, Zwerggeschöpfe – die die Natur wie Stiefkinder bedacht hat.

HELENE. Oskar – ich habe ja nicht gesagt, daß ich mich erschießen werde! Wann habe ich das gesagt? Wo sollte ich denn den Mut dazu hernehmen! Ich sage, ich werde sterben, wenn du mich nicht mitnimmst, sterben, wie man an jeder Krankheit stirbt, weil ich nur lebe, wenn ich bei dir bin! Ich kann ohne alles leben – ohne Heim, ohne Kinder, aber nicht ohne dich, Oskar! Ich kann nicht ohne dich leben!

GERARDO beklommen. Helene – – wenn du dich jetzt nicht beruhigen kannst! – Du setzt mich einer furchtbaren Notwendigkeit aus! Ich habe noch zehn Minuten. Ich kann die Szene, die du mir hier machst, nicht als eine Force majeure ins Feld führen! Ich kann mich mit deiner Aufregung vor keinem Richter rechtfertigen. – Ich kann dir noch zehn Minuten widmen! Wenn du dich derweil nicht beruhigst, Helene – – ich kann dich in dem Zustand nicht dir selber überlassen!

HELENE. Soll mich die ganze Welt hier liegen sehen!!

GERARDO. Bedenke, was du damit aufs Spiel setzt!

HELENE. Als hätte ich noch etwas aufs Spiel zu setzen!!

GERARDO. Du kannst deine gesellschaftliche Stellung dabei verlieren!

HELENE. Dich kann ich verlieren!![419]

GERARDO. Und deine Angehörigen?

HELENE. Ich kann keinem andern mehr angehören als dir!

GERARDO. Ich gehöre dir aber nicht!

HELENE. Ich habe nichts mehr zu verlieren als mein Leben!

GERARDO. Und deine Kinder?!

HELENE emporfahrend. Wer hat mich ihnen geraubt, Oskar! Wer hat mich meinen Kindern geraubt!

GERARDO. Habe ich mich dir angetragen?!

HELENE in höchster Leidenschaftlichkeit. Nein, nein! Glaub das nicht! Ich habe mich dir an den Hals geworfen und würde mich dir heute wieder an den Hals werfen! Kein Mann, keine Kinder hielten mich zurück! Wenn ich sterbe, dann habe ich gelebt, Oskar! Durch dich gelebt! Das danke ich dir, daß ich mich erkannt habe! Das danke ich dir, Oskar!

GERARDO. – Helene – höre mich ruhig an ...

HELENE. Ja, ja – noch zehn Minuten ...

GERARDO. Höre mich ruhig an ...


Beide auf dem Diwan.


HELENE ihn anstarrend. Das danke ich dir ...

GERARDO. Helene – –

HELENE. Ich will ja gar nicht von dir geliebt sein! Nur dieselbe Luft mit dir atmen ...!

GERARDO nach Fassung ringend. Helene – – auf einen Mann wie mich lassen sich keine bürgerlichen Begriffe anwenden. Ich habe in allen Ländern Europas Frauen aus der Gesellschaft gekannt. Man hat mir Abschiedsszenen gemacht – aber man wußte schließlich, was man seiner Stellung schuldet. Einem Gefühlsausbruch wie bei dir stehe ich heute zum erstenmal in meinem Leben gegenüber. – Helene – – an mich tritt täglich die Versuchung heran, mich mit dieser oder jener Frau in ein idyllisches Arkadien zurückzuziehen. Aber der Mensch hat seine Pflichten; du hast deine Pflichten geradesogut wie ich meine Pflichten habe; und die Pflicht ist das höchste Gebot ...

HELENE. Das muß ich jetzt wohl besser wissen, Oskar, was das höchste Gebot ist!

GERARDO. Was denn? – Vielleicht gar deine Liebe zu mir?? – Das sagt jede! – Was eine Frau durchsetzen will, nennt sie gut, und wer sich ihr nicht fügt, ist ein schlechter[420] Mensch. Das kommt von den Komödienschreibern. Um volle Häuser zu haben, stellen sie die Welt auf den Kopf und nennen es großherzig, wenn eine Frau Kinder und Familie ins Verderben stürzt, um ihrem Sinnengenuß nachzulaufen. Ich lebe auch gern wie die Turteltauben. Aber seit ich auf der Welt bin, habe ich erst meiner Pflicht gehorcht. Wenn sich dann Gelegenheit bot, habe ich allerdings in vollen Zügen genossen. Aber wer seiner Pflicht nicht nachkommt, ist nicht berechtigt, auch nur die geringsten Anforderungen an andere Menschen zu stellen.

HELENE abgewandt traumhaft. Das gibt keinem Toten das Leben wieder ...

GERARDO nervös. Helene, ich will dir ja dein Leben zurückgeben! Ich will dir ja wiedergeben, was du mir geopfert hast! Nimm es doch nur um Gottes willen! Zum Teufel nochmal, soviel ist es doch nicht! – Helene, wie kann sich eine Frau so schmachvoll erniedrigen! Wo ist dein Selbstgefühl! – Mit welcher Verachtung hättest du mich in meine Schranken zurückgewiesen, wenn ich mich in dich verliebt hätte, wenn ich hätte eifersüchtig sein wollen! Was bin ich in den Augen deiner Gesellschaft! Ein Mensch, der sich allabendlich zum Hanswurst macht! – Helene, willst du dich für einen Mann hinschlachten, den hundert Frauen vor dir geliebt haben, den hundert Frauen nach dir lieben werden, ohne sich eine Sekunde in ihrer Behaglichkeit stören zu lassen! Soll dich dein warm vergossenes Blut vor Gott und der Welt lächerlich machen?

HELENE abgewandt. Ich weiß sehr wohl, daß ich Ungeheures von dir verlange, aber – – was soll ich anderes tun ...

GERARDO beruhigend. Ich habe dir gegeben, Helene, was ich zu geben habe. Mehr als ich dir war, kann ich keiner Prinzessin sein. Ich könnte dich höchstens noch todunglücklich machen. – Gib mich jetzt frei! – – Ich verstehe ja, wie schwer es dich ankommt, aber – man fürchtet oft, sterben zu müssen. Ich zittre auch oft für mein Leben – reizbar, wie man als Künstler durch seinen Beruf wird! – Man glaubt gar nicht, wie rasch man darüber wegkommt. – – Finde dich doch damit ab, Helene, daß[421] unser Leben Zufall ist. – Wir haben uns ja nicht gesucht, weil wir uns liebten; wir haben uns geliebt, weil wir uns fanden! Wir haben einander nicht einmal nach dem Vornamen gefragt. – – – Die Achseln zuckend. Ich soll die Folgen meiner Handlungen tragen, Helene? – Wolltest du es mir im Ernste verdenken, daß ich dich nicht abweisen ließ, als du unter dem Vorwand hierherkamst, deine Stimme von mir prüfen zu lassen? – Dafür schätzest du deine Vorzüge doch wohl zu hoch; dazu kennst du dich zu gut; dazu bist du zu stolz auf deine Schönheit. – Warst du dir denn deines Sieges nicht vollkommen gewiß, als du hereinkamst?

HELENE abgewandt. Was war ich vor acht Tagen! Und was – was bin ich jetzt!

GERARDO sehr sachlich. Helene, leg dir selber die Frage vor: Welche Wahl bleibt einem Manne in einem solchen Falle. Du giltst allgemein als die schönste Frau der Stadt. Soll ich mir nun als Künstler den Ruf eines Bärenhäuters zuziehen, der sich in seinen vier Wänden vor jedem Damenbesuch abschließt? – Die zweite Eventualität ist die, daß ich dich empfange und mich so stelle, als verstände ich nicht, was du von mir willst. Dadurch bringe ich mich, ohne es im geringsten zu verdienen, in den Ruf eines Dummkopfes. – Dritte Eventualität: – Aber das ist äußerst gefährlich! – ich erkläre dir gleich bei deinem ersten Besuch in ruhiger, höflicher Weise dasselbe, was ich dir jetzt sage. Das ist aber sehr gefährlich! Denn ganz davon abgesehen, daß du mir sofort in beleidigendem Ton entgegnest, ich sei ein eitler, eingebildeter Tropf, kann es mich, wenn es bekannt wird, in ganz kuriosem Lichte erscheinen lassen. – Und was ist die Folge im besten Fall, wenn ich die mir dargebotene Ehre zurückweise? – Daß ich in deinen Händen zum verächtlichen, ohnmächtigen Spielball werde, zur Zielscheibe deines weiblichen Witzes, zum Popanz, den du, solange es dir gefällt, ungestraft necken, verhöhnen, bis zum Wahnsinn reizen und auf die Folter spannen wirst. – – Sag mir selber, Helene: – Was blieb mir zu tun übrig?[422]

HELENE starrt ihn an, wendet hilfeflehend die Augen umher, schaudert und ringt nach Worten.

GERARDO. Ich habe in solchem Falle nur eine Wahl: – mir eine Feindin zu schaffen – die mich verachtet, oder – mir eine Feindin zu schaffen, die – – – wenigstens Respekt vor mir hat. – Und Ihr das Haar streichelnd. Helene! – von einer so allgemein anerkannt schönen Frau, wie du es bist, läßt man sich nicht verachten. – – – – Kann sich dein Stolz auch jetzt noch zu der Bitte verstehen, ich möge dich mitnehmen?

HELENE Ströme von Tränen vergießend. O Gott, o Gott, o Gott, o Gott, o Gott ...

GERARDO. Deine gesellschaftliche Stellung gab dir die Möglichkeit, mich zu provozieren. Du hast davon Gebrauch gemacht. – Ich kann dir das natürlich am wenigsten verdenken. – – Aber verdenke es mir nicht, wenn ich meine Rechte gewahrt wissen möchte. – – – Kein Mann kann aufrichtiger gegen eine Frau sein, als ich gegen dich war: – Ich habe dir gesagt, daß von Gefühlen zwischen uns nicht die Rede sein kann. Ich habe dir gesagt, daß mein Beruf mich hindert, mich zu binden. Ich habe dir gesagt, daß mein – Gastspiel heute zu Ende ist ...

HELENE sich erhebend. Mir dröhnt der Kopf! Ich höre Worte, Worte, Worte, Worte! – Aber Sich an Herz und Kehle fassend. mich würgt es hier und mich würgt es hier! Oskar – es steht schlimmer, als du denkst! Ein Weib wie ich mehr oder weniger – ich habe meine Pflicht getan, ich habe zwei Kindern das Leben geschenkt. Was würdest du sagen ... was würdest du sagen, Oskar, wenn ich morgen hingehe und einen – und einen andern ebenso glücklich sein lasse, wie du es bei mir warst! Was würdest du dazu sagen, Oskar! – – Sprich!! – – Sprich ...

GERARDO. Nichts. – – – Nach der Uhr sehend. Helene ...

HELENE. Oskar!! – Auf den Knien. Leben erflehe ich von dir! Leben! Das letztemal, daß ich dich darum bitte! Verlang, was du willst! Nur das nicht! Nur nicht sterben! Du weißt nicht, was du tust! Du bist von Sinnen![423] Du bist deiner nicht mächtig! Das letztemal! Du verabscheust mich, weil ich dich liebe! Laß die Zeit nicht vergehen! – Rette mich! Rette mich!

GERARDO zieht sie mit Gewalt empor. Hör auf ein liebes Wort! – Hör auf ein – ein liebes Wort ...

HELENE für sich. Sei's denn!

GERARDO. Helene – wie alt sind deine Kinder?

HELENE. Das eine sechs und das andere vier Jahre alt.

GERARDO. Beides Mädchen?

HELENE. Nein.

GERARDO. Das vierjährige ein Knabe?

HELENE. Ja.

GERARDO. Das sechsjährige ein Mädchen?

HELENE. Nein.

GERARDO. Beides Knaben??

HELENE. Ja.

GERARDO. Hast du denn kein Mitleid mit ihnen?

HELENE. Nein.

GERARDO. Wie glücklich wäre ich, wenn sie mir gehörten! – Helene – willst du sie mir überlassen?

HELENE. Ja.

GERARDO halb scherzhaft. Wenn ich nun ebenso anspruchsvoll wäre wie du – mir in den Kopf setzte: Ich liebe die und die bestimmte Frau und kann keine andere lieben! – Heiraten kann ich sie nicht. Mitnehmen kann ich sie nicht. Reisen muß ich. – Was wollte ich denn dann mit mir anfangen?

HELENE von jetzt an immer ruhiger. Ja, ja. – Gewiß. – Ich verstehe dich.

GERARDO. Sei überzeugt, Helene, es gibt noch eine Unmenge Männer wie ich auf dieser Welt. Ich bin gar kein solches Prachtexemplar von Mann!! Laß dir unsere Begegnung eine Weisung sein. Du sagst, du kannst ohne mich nicht leben. Wie viele Männer kennst du denn? Je mehr du kennenlernst, um so tiefer sinken sie im Wert. Dann nimmst du dir keines Mannes wegen mehr das Leben. Du schätzest sie nicht höher, als ich die Frauen.

HELENE. Du hältst mich für deinesgleichen. Das bin ich nicht.[424]

GERARDO. Ich spreche in vollem Ernst, Helene. Keiner von uns liebt diesen oder jenen bestimmten Menschen außer den Dummköpfen, die nur einen kennen. Jeder liebt seine Art, die er überall wiederfindet, sobald er einmal Bescheid weiß.

HELENE. Und wenn man seine Art antrifft, dann ist man auch immer sicher, wiedergeliebt zu werden?

GERARDO. Du hast kein Recht, Helene, dich über deinen Gatten zu beklagen! Warum kanntest du dich nicht besser! Jedes junge Mädchen hat seine freie Wahl. Keine Macht der Erde kann ein Mädchen zwingen, einem Manne zu gehören, der ihr nicht gefällt. Es gibt keine Vergewaltigung an Frauen. Das ist ein Unsinn, den nur diejenigen Frauen der Welt einreden wollen, die sich für den oder jenen materiellen Gewinn verkauft haben und sich nachher gern ihren Verpflichtungen entziehen möchten.

HELENE lächelnd. Sie werden kontraktbrüchig?

GERARDO sich in die Brust werfend. Wenn ich mich verkaufe, dann hat man es wenigstens mit einem ehrlichen Menschen zu tun!

HELENE lächelnd. Wer liebt, der ist nicht ehrlich?

GERARDO. Nein! – Die Liebe ist eine verdammt bürgerliche Tugend! Geliebt sein will der Bauer, der sein Weib mit dem Ochsen zusammen vor den Pflug spannt. Die Liebe ist eine Zufluchtsstätte für Ofenhocker und Feiglinge! – In der großen Welt, in der ich lebe, hat jeder Mensch seinen anerkannten reellen Wert. Wenn sich zwei zusammentun, dann wissen sie ganz genau, wieviel sie voneinander zu halten haben. Brauchen keine Liebe dazu!

HELENE noch einmal sanft bittend. Willst du mich in deine große Welt denn nicht einführen?

GERARDO. Helene – willst du dein ganzes Lebensglück und das Glück der Deinigen für einen flüchtigen Genuß hingeben?!

HELENE. Nein.

GERARDO. Versprichst du mir, daß du jetzt ruhig zu den Deinen zurückkehren willst?

HELENE. Ja.[425]

GERARDO. Daß du nicht sterben wirst – auch nicht, wie man an einer Krankheit stirbt?

HELENE. Ja.

GERARDO. Versprichst du mir das?

HELENE. Ja.

GERARDO. Daß du deinen Pflichten als Mutter und als – Gattin genügen wirst?

HELENE. Ja.

GERARDO. Helene!

HELENE. Ja. – Was willst du mehr! – Ich verspreche es dir.

GERARDO. Daß ich ruhig reisen kann?

HELENE sich erhebend. Ja.

GERARDO. Noch einen Kuß?

HELENE. Ja – ja – ja – ja – ja.

GERARDO nachdem er sie weitläufig abgeküßt. Übers Jahr, Helene, singe ich hier wieder.

HELENE. Übers Jahr! – Wie ich mich darauf freue!

GERARDO gefühlvoll. Helene!

HELENE drückt ihm die Hand, nimmt ihren Muff vom Sessel, zieht einen Revolver heraus, knallt ihn sich vor den Kopf und bricht zusammen.

GERARDO. Helene! Wankt nach vorn, wankt nach rückwärts und sinkt in einen Sessel. Helene! –


Pause.


Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Berlin und Weimar 1969, S. 415-426.
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